Der Mann mit dem Hund: Drei Wölfe – Kapitel 5 – Die Büchse der Pandora

      Der Januar war fast vorüber und die Handwerker hatten inzwischen endlich die meisten Dinge in meinem Haus in Ordnung gebracht. Die Videosprechanlage und das elektrische Tor meiner Auffahrt funktionierten 6 Monate nach meinem Einzug nun zufriedenstellend. Durch das stetige Kommen und Gehen der Handwerker war ich tagelang nicht zum Arbeiten gekommen. Wenn ich nicht durch Handwerker in Beschlag genommen wurde, hatte ich diverse Termine und war oft mehrere Tage unterwegs. So war weder für mein Buch, noch für Maria Zeit übriggeblieben. Am Anfang unserer Beziehung stellte es für sie kein Problem dar, dass wir uns nur ein oder zweimal in der Woche sahen. Im Laufe der Zeit, besonders aber nach Weihnachten, hatte sich dies grundlegend geändert. Plötzlich wollte sie, dass wir fast jeden Abend, unbedingt aber die Wochenenden gemeinsam verbrachten. Als ich im Spätsommer die Beziehung mit Maria begonnen hatte, war ich mir sicher, dass ein zweiundzwanzig jähriges Mädchen überwiegend mit ihrem Leben, das bedeutet Shoppen, Freunde treffen, Partys und nicht zuletzt ihrem Studium beschäftigt sein würde. Mittlerweile aber gab sie den Klammeraffen. Sie schrieb mir Guten Morgen E-Mails, Gute Nacht E-Mails und schickte zu allen möglichen Zeiten unzählige SMS, die mich über ihr Befinden aufklären sollten oder sich nach dem meinigen erkundigten. Bestimmt mag es Menschen geben, denen so etwas wichtig ist, die es als Zeichen für eine intakte Beziehung betrachten. Nur es fing an mir gründlich auf die Nerven zugehen und es wurde mir langsam aber sicher zu viel Nähe. Dazu kam noch, dass Maria und Geraldine an meinem Geburtstag heftig aneinander geraten waren und seitdem ein latenter Zickenkrieg tobte, den ich in meinem nächsten Umfeld keinesfalls dulden wollte. Normalerweise hätte ich mich mit Maria darüber unterhalten sollen. Da ich die Beziehung aber von Anfang nicht sonderlich ernst genommen hatte, erschien es mir auch nicht notwendig, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Was Geraldine betraf, die mir in vielerlei Hinsicht wichtiger war, war ich mir sicher, dass sobald Maria aus meinem Leben verschwunden sein würde, wir wieder zu unserem alten freundschaftlichen Verhältnis zurückfinden würden.

   Es stellte sich mir die Frage, wie beendet man am besten eine Beziehung mit einem Mitglied der Generation Multi-Kommunikation? Früher, als ich jung war machte man das direkt, von Angesicht zu Angesicht. Die etwas weniger Mutigen per Telefon. Heute, so hatte ich gelernt setzt man in Facebook seinen Beziehungsstatus einfach von „In einer Beziehung“, soweit man ihn überhaupt vorher gesetzt hatte, zurück auf „Single“. Bislang hatte sich Maria um meinen Account gekümmert, daher kannte ich weder meinen Benutzernamen, noch mein Passwort. Maria hatte sie mir zwar aufgeschrieben, der Zettel war aber im allgemeinen Chaos, das in meinem Arbeitszimmer herrschte untergegangen. Zudem erschien es mir äußerst unhöflich und respektlos, das Ende einer Beziehung auf diese Weise zur res publica zu machen. Blieben noch E-Mail und SMS. Von beiden war ich ebenfalls kein großer Freund. Ich empfand jede der Alternativen als sehr unpersönlich, aber in der heutigen Zeit offensichtlich gesellschaftlich allgemein akzeptiert und somit vertretbar. Ich setzte mich auf meine Couch, nahm meinen Laptop und begann eine E-Mail an Maria zu schreiben. Ich wollte die E-Mail so einfach und knapp, wie nur möglich halten. Ohne ausführliche Angabe von Gründen, nur dass es einfach nicht passte. Während ich tippte, fing ich an mich zu fragen, wie ich darauf reagieren würde, wenn ich vom Ende meiner Beziehung aus einer E-Mail erfahren müsste. Obwohl mir Maria nicht derart wichtig war, ich nicht einmal richtig in sie verliebt war, erschien mir eine E-Mail als Medium plötzlich unangebracht. Unter bestimmten Umständen, zum Beispiel, wenn sich beide von Anfang an bewusst waren, es handelte sich mehr oder weniger um eine Affäre, konnte eine E-Mail möglicherweise gerade noch angemessen sein. Was aber, wenn Maria mehr in unserer Beziehung sah und dafür sprach seit Weihnachten einiges. Ich wollte jedenfalls nicht, dass eine Frau ihre Beziehung mit mir per E-Mail oder SMS beendete. Das war für mich nicht nur eine Frage des Anstandes, sondern auch eine Frage des Respekt und der Achtung vor dem anderen. Viele Menschen, die glauben mich zu kennen, wären jetzt sicher überrascht, aber es gab für mich durchaus gewisse Regeln und Werte, deren Einhaltung mir wichtig war, auch wenn es nach außen nicht immer den Anschein hatte. Ich entschied mich daher für den altmodischen Weg. Von Angesicht zu Angesicht, bei einem Essen auf neutralem Boden. Man kann durchaus sagen, dass ich mich mit Trennungen gut auskannte, ungeachtet dessen war es trotzdem jedes Mal ein seltsames Gefühl. Ich schrieb Maria eine SMS mit dem Inhalt, dass ich sie heute gerne zum Mittagessen einladen wolle. Einer längeren Kommunikation per SMS aus dem Weg gehend, schickte ich ihr Uhrzeit und Adresse gleich mit. Wir trafen uns, wie verabredet um 13 Uhr in einem kleinen italienischen Restaurant in der City. Da wir uns in letzter Zeit kaum gesehen hatten, musste Maria das Bedürfnis verspürt haben, mir alles zu erzählen, was sie die letzten Tage und Wochen erlebt hatte. Sie redete wie ein Wasserfall, während ich meist nur zustimmend nickte. Nach über einer Stunde war Maria am Ende angelangt und ich hatte endlich die Gelegenheit, ihr mitzuteilen, warum wir uns heute trafen. Da ich Maria nicht verletzen wollte, vermied ich ihr zu sagen, dass mir ihre Anhänglichkeit der letzten Wochen einfach zu viel geworden war. Stattdessen wählte ich, den, wie ich glaubte, für sie besten Weg, in dem ich ihr sagte, dass ich durch die Arbeit an meinem neuen Buch kaum noch Zeit für sie haben werde, ich ihr das nicht zumute möchte und deshalb eine Trennung die beste Lösung sei. Wirklich überrascht schien Maria nicht gewesen zu sein. Dafür war das, was sie darauf erwiderte umso überraschender für mich.

„Ich vermute das hat weniger mit deinem Buch zu tun, als mit dieser Geraldine. Ich habe schon lange den Verdacht, dass zwischen euch etwas vor sich geht. Nicht dass du mich falsch verstehst, ich glaube nicht, dass du mich mit ihr betrügst. Aber irgendetwas ist da. Etwas, gegen das ich keine Chance habe. Gegen das keine andere Frau bei dir eine Chance hat.“

Ich versuchte Maria davon zu überzeugen, dass sie sich, mein Verhältnis zu Geraldine betreffend, irrte. Aber Maria ließ sich nicht umstimmen und beharrte unnachgiebig auf ihrer Meinung. Sie legte mir sogar nahe, dass ich mich, bevor ich mich in die nächste unüberlegte Liaison stürzte, ich mir unbedingt über mein Verhältnis zu Geraldine klar werden müsse und es gegebenenfalls in Ordnung bringen sollte. Ohne diesen Punkt weiter vertieft zu haben verließen wir das Restaurant und verabschiedeten uns voneinander, mit dem üblichen Versprechen, das kaum jemand einhält, in Kontakt zu bleiben. Maria war jetzt Vergangenheit. Eine, mit fast einem halben Jahr für meine Verhältnisse schon recht lange Beziehung. Nun hatte ich sie wieder. Meine uneingeschränkte Freiheit und meine Ruhe. Vielleicht hatte ich mich in den letzten Jahren zu sehr daran gewöhnt, Herr meiner eigenen Entscheidungen zu sein, niemanden Rechenschaft schuldig zu sein, als dass ich die drohende Enge einer Beziehung, wie Maria sie angestrebt hatte, weiter in meinem Leben haben wollte. Anders als der Mann in meinem Buch, war ich auch nicht bereit nur einen unnützen Gedanken daran zu verschwenden, wie mein Handeln auf meine Partnerin wirkt oder meine Lebensweise zu ändern. So sehr seine Geschichte mich auch faszinierte, so wenig wollte ich mit ihm tauschen, mir seine Gedanken machen müssen. Das Treffen mit Maria hatte mich in die Innenstadt geführt, die ich sonst eher mied. Daher beschloss ich, die Gelegenheit zu nutzen und einige kleine Antiquariate aufzusuchen. Ich war stets auf der Suche nach seltenen alten Büchern oder besonderen Auflagen. Im dritten Antiquariat, das ich besuchte, stieß ich, mehr per Zufall, auf ein Buch das mein Interesse weckte. Beim Zurückstellen eines anderen Buches war es zu Boden gefallen. Ich hob das kleine dünne Buch auf und blätterte ein wenig darin. Es war eine Art Fabel mit dem Titel „Die Reise des Wolfes“. Die Geschichte handelte von der Suche eines Wolfes nach einem Hund und weckte mein Interesse. Kurzentschlossen kaufte ich das kleine Buch und machte mich anschließend auf den Heimweg.

   Zuhause angekommen dachte an die Worte, die Maria heute Mittag an mich gerichtet hatte. Sicher, die Beziehung, oder besser das Verhältnis, zwischen mir und Geraldine war ungewöhnlich und für eine Außenstehende weder zu durchschauen, noch zu begreifen. Aber wir waren seit fast 2 Jahren einfach nur sehr gute Freunde und ich war überzeugt davon, ließ man ihren sentimentalen Fauxpas an Weihnachten einmal außer Acht, dass Geraldine genauso dachte. Darüber, dass Maria Geraldine als Konkurrenz aufgefasst hat, konnte ich nach wie vor nur den Kopf schütteln. Sie kannte Geraldine überhaupt nicht und durfte sich kein Urteil über sie erlauben. Natürlich war Geraldines Art jeden, der ihr einigermaßen nahestand, mit Liebling anzusprechen objektiv betrachtet außerordentlich gewöhnungsbedürftig. Auch ihr Verhalten, dass häufig keinen Unterschied zwischen einem Partner und einem Freund erkennen ließ, wurde von vielen missverstanden und deshalb häufig fehlinterpretiert. Dementsprechend wurde Geraldine gerne in eine bestimmte Schublade gesteckt, in welche sie definitiv nicht passte. Aber wer kannte Geraldine schon wirklich? Vielleicht tat das in Wahrheit niemand, nicht einmal ich. Ich ging in die Küche, holte mir ein Glas Merlot und setzte mich mit dem Buch in einen Sessel vor meinen Kamin und fing an zu lesen.

 Kapitel I

 Der Bär und der Wolf

An einem sonnigen Herbsttag trafen sich nach langer Zeit der Bär und der Wolf wieder. Viele Jahre lebten sie freundschaftlich und respektvoll nebeneinander in ihren angrenzenden Revieren. Ich habe erfahren, sprach der Bär, Du beherbergst diesen Hund, den ich einst aus meinem verwies, in deinem Revier. Höre meine Worte Wolf, diesem Hund ist nicht zu trauen. Stets ist er nur auf seinen Vorteil bedacht. Findet er einen besseren Partner, verrät er Dich ohne zu zögern. Er wird Dich ausnutzen und Dich fallen lassen. Oh Bär, entgegnete der Wolf, Du hast uns Wölfe nie verstanden, wie willst Du dann diesen Hund verstehen? All die Jahre der Freundschaft zwischen euch und nun solche Worte? Vertreibe ihn aus deinem Revier, zu unser aller Wohl, sagte Bär. Dieser Hund bringt nichts Gutes in unsere Welt! Der Wolf hielt kurz inne und schüttelte sein Haupt. Das sagt der Bär, der seit Jahren hinter meinem Rücken mit dem Fuchs paktiert? Ein Pakt, der Dir nie geschadet hat, lieber Wolf. Doch das hier ist etwas Anderes. Du musst Dich entscheiden. Duldest du Wolf diesen Hund weiterhin in deinem Revier, so wird dieser Bach fortan für alle Zukunft die Grenze zwischen uns sein. Die Freunde meiner Feinde werde ich behandeln, wie meine Feinde selbst. Ohne zu zögern sagte der Wolf: Dann sei es so! ging und richtete keinen weiteren Blick an den Bären.

Gleichwohl wissend, dass er mit dem Bären seinen ältesten und besten Freund verloren hatte, lief der Wolf zu der Lichtung zurück, auf der der Hund ihn erwartete. Wo bist Du gewesen fragte der Hund den Wolf. Ich bin durch den Wald gestreunt, nichts Besonderes, antwortete der Wolf. Der Wolf war froh, den Hund wieder zu sehen, aber tief in ihm saßen von nun an die Worte des Bären für die der Wolf keine Erklärung fand. Woche um Woche lebten der Wolf und der Hund glücklich in ihrem Teil des Waldes zusammen. Hin und wieder ging der Wolf auf eine ausgedehnte Runde durch den Wald, bei denen er den Hund nicht mitnahm. Nicht jeder Teil dieses Waldes ist ungefährlich und es gibt viele Tiere, denen der Hund nicht begegnen muss. Eines Tages, auf einem seiner Streifzüge durch den Wald verletzte sich der Wolf schwer. Viele Wochen konnte er nicht zu der sicheren Lichtung zurückkehren, auf der er den Hund zurückgelassen hatte. Im Laufe der Zeit erholte sich der Wolf langsam und als er wieder einigermaßen laufen konnte, machte er sich auf den Weg zurück zu der Lichtung. Dort angekommen, stellte er fest, dass der Hund weg war. Voller Trauer heulte der Wolf die ganze Nacht, in der Hoffnung, der Hund könne ihn hören. Doch der Hund, der gedacht der Wolf hatte ihn verraten und verlassen, war schon sehr weit weg.

Am nächsten Morgen beschloss der Wolf sich auf die Suche nach dem Hund zu machen. Er war noch schwach durch seine erlittene Verletzung, das Laufen fiel ihm schwer und er wusste nicht, in welcher Richtung er mit seiner Suche beginnen sollte. Auch kannte er nur diesen Wald, nicht die angrenzenden Wälder und Freunde, die ihm helfen würden hatte er nicht, aber er wollte den Hund unbedingt wiederfinden. Es war der Beginn einer langen Reise.

Kapitel II

Der König der Frösche

Der Wolf war schon viele Monde unterwegs. Er hatte den Stürmen und dem eisigen Frost des Winters auf seiner Suche nach dem Hund getrotzt, als er im Lenzing einen Fluss erreichte. Geschwächt von seiner Verletzung und den Strapazen seiner Suche, ruhte er sich am Ufer des Flusses aus. Als er fast eingeschlafen war, bemerkte er aus dem Augenwinkel plötzlich einen Frosch auf ihn zukommen. Der Wolf richtete sich auf, doch bevor er etwas sagen konnte, begrüßte ihn der Frosch. Du musst der Wolf sein, der diesen Hund sucht. Alle Tiere in den Wäldern erzählen davon. Erstaunt blickte der Wolf den Frosch an. Wer bist Du, dass Du dich nicht vor mir fürchtest? fragte der Wolf. Ich bin der König der Frösche, entgegnete der Frosch. Hässlich und klein an Gestalt, aber groß an Wissen. Ich kann dir helfen, diesen Hund zu finden. Wie sollte ein Frosch mir helfen können den Hund zu finden, ging dem Wolf durch den Kopf. Aber jetzt, wo er schon einmal da war, konnte er dem Frosch auch anhören. Was weißt Du über den Hund, wollte der Wolf von dem Frosch wissen. Nicht viel, nur dass er diesen Wald längst verlassen hat. Das ist mir keine große Hilfe, du König der Frösche! Du musst die fünf Büsche roter Rosen finden. Zu jedem Busch gehört ein gehört ein rot weißer geometrischer Körper, versehen mit blauer Schrift. Zu vier der Büsche kann ich Dir den Weg beschreiben, doch erst wenn Du den fünften Busch und den dazugehörigen geometrischen Körper gefunden hast, wirst Du den Weg erkennen, den der Hund aus dem Wald genommen hat. Aber nimm dich in Acht Wolf. Du bist nicht der einzige der diesen Busch sucht. Eine Hyäne sucht ebenfalls nach diesem Busch. Du wirst sie leicht erkennen, wenn sie Dir begegnet. Sie trägt ein Zeichen, gut sichtbar auf ihrem Fell.

Kapitel III

Die Eule

Zwei weitere Monde waren vergangen, seit der Begegnung mit dem König der Frösche. Die vier Rosenbüsche mit ihren geometrischen Körpern hatte der Wolf mittlerweile gefunden und er hatte ihre Bedeutung begriffen. In ihm aber war auch der Zweifel gewachsen, diesen fünften Busch jemals zu finden. Er hatte die Wälder systematisch abgesucht, hatte aber keinen Hinweis auf diesen fünften Rosenbusch finden können.

Langsam wurde es wieder Nacht und der Wolf beendete seine Suche für diesen Tag. Gerade als er in den Himmel blicken wollte, entdeckte er eine Eule hoch oben auf einer Eiche. Bist Du der Wolf, der diesen Hund sucht, fragte die Eule. Ja, der bin ich. Warum interessiert Dich das? entgegnete der Wolf. Ich bin der Wächter Nacht, dem nichts im Dunklen verborgen bleibt. Diese Wälder kenne ich sehr gut und mit ihnen jedes seiner Geheimnisse. Diesen fünften Rosenbusch, den Du suchst, Du wirst ihn nicht finden. Weil es ihn nicht gibt. Stattdessen musst Du die Königin der Blumen in ihrer reinsten Farbe finden. Sie wird Dir den Weg zu dem Hund weisen. Woher nimmst Du dein Wissen, raunte der Wolf. Nun, antwortete die Eule, eines nachts hatte ich ein Gespräch zwischen dem Hund und dem König der Frösche belauscht. Der Hund bat den König der Frösche dich auf eine falsche Spur zu führen, falls Du ihn eines Tages suchen würdest. Weißt Du Wolf, ich kenne die Geschichte dieses Hundes gut. Einst, vor vielen Jahren im Scheiding lebte er als junger Hund unter euch Wölfen. Doch wusstet ihr nichts mit dem jungen Hund anzufangen und übergabt ihn in die Obhut des Bären. Irgendwann habt ihr Spur des Hundes verloren, obwohl ihr ihn nie vergessen habt.

Bis er eines Tages wieder in eurem Revier stand. Was weißt Du noch Eule, wollte der Wolf wissen. Vieles, aber nicht alles. Ich weiß, dass der Hund viele Jahre bei den Menschen gelebt hat und jetzt wieder dort lebt. Auch hört man, dass ihr und der Bär seit letztem Gilbhart wegen des Hundes zerstritten seid. Die Menschen wissen nicht viel über die Wälder und halten dich Wolf für eine Gefahr. Sie glauben, Du willst dem Hund schaden. Deshalb wird deiner keiner helfen, oder Dir gar sagen, wo Du den Hund finden kannst. Im Gegenteil, sie werden alles tun, um den Hund vor Dir zu verstecken. Du bist stark und unabhängig Wolf, deine Stärken hier im Wald sind unbestritten. Da drüben aber bei den Menschen ist vieles anders, als hier im Wald. In der Welt der Menschen sind deine Schwächen aber deine Stärken. Du musst sie nur zu nutzen wissen. Hüte dich jedoch vor einer Auseinandersetzung mit der Hyäne. Sie ist dir an Kraft und Aggressivität weit überlegen. Aber Du kannst sie mit den Waffen deines Verstandes und deiner Worte besiegen.

Kapitel IV

Der Luchs

Seine Reise führte den Wolf weit über die Grenzen von allem, was er kannte hinaus. Er hatte reißende Flüsse überquert, Berge erklommen und war durch die brütende Hitze der Steppe gewandert. Schließlich erreichte er wieder einen Wald. Seit dem Treffen mit der Eule war der Wolf, ohne Hinweis auf den Weg, den der Hund genommen hatte, geblieben. Auch hatte er die Königin der Blumen, so sehr er sich auch bemühte, nicht finden können. Müde von den Strapazen des Tages legte sich der Wolf nieder, um eine Weile zu ruhen. Plötzlich tauchte aus dem Unterholz ein Luchs auf und näherte sich vorsichtig dem Wolf. Bleib ruhig Isegrim, sagte der Luchs. Du musst der Wolf sein, der seit langer Zeit diesen Hund sucht. Der Wolf hob seinen Kopf und fragte den Luchs, woher er das wissen wolle. Nun, antwortete der Luchs, es gibt kein Tier, das nicht darüber spricht. Ich habe es von einem Falken erfahren, der voller Bewunderung von Dir sprach. Ich wollte, ich wäre ein Falke, dann würde mir die Suche nach dem Hund nicht so schwerfallen, antwortete der Wolf. Du bist auf dem richtigen Weg, sprach der Luchs. Noch vor dem nächsten Neumond wirst Du die Siedlung der Menschen, in der der Hund jetzt lebt, erreichen. Aber sei gewarnt. Die Menschen werden Dir nicht freundlich gesonnen sein. Das sagte mir vor vielen Monden bereits die Eule, entgegnete der Wolf. Sie sagte auch, ich müsse die Königin der Blumen in ihrer reinsten Farbe finden. Bis heute ist mir jenes ein Rätsel geblieben. Der Luchs legte seine Stirn in Falten. Oh Isegrim, die Königin der Blumen wirst Du in ihrer reinsten Farbe nur bei den Menschen finden. Einst, vor vielen Lenzen war sie hier im Wald heimisch. Doch heute ist sie fast nur noch bei den Menschen zu finden, die sich diese Blume als Zeichen ihrer Hingabe verehren. Wie soll ich diese Blume jemals finden, Lynx fragte der Wolf verzweifelt. Den Wolf beruhigend antwortete der Luchs, die aufgehende Sonne wird Dir den Weg weisen und Sonnenschein wird dein Weg begleiten. Am Ende des Waldes wirst Du die Siedlung der Menschen finden. Nähere Dich ihr nur bei Nacht. Höre meine Worte Wolf, nur bei Nacht im Schutze der Dunkelheit. Eine entfernte Verwandte von mir wird Dir helfen, das richtige Haus zu finden. Woran erkenne ich deine Verwandte, wollte der Wolf wissen. Es ist eine Katze mit Pfoten weiß, wie Stiefel und einem Fell gezeichnet, wie das eines Waschbären. Diese Katze ist alt an Jahren, doch voller Klugheit und trickreich im Umgang mit den Menschen. Sie kennt das Haus des Hundes und wird Dir einen sicheren Weg dorthin weisen. Doch verweile nicht mehr allzu lange hier, Wolf. Der Falke sagte mir auch, dass die Hyäne mit dem eigentümlichen Zeichen in ihrem Fell, Dir näher ist als Du glaubst. Findet die Hyäne den Hund vor Dir Wolf, ist der Hund auf ewig für Dich verloren. Vermeide unter allen Umständen ein Zusammentreffen mit dieser Hyäne. Sie ist gefährlich, verschlagen, aggressiv und Dir an Kräften weit überlegen. Ich danke Dir Lynx für deine Hilfe, sprach der Wolf mit erleichterter Stimme. Unter diesen Sternen werde ich die Nacht verbringen, um morgen meine Reise fortzusetzen. Ich wünsche Dir viel Glück bei deiner Suche, sprach der Luchs, bevor er auf leisen Pfoten wieder im Unterholz verschwand.

 Kapitel V

Die Katze

Wie es der Luchs vorhergesagt hatte, erreichte der Wolf, immer der aufgehenden Sonne folgend, in der Nacht vor Neumond die Siedlung der Menschen. Von einer Anhöhe am Rande des Waldes beobachtete der Wolf, dass ihm seltsam anmutende Treiben. Lichter bewegten sich in rascher Geschwindigkeit laut brummend über breite Pfade. Überall liefen Menschen scheinbar ziellos umher, um schließlich in großen, hell erleuchteten Gebilden aus Stein zu verschwinden. Wie soll ich in diesem Treiben die Katze finden, dachte der Wolf, als er sich seufzend niederlegte. Er sann zurück an den Beginn seiner Reise, den Streit mit seinem ehemals besten Freund dem Bären, an die Tiere, der er getroffen und die ihm weitergeholfen hatten. Aber auch an die Warnung vor der Hyäne, die der eigentümliche König der Frösche ausgesprochen und sowohl die Eule, als auch der Luchs wiederholt hatten. Wie nahe mag mir die Hyäne sein? Ist sie schon in der Siedlung, fragte sich der Wolf. Mit fortschreitender Stunde flaute das hektische Treiben der Menschen ab. Der Wolf richtete sich auf und erblickte von seiner Anhöhe aus einen kleinen Wald inmitten der Siedlung. Im Schutze der Finsternis, welche die Nacht vor Neumond bot, macht sich der Wolf zu diesem kleinen Wald auf. Vorbei an den jetzt dunklen Gebilden aus Stein, die der Luchs Haus nannte erreichte der Wolf raschen Schrittes den kleinen Wald.

Geschützt hinter dem Gestrüpp einer Brombeerhecke verbrachte er den Tag, bis er, als die Dämmerung einbrach, eine Katze mit Pfoten weiß, wie Stiefel und einem Fell gezeichnet, wie das eines Waschbären unweit eines Baumes erblickte. Der Wolf ging langsamen Schrittes auf die Katze zu. Ich habe dich erwartet Wolf, begrüßte ihn die Katze. Der Wolf war froh, dass er die Katze gefunden hatte. Könntest du mich zu dem Haus mit der Königin der Blumen in ihrer reinsten Farbe bringen? Dort soll der Hund leben, sagte der Wolf. Nicht heute Nacht, Isegrim. Du bist müde und die Anstrengungen deiner beschwerlichen Reise sind dir anzusehen. Trotzdem habe ich eine Frage für dich und erst, wenn Du die Antwort darauf kennst, bist Du bereit für ein Wiedersehen mit dem Hund. Jedes einzelne Tier, welches dir auf deiner Reise begegnet ist, hat eine besondere Bedeutung. Ohne deren Bedeutung erkannt und auch verstanden zu haben, kann ich dir den Weg zu dem Haus nicht zeigen. Ich erwarte dich mit den richtigen Antworten morgen Nacht, zur selben Stund an diesem Ort. Ehe der Wolf sich versah, war die Katze im Schutze der Dunkelheit verschwunden. Auf dem Weg zurück in sein Versteck begann der Wolf über die Worte der Katze nachzudenken. Die Eule, die Wächterin der Nacht steht für Klugheit, Weisheit und Scharfsinnigkeit. Der Luchs für Schlauheit und Listigkeit. Aber auch für Vorsicht und Wachsamkeit. Auch um die Bedeutung der Katze wusste der Wolf. Sie vereint in ihren 9 Leben Eleganz und Anmut mit Freiheit, Eigenständigkeit und Geschick. Müde legte sich der Wolf nieder. Wie sollte er auf die Bedeutung des Königs der Frösche kommen?

Ich blätterte die Seite um, aber statt des erwarteten Endes der Geschichte folgten nur noch 2 unbeschriebene Seiten. Beim Durchblättern des Buches im Antiquariat war mir das nicht aufgefallen. Reichlich enttäuscht legte ich das Buch zur Seite. Ich werde wohl nie erfahren, welche Bedeutung der König der Frösche hatte und ob der Wolf dank der Hilfe dieser Katze den Hund wiedergefunden hat. Vor allem aber nicht, wie der Hund auf das Wiedersehen mit dem Wolf reagiert hat.

   Seit der Trennung von Maria war wieder Ruhe in meinem Leben eingekehrt. Ich wurde in meinem Tagesablauf nicht mehr ständig von E-Mails und SMS unterbrochen und hatte Zeit in Ruhe weiter das Tagebuch des Mannes aus dem Jahr 2011 zu lesen. Bevor ich jedoch weiterlas, beschäftigte ich mich zunächst mit den Notizen die ich mir bislang gemacht hatte. Die Geschichte des Mannes mit dem Hund und seiner Freundin füllte mittlerweile Stapelweise lose Blätter, die durch mein unprofessionelles, nicht chronologisches Vorgehen zumeist chaotisch durcheinander lagen. Meine vorherigen Bücher hatte ich fast ausschließlich aus dem Gedächtnis geschrieben. Eine gründliche Recherche oder das Studium verschiedener Quellen war kaum notwendig gewesen. Bei diesem Buch war alles ganz anders. Ich musste meine Methode zu arbeiten unbedingt umstellen und einen Weg finden, die wichtigen von den weniger wichtigen Informationen zu trennen. Zuerst versuchte ich die Blätter in eine chronologische Reihenfolge zu bringen, um dann durch das Lesen meiner Notizen wieder in das Geschehene zurück zu finden. Mein Plan war, während des Lesens, die Blätter mit kleinen Klebestreifen zu markieren. Die wichtigen rot, die unwichtigen blau und alles, was ich nicht eindeutig zuordnen konnte grün. Es dauerte fast zwei Stunden bis ich Ordnung in dieses Durcheinander gebracht hatte und jedes Blatt gekennzeichnet war. Anfang Januar, als ich aufgehört hatte sein Tagebuch und seine E-Mails zu lesen, war ich am 12. April 2011 stehen geblieben. Jene Tage, in der die Beziehung zwischen den beiden ihren Anfang genommen hatte. Der Einträge der folgenden Tage entsprach weitgehend dem, was in dieser Situation zu erwarten war. Am 14. April, dem Tag ihrer ersten gemeinsamen Nacht schrieb der Mann nochmals ausführlich über seine Gefühle zu dieser Frau. Wäre mir nicht schon klar gewesen, welche herausragende Stellung sie in seinem Leben einnahm, wäre es mir mit diesem Eintrag klar geworden. Der Mann ließ keinen Zweifel daran, dass er mit seiner Entscheidung für sie, eine Entscheidung für den Rest seines Lebens getroffen hatte.Von seinen Aufzeichnungen in der Folgezeit erwartete ich nichts besonders. Nur das übliche verliebte Gesülze. Daher überflog ich die Tage vom 15. bis zum 21. April, die diese Erwartung bestätigten und übersprang aus diesem Grund die restlichen Tage des April, den kompletten Mai und den halben Juni. Meine Befürchtung, der Juni würde in diesem Stil weitergehen, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil. Der Mann hielt erneut eine Überraschung für mich parat. Zwischen Juni und Mitte Oktober schrieb er, neben seinen üblichen Einträgen über seine Freundin und das Leben mit ihr, häufig über Geldsorgen, die ihn plagten. Seinen Aufzeichnungen zu folge konnte es dabei nicht nur um die exorbitanten Tierarztkosten für seinen Hund gehandelt haben. Es musste sich dabei um eine weitaus größere Summe, als die letztlich aufgelaufenen 12.000 Euro handeln. Woher diese Verbindlichkeiten stammten konnte ich mir nicht erklären und der Mann erwähnte ihren Ursprung nie explizit. Wie immer sie entstanden waren, sie belasteten ihn und damit die Beziehung. An manchen Tagen schrieb er in sein Tagebuch, wie sehr er es bedauerte, seine Freundin nie zum Essen ausführen oder ihr ab und zu ein Geschenk machen zu können. Doch er wollte unbedingt seine Fassade und damit seinen Stolz ihr gegenüber halbwegs aufrechterhalten. Ende Juni spielte er kurzzeitig mit dem Gedanken, seiner Freundin von seinen Problemen zu erzählen. Ein paar Tage später jedoch verwarf er diesen wieder in der Sorge, sie würde in ihm nur einen Versager sehen und sich enttäuscht von ihm abwenden. Während dieser Monate arbeitete er sehr viel und lebte extrem sparsam. Dabei kam ihm zu Gute, dass seine Freundin, in Unkenntnis der wahren Gründe, ihn für einen ebensolchen Workaholic hielt, wie sie es selbst war. Wie ich ihren E-Mails entnehmen konnte, war sie oft 4 Tage in der Woche unterwegs und selbst am Wochenende arbeitete häufig so viel, dass für gemeinsame Stunden keine Zeit blieb. In manchen Wochen sahen sie sich, außer auf einen kurzen Kaffee gar nicht

   Das liebe Geld wieder einmal, dachte ich als ich das gelesen hatte. Ich hatte seine Freundin gesehen. Solche Frauen kann man normalerweise nicht mit belegten Brötchen zuhause vor dem Fernseher halten. Oberflächlich betrachtet und in Unkenntnis ihrer Person entsprach sie eher dem Typ Frau, der etwas geboten werden muss. Partys, Ausgehen, ausgedehnte Urlaubsreisen, Wochenendausflüge und wertvolle Geschenke, sonst ist sie bei der ersten besten Gelegenheit weg. Damit kannte ich mich sehr gut aus. Mein Leben hatte mir gezeigt, die meisten attraktiven Frauen stehen einfach auf Männer mit Geld, die ihnen ein abwechslungsreiches Leben mit vielerlei Annehmlichkeiten bieten können. Das war kein Vorurteil oder gar eine Pauschalierung, es waren einfach meine Erfahrungen der letzten Jahre. Im Prinzip ist es nichts weiter als eine Win-Win-Situation für beide Seiten, daher nicht verwerflich. Emanzipation und ihre Verdienste in allen Ehren, aber der einfachste Weg ist und bleibt der beste. Nur Geraldine bildete dabei stets eine Ausnahme. Sie hat mein Geld nie beeindruckt. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, es störte sie eher. Mit der Einordnung seiner Freundin tat ich mir hingegen schwer. Auf der einen Seite gab es durchaus einige Anhaltspunkte in seinen Aufzeichnungen und ihren E-Mails, die den Eindruck erweckten, dass für sie der Mensch im Vordergrund stand. So hatte sie unmittelbaren Vorfeld der Beziehung stets alles wissen wollen, was den Mann beschäftigte und blieb dabei solange unnachgiebig, bis er ihr eine für sie zufriedenstellende Antwort gegeben hatte. Dieses und ein paar andere Beispiele legten nahe, dass sie wahrscheinlich der Typ Frau war, mit der er über dieses Thema hätte reden können. Anderseits hatte ich die Ereignisse des Sommers 2012 noch im Hinterkopf. Diese warfen jetzt ein seltsames Licht auf ihre E-Mails aus dem Jahr zuvor. Hatte sie wirklich so viel zu tun, dass sie keine Zeit für den Mann hatte, oder waren es damals schon Ausreden, die der Mann nicht in Frage stellte? Es war Zeit für eine Kaffeepause geworden. Während ich meinen Kaffee beim Durchlaufen beobachte und zwischenzeitlich immer wieder auf meinen verschneiten Garten blickte, dachte ich kurz an Geraldine. Ich sollte ihr unbedingt erzählen, dass ich mich von Maria getrennt hatte. Geraldine mochte es überhaupt nicht solche Dinge, durch Dritte zu erfahren.

   Zurück an meinem Schreibtisch widmete ich mich wieder seinem Tagebuch und seinen E-Mails. Der Zustand, den die beiden im Spätherbst 2011 erreicht hatten, ließ sich am besten mit zu zweit alleine beschreiben. Zwar hatte sich die wirtschaftliche Situation des Mannes langsam stabilisiert, dafür begann er sich Sorgen um seine Freundin zu machen, die in ihren E-Mails immer öfter darüber klagte, wie müde und kaputt sie ihr anstrengender und hektischer Beruf machte und dass sie nur noch Alleinsein und ihre Ruhe haben wollte. Ende September wurden diese Gedanken, durch die Vorfreude auf seinen neuen Hund, den er Ende Oktober bekommen sollte unterbrochen. In seinem Eintrag vom 22. Oktober, der Tag an dem er seinen neuen Hund abgeholt hatte, machte der Mann auf mich den glücklichsten Eindruck seit längerer Zeit. Zwei Tage später hatte der Mann Geburtstag. Mit großem Erstaunen las ich, dass sie sich an diesem Tag nicht gesehen hatten. Seine Freundin hatte an diesem Tag einen Termin um die Mittagszeit in Köln. Der Mann berichtete lediglich von einem kurzen Anruf abends gegen 18:00, als sie ihm gratulierte und ihm mitteilte, dass sie erst spät in der Nacht wieder zurückkehren wird. Auch am nächsten Tag, wie gemeinhin zu erwarten gewesen wäre, sahen sich die beiden nicht, sondern erst am darauffolgenden Samstag für einen knapp 30-minütigen Spaziergang mit ihren Hunden. Zudem erwähnte er mit keinem Wort ein Geschenk oder eine kleine Aufmerksamkeit von ihr. Ich erinnerte mich an die Flasche Oban, die ich von Maria bekommen hatte und wunderte mich über seine Freundin. Aber vielleicht gehörten beide zu den Menschen, denen Geschenke oder kleine Aufmerksamkeiten nicht wichtig waren. In der Folgezeit schrieb der Mann immer häufiger davon, dass er seiner Freundin, über deren stark angegriffene Gesundheit er sich ernste Sorgen machte, mehr Zeit und Raum lassen wollte, dass sie in ihrer wenigen freien Zeit zur Ruhe kommen konnte. Obgleich er sie und ihre Nähe an vielen Tagen, besonders an den Wochenenden sehr vermisste, war ihm wichtig, dass sie ausreichend Zeit hatte, sich um ihre Familie und Freunde zu kümmern. Beide hatten bei ihr, wie er wiederholt betonte, nach ihrem Beruf und ihrem Hund den höchsten Stellenwert in ihrem Leben. Nach allem, was ich bislang über den Mann erfahren hatte wunderte mich seine Haltung nicht. Dennoch war ich skeptisch, ob das der einzige Grund war, oder ob es nicht noch einen anderen Grund für seine Distanz geben konnte. Hatte er latente Zweifel an ihren Gefühlen für ihn, ohne diese selbst zu bemerken? In diesem Zusammenhang fiel mir seine Aufzeichnung vom 6. November auf. An diesem Eintrag manifestierten sich seine Zweifel deutlich lesbar in seinem Tagebuch. Er schrieb, dass sie an diesem Tag ihre Tagescreme mit der Begründung mitgenommen hatte, sie wolle diese aufbrauchen, bevor sie kaputtgeht. Für ihn war es ein deutliches Zeichen, dass Vorbereitungen traf die Beziehung bald zu beenden. Möglicherweise war es sogar das unausgesprochene Ende. Immerhin hatte sie sich seit Juli, sieht man von ein paar wenigen Spaziergängen mit ihrem Hund am Sonntagnachmittag, die laut seinen Aufzeichnungen selten länger als 60 Minuten dauerten, kaum gesehen. Damals wusste der Mann noch nicht, dass dieser Tag für über 8 Monate der letzte gewesen sein sollte, an dem sie sich gesehen hatten. Wie letztes Weihnachten und Silvester hatten die beiden auch damals die Feiertage getrennt verbracht, nur waren diese Einträge im Unterschied zu denen aus dem letzten Jahr weniger traurig und bitter.

   Die Tagebücher und E-Mails des Jahres 2011, sowie die der ersten drei Quartale von 2012, hatten mir bislang gezeigt, dass die beiden etwas verbinden musste, das mir unbegreiflich war, das ich nicht in Worte fassen konnte. Gleichzeitig aber auch, dass sich beide, bis auf wenige Ausnahmen, schwertaten dem jeweils anderen offen Gefühle zu zeigen. Oftmals war das Verhalten von beiden ambivalent und entsprach nicht dem eines verliebten Paares. Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas die Beziehung belastete und das nicht erst seit den Ereignissen vom Sommer 2012. Es musste früher passiert sein. Wie sonst wäre diese monatelange Pause zu erklären? Ich hatte eine Reihe möglicher Anhaltspunkt gefunden. Zum Beispiel, dass die beiden bereits in einer recht frühen Phase ihre Beziehung fast ausschließlich via E-Mail miteinander korrespondierten. Eine Form der Kommunikation die dazu geeignet war eine Kette von Missverständnissen, Widersprüchen und Fehlinterpretationen auszulösen. Dann Tatsache, dass sie sich nur äußerst selten sahen, so kaum etwas Gemeinsames entstehen konnte. Je länger ich nachdachte, desto mehr fiel mir ein. Nur brauchbares, das diesen sonderbaren Satz des Mannes erklären konnte hatte ich bislang, außer dem Silvestereintrag, der vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen war, immer noch nicht gefunden. Ich hoffte, dass sich im vierten Quartal 2012 endlich die Erklärung dafür finden würde. Auffällig an diesem Quartal war schon, dass die Datei ungleich kleiner war, als alle anderen zuvor. Ein Detail, das mir, als ich seine Einträge über Weihnachten und Silvester gelesen hatte, nicht aufgefallen war. In den ersten Oktobertagen konnte ich nichts Auffälliges entdecken. Lediglich, dass seine Einträge ungewöhnlich kurz waren und zwei Tage komplett fehlten. Er schrieb von dauernden Kopfschmerzen, davon, wie schlecht er zeitweise sah, von anhaltender Übelkeit und wie ungern er in diesen Tagen mit dem Auto, speziell bei Dunkelheit unterwegs war. Der erste längere und für mich interessante Eintrag datierte vom 11. Oktober. Der Mann schildert darin ein Telefonat mit einem gemeinsamen Freund der beiden. Dieser Freund warnte eindringlich davor, dass seine Freundin nicht besonders treu sei, sondern eher das genaue Gegenteil davon. Dass sie sehr egoistisch sei und ihr Leben grundsätzlich so leben würde, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Besonders stach mir in dieser Aufzeichnung ein Satz ins Auge.: Was Liebe ist, weiß die doch gar nicht. Die liebt nur sich selbst und ist nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht, hatte dieser Freund dem Mann klar zu verstehen gegeben. Diese Behauptung belegte er mit einigen Andeutungen aus ihrer Vergangenheit, über die dieser Freund sehr gut Bescheid zu wissen schien. Am Ende des Gesprächs er gab dem Mann schließlich nachdrücklich den Rat, sich zu seinem Besten so rasch als möglich von dieser Frau zu trennen. In diesem Zusammenhang erinnerte ich mich wieder an einen Eintrag aus dem Frühsommer 2011. In diesem berichtete der Mann mehr als Randnotiz von einem Telefonat mit jenem gemeinsamen Freund. Der Mann hatte damals lediglich vermerkt, dass sein Freund nicht sonderlich begeistert von seiner neuen Beziehung war und sich seine Freundin, als er ihr von dem Telefonat berichtet hatte, heftig darüber geärgert hatte, dass er mit diesem Freund überhaupt über die Beziehung gesprochen hatte. Ich hatte diesem Eintrag beim Lesen keine große Bedeutung zu gemessen, da er für mich mehr oder weniger Zusammenhanglos in der Luft hing. Doch anders, als im Sommer zuvor, erzählte der Mann seiner Freundin diesmal nichts von diesem Telefonat, sondern behielt es für sich. Immer wieder beschäftigte ihn die nächsten Tage die Frage, warum sein Freund in dieser Art und Weise über seine Freundin sprach und im Gegensatz zu ihrem ersten Telefonat diesmal sehr deutlich und auch sehr eindringlich geworden war. Ich machte mir zu diesem Eintrag, von dem ich überzeugt war, dass er im weiteren Verlauf wichtig werden könnte, ausführliche Notizen. Diese Antipathie unbestimmten Ursprung zwischen seiner Freundin und seinem Freund bestärkte in gewisser Weise meinen Eindruck von ihr, den ich bekommen hatte, als ich über ihre Krankenbesuche und der Zeit während und nach der Messe gelesen hatte.

   Die Einträge der beiden folgenden Tage waren dann wieder erneut ungewöhnlich kurz. Der Mann schrieb knapp von starken Kopfschmerzen, extremen Sehstörungen und Übelkeit, für die er eine starke Migräne verantwortlich machte. Als sich sein Zustand nicht verbesserte, entschied er am 14. Oktober, nachdem er wie jeden Monat an diesem Tag bei seinem verstorbenen Hund war und anschließend noch mit seiner Freundin und deren Hund einen kurzen Spaziergang unternommen hatte, schnellstmöglich einen Termin bei seinem Arzt zu machen. An diesem Sonntagabend schrieb der Mann, dass er sich große Sorgen darübermache, dass es, ohne dieses „es“ näher zu bezeichnen, zurückgekommen war und wie schwer es ihm heute gefallen war, seiner Freundin gegenüber sich nichts anmerken zu lassen. Ich war überzeugt, dass dieses „es“ im Zusammenhang mit seinen Beschwerden stehen musste und es sich dabei, anders als ich beim vorgezogenen Lesens seiner Aufzeichnung von Silvester noch angenommen hatte, um etwas Ernsthaftes handeln musste. Dunkel erinnerte ich mich schon früher von vereinzelten Arztbesuchen gelesen zu haben, hatte diesen aber nicht weiter Beachtung geschenkt. Genau, wie ich dem ersten Telefonat mit seinem Freund kein Augenmerk geschenkt hatte, hielt ich auch diese Arztbesuche für unwichtig und hatte mir keine Notizen gemacht. Ich begann mit Hilfe der Suchfunktion nach den Worten Arzt und Untersuchung in seinen Tagebüchern von 2011 und 2012 zu suchen und fand sie in ziemlich regelmäßigen Abständen von etwa 3 Monaten. Den Ersten Ende März 2011, den letzten im August während seine Freundin im Urlaub war. Zumeist schrieb er darüber nur, dass er heute beim Arzt gewesen sei und alles in Ordnung war. Für mich ließ das nur einen Schluss zu. Bei diesen Arztterminen in den vergangen anderthalb Jahren konnte es sich nur um die routinemäßige Nachkontrolle einer Krankheit handeln, die der Mann vor längerer Zeit gehabt haben musste. Seinen Aufzeichnungen zufolge hatte er seiner Freundin von diesen Terminen niemals erzählt. Jedenfalls stand darüber weder etwas in seinem Tagebuch, noch in seinen E-Mails. Nachdenklich über das, was ich gelesen hatte, schloss ich sein Tagebuch für heute. Ich musste unbedingt herausfinden, um welche Krankheit es sich handeln konnte. Der schnellste und einfachste Weg war, alle Symptome in Verbindung mit regelmäßigen Arztterminen in eine Suchmaschine einzugeben. Nach wenigen Augenblicken erschien eine Unzahl von Ergebnissen auf meinem Bildschirm. Die überwiegende Zahl der gefundenen Ergebnisse befassten sich mit Migräne, die mir aber, obwohl der Mann diesen Verdacht selbst geäußert hatte, als unwahrscheinlich erschien. Ich wusste über Migräne und ihre Symptome ausreichend gut Bescheid, daher war ich mir sicher, dass diese, schon auf Grund der Dauer seiner Beschwerden eher unwahrscheinlich war. Zudem würde niemand eine Migräne als „es“ bezeichnen. Eine kleinere Anzahl der Treffer deuteten in alarmierender Richtungen. Sie befassten sich entweder mit MS oder Hirntumoren. Bei beiden schienen die Symptome zu passen, die der Mann geschildert hatte. Zunächst klickte ich mich durch die diversen Links und erfuhr, dass MS Schubweise verläuft. Seine Äußerung „es ist wieder da“ wäre also passend. Dann widmete ich mich den Links zum Thema Hirntumor und stellte fest, dass ich über dieses Wort erschrak. Noch nie in meinem Leben war ich mit diesem Thema in Berührung gekommen und jetzt wollte ich mich unter Umständen in einem Buch damit beschäftigen. Ich klickte mich durch einige der Fundstellen, erkannte aber schnell, dass es zu viele verschiedene Arten von Kopftumoren gab und meine Informationen nicht annähernd ausreichend waren um die Ergebnisse einzugrenzen. Aber immerhin erfuhr ich, dass es sogenannte Rezidive gab, damit werden Tumore bezeichnet die wiederkehren. Der Mann konnte mit „es“ als genauso gut einen Tumor gemeint haben. Im Ergebnis eine 50 zu 50 Chance zwischen zwei gefährlichen Krankheit. Ich schloss die Fenster mit den Suchergebnissen wieder und ließ mich in die Lehne meines Schreibtischstuhls zurückfallen. War die Geschichte der beiden bislang schon ungewöhnlich genug, so wurde sie jetzt fast unglaublich. Solche Geschichten konnte nur das Leben selbst schreiben. Kein Mensch war in der Lage sich so etwas auszudenken. Ich begann mir Gedanken darüber zu machen, wie mein Verleger auf ein Buch, dem eine solche Geschichte zugrunde lag, reagieren würde. Vor vier Jahren war ich zufällig Zeuge geworden, wie er zu einem Autor sagte, egal was sie rauchen oder für Pillen nehmen, es ist zu viel davon. Ihre Geschichte ist vollkommen unlogisch und unglaubwürdig. Später unterhielt ich mich mit diesem Schriftsteller im Foyer des Verlags und er versicherte mir, dass er weder gesetzwidrige Substanzen zu sich genommen, noch dass er irgendetwas an seinem Buch erfunden hatte. Es sei nichts anders als die Realität, eine Beobachtung des wahren Lebens.

   Als ich am nächsten Nachmittag mit einer eigentümlichen Mischung aus Sensationsgier und Sorge in seinem Tagebuch weiterlas, setzte sich die Serie der unerfreulichen Einträge fort. Seine Freundin litt an einer schweren Erkältung und auch dem Mann ging es nicht besonders gut. Es waren sorgenvolle Einträge und diese zu lesen fiel mir nach kurzer Zeit außerordentlich schwer. Von Minute zu Minute wurde ich unkonzentrierter und meine Gedanken sprangen immer wieder zu den Suchergebnissen der letzten Nacht. Ich schloss sein Tagebuch und trennte die Verbindung, Mir war nach einer Abwechslung von dieser immer unwirklicher werdenden Geschichte. Um auf andere Gedanken zu kommen, schaute ich mich im Internet auf diversen Oldtimerseiten um. Zufällig stieß ich dabei auf die Verkaufsanzeige eines 1970er Dodge Challenger R/T 383 Convertible mit Matching Numbers aus Spanien. Dem Bild und der Beschreibung nach zu urteilen war er genauso, wie ich ihn schon seit über 2 Jahren suchte. Umgehend kontaktierte ich den Verkäufer via E-Mail und hoffte eine baldige Antwort von ihm zu erhalten. Am Montagmorgen rief ich wegen des Dodge als erstes meine E-Mails ab. Der Verkäufer hatte mir geantwortet. Er schrieb, dass ich das Fahrzeug ab Mitte der Woche in der Nähe von Jerez de la Frontera besichtigen könne. Sofort machte ich mich im Internet auf die Suche nach einem Flug. In Frage kam einzig ein Hinflug am Donnerstagmorgen mit Rückflug am Montagmorgen. Eilends schrieb ich dem Verkäufer zurück, ob ich das Fahrzeug am Freitag besichtigen könne und bat ihn, unter Hinweis, dass ich noch ein Flug buchen müsse, um eine rasche Antwort. Nach etwa einer Stunde hatte der Verkäufer geantwortet. Er bestätigte den Termin bestätigt und nannte mir die genaue Adresse des Fahrzeugstandorts. Erwartungsvoll, wie ein kleines Kind vor Weihnachten, buchte ich den Flug. Die Reise nach Andalusien hatte gleichzeitig den positiven Nebeneffekt diesem Schmuddelwinter, der sich seit Tagen nicht entscheiden konnte, ob er lieber Regen oder Schnee vom Himmel fallenlassen wollte, wenigstens für ein paar Tage zu entfliehen. Da ich keinesfalls unvorbereitet das Auto anschauen wollte, beschäftigte ich mich den ganzen Tag mit der Lektüre diverser Kaufberatungen sowie einiger Restaurationsberichte und vergaß darüber restlos das zuvor im Tagebuch des Mannes gelesene. Am folgen Nachmittag hatte ich alle relevanten Berichte durchgearbeitet und die Vorbereitungen für meine Reise abgeschlossen. Jetzt hatte ich ein wenig Abstand gewonnen und den Kopf wieder frei mich dem Tagebuch und den E-Mails des Mannes zu widmen. Am 15. Oktober schrieb er, dass er für den folgenden Tag einen Termin bei seinem Arzt gemachte hatte. Dieser ungewöhnlich schnelle Termin bestärkte meine Vermutung weiter. Heutzutage war es kaum möglich von einem Tag auf den anderen einen Arzttermin zu bekommen, es sei denn es gab eine lange Vorgeschichte. Mit für mich ungewöhnlich gemischten Gefühlen scrollte ich weiter bis zu jenen Zeilen, in denen der Mann über die Untersuchung berichtete. Befremdend knapp und distanziert, fast emotionslos schrieb er, dass die CT Bilder eindeutig waren und dieses „es“, gut zu erkennen war. Weitere Ergebnisse würde er aber erst in ein paar Tagen erhalten. Dieser eigenartige Eintrag bestätigte endgültig, dass es nicht um eine Migräne handeln konnte. Doch welche der beiden anderen Alternativen war die wahrscheinlichere? Ich versuchte es noch einmal mit einer Internetsuche. Zuerst  suchte ich nach CT und MS. Schon der erste Eintrag zeigte, dass diese Untersuchungsmethode bei dieser Krankheit nicht angewendet wird. Dann gab ich CT und Hirntumor ein und erhielt eine Flut positiver Treffer. Damit hatte sich die Wahrscheinlichkeit von 50 zu 50 stark Richtung Tumor verschoben. Einen Augenblick lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück, so als wollte ich Distanz schaffen, zwischen mir und dem was ich gelesen hatte. Drei Tage später, er war in diesen Tagen wie häufiger in der letzten Zeit nicht arbeiten gewesen, bekam er die Ergebnisse seiner Untersuchung. Die Resultate bestätigten seine Befürchtungen. Wieder ohne genauer darauf einzugehen, schrieb er, dass seine Werte wieder fast auf dem gleichen schlechten Niveau, wie damals angelangt waren und er am 16. November zu weitergehenden Untersuchungen einen Termin in einer Klinik hatte. Auch diesmal schrieb der Mann nicht, um welche Krankheit es sich genau handelte. Doch die rasche Abfolge seiner Untersuchungstermine ließ darauf schließen, dass meine Vermutung richtig sein musste. Natürlich hätte ich nach seiner Erkrankung in den Tagebüchern der vorangegangenen Jahre suchen können, mit Sicherheit hatte der Mann darüber geschrieben. Ich hoffte aber, da ich mir diese Arbeit ersparen wollte, dass der Mann in den nächsten Tagen erwähnen würde, um welche Krankheit es sich handelte. Doch anstatt, wie ich es erwartet hatte, sich mit diesem Thema weiter zu beschäftigen schrieb er in den folgenden Tagen überhaupt nicht mehr darüber. Gerade so, als versuchte er durch Ignorieren dieser Tatsache diese zu leugnen. Dafür erwähnte er erstaunlicherweise unsere Begegnung im Park an jenem Sonntag dem 21. Oktober.

„…. es ist immer wieder bemerkenswert, wie viel Wahrheit man einem wildfremden Menschen in kurzer Zeit manchmal erzählt, ohne es wirklich zu wollen. Vielleicht macht man das, weil sich ohne emotionale Bindung Wahrheit leichter erzählt…“

Während für die beiden folgenden Tage die Einträge erneut fehlten, war seine Aufzeichnung vom Mittwoch ausführlich, wie lange nicht mehr. Es war der Geburtstag des Mannes und

„Wieder ein Jahr älter und kein Deut schlauer, im Gegenteil. Irgendwie war das ein komischer Tag. Heute Morgen kam erst mal gar nichts. Auf meine Guten Morgen Mail antwortete sie knapp, dass sie schlecht geschlafen hat und das war’s. Gut, dachte ich, dann hat sie meinen Geburtstag vergessen und ich war schwer von ihr enttäuscht. Im Laufe des Vormittags schickte sie mir Fotos von einem Golf Cabrio, dass sie sich gekauft hatte. Ich war ziemlich überrascht, weil sie nie etwas davon erwähnte hatte. Außerdem verstehe nicht ganz, was das soll. Wir haben doch eines, dass sie jederzeit fahren darf. Später am frühen Nachmittag hat sie dann angerufen und mir gratuliert. Meine Laune war wieder besser…“

„…im Laufe des Nachmittags kam dann eine Mail, das sie heute Abend mit uns eine halbe Stunde spazieren gehen will, wenn sie es schafft. Wir haben uns dann im Park getroffen und ich kam mal wieder zu spät, weil ich mit dem Auto gefahren bin damit sie nicht merkt, dass ich heute nicht im Geschäft gewesen bin. Ich weiß, wie sie das hasst, zumal wenn sie sich nicht wohlfühlt. Wir sind eine kleine Runde gelaufen und es war sehr romantisch mit ihr. Fast wie in einem dieser Filme, in denen am Ende alles gut wird. Auf der großen Wiese habe ich ins Ohr geflüstert, dass ich sie lieb habe. Eigentlich wollte ich sagen, ich liebe dich…“

An diesem Eintrag erstaunte mich so einiges. Zuallererst, dass sie zunächst offenkundig seinen Geburtstag vergessen hatte. Mir war nicht klar, wie so etwas in einer Zeit passieren konnte, in der jeder durch sein Smartphone an wichtige Ereignisse erinnert wurde. Wie so etwas in einer Beziehung überhaupt passieren konnte? Dann die Sache mit diesem Cabrio, dass ihr offensichtlich von größerer Bedeutung war, als sein Geburtstag. Weshalb hatte sie ihm gegenüber niemals erwähnt, dass sie sich mit dem Gedanken trug, sich ein Cabrio anzuschaffen? Normalerweise, das wusste selbst ich, wurden solche wichtigen Entscheidungen im Vorfeld unter Partner besprochen und nicht im Alleingang durchgeführt, wie es für Singles typisch ist. Schließlich noch dieses ungewöhnliche kurze Treffen, das bei mir den Eindruck erweckte, sie sah darin einen eher lästigen Pflichtbesuch bei einem entfernten Bekannten, welchen sie an diesem Tag irgendwie hinter sich bringen musste. Auch dieses vermeintliche Unwohlsein, von dem der Mann geschrieben hatte, klang, betrachtete man den Ablauf dieses Tages, alles andere, nur nicht glaubwürdig. Ich hielt das für eine billige Ausrede, um nur so viel Zeit mit dem Mann verbringen zu müssen, wie unbedingt notwendig war und nahm ihr dieses Unwohlsein nicht ab. Für mich waren das weitere eindeutige Indizien, die meinen Verdacht bekräftigten, der Mann und die Beziehung mit ihm war ihr lange nicht so wichtig, wie sie noch im Sommer vorgegeben hatte. Aber über den Mann wunderte mich ebenfalls. Die Schilderung des gemeinsamen Spaziergangs und insbesondere der Teil über diesen Satz, den er ihr ins Ohr geflüstert hatte war ungewöhnlich. Der Mann hatte diesen Satz so hervorgehoben, als stellte dieser für ihn einen fundamentalen Schritt dar. Gerade so, als hätte er ihr diese Worte in vergangenen über anderthalb Jahren zum ersten Mal gesagt. Das war für mich kaum vorstellbar, nicht bei dieser Vorgeschichte. Noch befremdeter war, dass sich der Mann an diesem Abend für Light-Version, wie ich sie immer nenne, entschieden hatte und ihr nicht genau das gesagt hatte, was er wirklich fühlte. Immerhin stand die andere Version oft genug in seinem Tagebuch. Er musste einen Grund gehabt haben, sich diesen finalen Satz aufzusparen. Möglicherweise war es dem Ablauf dieses Tages geschuldet. Eine Frau, die den Geburtstag ihres Freundes zuerst vergisst, ihn dann nebenbei wissen lässt, dass sie sich ein neues Auto gekauft hatte und am Ende gerade eine knappe halbe Stunde Zeit, während des ohnehin notwendigen Spaziergang mit ihrem Hund für ihn übrig hatte, verdient wohl kaum mehr als die Bezeichnung einer flüchtigen Bekannten. Andererseits, ließ man den seltsamen Ablauf dieses Tages einmal außer Acht, konnte ich in gewisser Weise nachvollziehen, dass er mit diesem Satz äußerst vorsichtig umging. Ich hatte ihn in meinem Leben bisher immer erfolgreich vermieden. Größtenteils durch Verweigern einer Antwort, ab und zu mit flapsigen Antworten. Einmal hatte ich auf die Feststellung, ich liebe dich, meiner damaligen Freundin mit, ja ich weiß geantwortet. Eine Antwort, die die Beziehung ihrem Verfallsdatum mit Lichtgeschwindigkeit entgegenführt hatte. Aber bei dem Mann war mir sicher, dass es nicht an seinen Gefühlen gelegen haben konnte. Ich überlegte welchen Grund er noch gehabt haben könnte, diesen Satz nicht auszusprechen. Hatten das Telefonat mit seinem Freund, zusammen mit ihren Krankenbesuchen bei ihrem Ex-Freund und ihre seltsam kalten E-Mails während und nach der Messe doch Spuren hinterlassen? Oder wählte er diese Variante um sie nicht zu bedrängen, weil er wusste, dass eine wirklich feste Bindung nicht in ihr Leben passte und sie diese auch nicht wollte? Eine These, über welche er im Vorfeld seiner Briefe mehrfach nachgedacht hatte und deren Richtigkeit sie spätestens heute mit ihrem Verhalten mehr als eindrücklich unter Beweis gestellt hatte. Ungewöhnlich an diesem Eintrag war weiter, dass der Mann nicht erwähnte hatte, ob und was sie geantwortet hatte. Üblicherweise antworten Menschen auf diesen Satz, mit ich dich auch oder so ähnlich. Ich war überzeugt, hätte sie seine Aussage in der gleichen oder ähnlichen Form erwidert, hätte der Mann dies in seinem Tagebuch erwähnt. Für das Fehlen dieser Erwähnung konnte es nur eine Erklärung geben. Sie hatte seine Bekundung zur Kenntnis genommen, aber nicht erwidert. Später an diesem Abend schickte sie ihm, wohl als eine Art verspätete Antwort, einmal mehr einen Link zu einem Musikvideo. Es war irgendetwas Französisches mit Amour von Céline Dion. Eine Sprache, die nicht nur ich nicht im Ansatz verstand, sondern der Mann, ihres zynischen Kommentars zufolge, welchen sie dem Link hinzugefügt hatte, wohl ebenfalls nicht. „Wenn du es nicht verstehst, kannst du dir eine Übersetzung suchen“, hatte sie dazu geschrieben. Ich verspürte nicht die geringste Lust, mich auf die Suche nach einer Übersetzung zu machen. Überdies maß ich dem Inhalt dieses Liedes im Gegensatz zu denen, die sie dem Mann im Sommer per Link geschickt hatte, keine besondere Bedeutung zu. Wahrscheinlich war es einfach nur ein Lied, dass sie aus irgendeinem Grund mochte und in dessen Titel das Wort Amour vorkam. Ich hätte jetzt, wie es der Mann vermutlich auch getan hatte, nach einer Übersetzung suchen können, aber ich wusste, wie Fehleranfällig die Übersetzungsprogramme im Internet immer noch sind und nahm daher Abstand davon. Geraldine, die als Kind einige Jahre im französischsprachigen Raum gelebt hatte und seither fließend Französisch sprach hätte es bestimmt problemlos verstanden. Aber für diese Belanglosigkeit wollte ich Geraldine nicht bemühen. Gut möglich, dass ich durch die Summe der befremdeten Vorgänge der letzten Monate ihr gegenüber bereits misstrauisch geworden war. Für mich war dieses Lied mehr der Beweis, dass sie es vermieden hatte ihm direkt zu antworten und jetzt mit diesem Lied in einer Sprache, die er nicht verstand, versuchte ihre wahre Antwort zu verschleiern. Amour, das verstand man weltweit. Dabei konnte dieses Lied von allem Möglichen handeln, das mit Liebe zu tun hatte. Eine sehr gute Vorgehensweise, wenn man sich später auf die Position: Das habe ich nie gesagt, zurückziehen will. Alles was ich über diesen Tag erfahren hatte, besonders aber sein Ablauf hinterließ bei mir einen üblen Nachgeschmack, der meinen Eindruck von ihr, den ich seit diesen ominösen Krankenbesuchen im Sommer hatte weiter verstärkte. Ich beendete den Remotezugriff auf seinen Computer, fuhr meinen herunter und ging in meine Küche. Nicht nur ich hatte Zweifel an dieser Beziehung, sondern auch der Mann schien sie zu haben, wie gut zu erkennen war, wenn man zwischen den Zeilen las. Während ich mir mein Abendessen zubereitete, fragte ich mich die ganze Zeit, woher seine Zweifel noch kommen konnten? Immerhin hatten die beiden zum dritten Mal eine Art Beziehung und zwischenzeitlich sollte er diese Frau kennen. Zweimal kam der letztlich entscheidende Schritt sogar von ihr und so etwas passiert nur, das wusste selbst ich, auch wenn es mir unverständlich war, wenn sich zwei Menschen wirklich sehr viel bedeuten. Warum aber verhielt sie sich dann immer nur für kurze Zeit so, um dann sehr schnell wieder kühl und distanziert zu wirken? In dieser ganzen Geschichte passte so einiges nicht zusammen, nicht nur der Verlauf dieses Tages und ich hatte keine Ahnung warum das so war.

   Vor meinem Abflug nach Spanien, wollte ich unbedingt zumindest bis zu seiner Untersuchung im Krankenhaus am 16. November weiterlesen. Aus diesem Grund stand ich am nächsten Morgen schon kurz nach 7 Uhr auf und setzte mich mit einer großen Tasse Kaffee sofort an meinen Computer. Die Einträge der letzten Tage im Oktober und der ersten im November, sowie die dazugehörenden E-Mails brachten nicht viel Erhellendes. Seine Aufzeichnung vom 6. November dafür umso mehr. Der Mann schrieb in sein Tagebuch, dass ihre Gute Nacht E-Mail morgens um 6:51 abgeschickt worden war. Diese ungewöhnliche Zeit und die Tatsache, dass sie ausgerechnet am Wochenende angeblich immer krank war ließen dem Mann keine Ruhe. Er fragte sich, ob das alles wirklich Zufälle sein konnten oder ob er Geister sah. Geister, dieses Wort hatte er auch an Silvester benutzt. Ich war mir sicher, dass der Mann dieses Wort mit Bedacht gewählt hatte und ihr Verhalten ihn an etwas erinnern musste, dass er nur zu gut kannte. Am nächsten Tag schrieb er, dass seine Freundin ihn gebeten hatte für ihre Firma einen bestimmten Laptop zu besorgen, der im Handel nicht mehr erhältlich war. Der Mann setzte alle Hebel in Bewegung, bis er schließlich bei einem Großhändler noch einen fand. Ich notierte mir die Ereignisse dieser beiden Tage in der Überzeugung, dass sie in irgendeiner Weise wichtig waren, bevor ich weiterlas. Der nächste interessante Eintrag datierte vom 15. November. Dem Tag vor seiner Untersuchung. Dieser Eintrag unterschied sich von allen anderen, die ich bislang im Tagebuch des Mannes gelesen hatte. Er beschrieb weder seine Gefühle, noch führte er seine Gedanken aus. An diesem Tag stand ein Text, den ich nur mit dem Wort unverdaulich beschrieben konnte.

“Kannst Du mir helfen diese Furcht von mir nehmen?
Ich laufe, aber sie bleibt immer an meiner Seite.
Ich will mich zerreißen, um sie aus mir herauszulassen.
Es ist zurück in meinem Leben und neu in deinem.
Und dieser Schmerz hasst mich wieder.

Wie ein Fluch ist er zurückgekehrt.
Ohne es zu kennen wirst Du lernen es zu verabscheuen
Es zerstört alles, ohne Rücksicht auf seine Schönheit!
Sag mir, warum du mich gewählt hast?
Ich will dich nicht mit deiner gefräßigen Gier nach Zerstörung in mir haben!

Sei schneller als es, bis Du aus meinem Herz verschwindest!
Dann kann es Dich nie mehr verletzen!
Aber diese Furcht erschüttert mich mehr, als die andere.
Halte mich solange, bis es wieder fort ist.

Ich dachte lange über diesen merkwürdigen Text nach. Zum einen schien er sich an seine Krankheit, zum andern an seine Freundin zu richten. Im Gegensatz dazu war der Eintrag über seine Untersuchung im Krankenhaus am folgenden Tag, wie schon jener zuvor im Oktober, vollkommen sachlich. Er schilderte die technischen Abläufe der Untersuchung ohne jede Kommentierung. Ganz beiläufig bemerkte er in einem Nebensatz, der völlig emotionslos zu sein schien, dass nun die Zeit des Wartens auf die Ergebnisse, wieder begonnen hatte. So sehr ich auch versuchte, mich in seine Situation an diesem Tag hinein zu versetzen, es gelang mir nicht. Ich kam zu der Überzeugung, dass es unmöglich war, nur im Geringsten nachvollziehen zu können, was in dem Mann an diesem Tag vor sich gegangen sein musste. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass der Mann bis einschließlich Neujahr seiner Freundin nichts von seiner Krankheit erzählt hatte, wäre ich davon ausgegangen, dass er sich jetzt damit auseinandersetzt, wann und wie er es ihr sagen soll. Stattdessen aber erschien ihr Exfreund erneut auf der Bildfläche. Der Mann schrieb, dass sie fortgesetzt über ihn schrieb. Angeblich räumte dieser jetzt endlich die Garage aus. Beinahe 2 Jahre nach der Trennung. Zudem benötigte er dafür mehrere Tage, schenkte man ihren E-Mails glauben. Ich hatte die Garage gesehen. Es war eine normale Einzelgarage und kein Flugzeughangar. Passend dazu beantwortete sie in diesen Tagen mehrfach seine Gute Nacht E-Mail nicht. Ich war mir sicher, ihre Hände waren an diesen Abenden mit anderen Dingen, als ihrem Smartphone oder ihrem Computer beschäftigt.

   Abgesehen von ihren Krankenbesuchen im Sommer, die dem Mann nur missfallen hatten und die ich nicht direkt als Zweifel bezeichnen würde, war für den Mann, selbst in den über 8 Monaten von November 2011 bis Juni 2012 in denen sich die beiden nicht gesehen hatten, ein anderer Mann bislang nie ein Thema gewesen. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte er nie generell Zweifel an ihrer Treue gehabt, obwohl seine Freundin häufig die ganze Woche geschäftlich unterwegs war und sie sicher mehr als genug Möglichkeiten gehabt hätte, jedem ihre Bedürfnisse ungehindert und vor allem unbemerkt nachgeben zu können. Offensichtlich hatte der Mann ihr immer vertraut. War es das immer häufigere Ausbleiben der E-Mails, die zuletzt zahlreichen Erwähnungen ihres Exfreundes, ihr stetiges Kranksein am Wochenende, der Verlauf seines Geburtstages oder dieses Telefonat mit der eindringlichen Warnung seines Freundes, das die Büchse der Pandora zu einem Zeitpunkt geöffnet hatte, der nicht ungünstiger hätte sein können? Die zeitliche Nähe dieser Ereignisse kam mir verdächtig vor. Wusste dieser Freund vielleicht etwas, dass der Mann nicht wusste? Denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Den Aufzeichnungen des Mannes zu folge, waren seine Freundin und sein Freund seit langem heftig zerstritten. Verfolgte dieser Freund eventuell andere, eigene Interessen? Wollte er, den Mann als Kollateralschaden in Kaufnehmend, solange Zweifel an seiner Beziehung säen, bis er sie beendete und damit sie treffen? Oder war es einfach die ehrliche und begründete Sorge eines guten Freundes? Fragen, auf ich die ich noch keine Antwort fand. Eines aber war offensichtlich, ihre Krankenbesuche bei ihrem Exfreund im Sommer konnten kein Zufall gewesen sein und sie waren nach meiner Überzeugung nicht mit diesem Helfersyndrom erklärbar. Für mich stand fest, nach dem ich seine Aufzeichnungen dieser Tage gelesen hatte, dass ihr Verhalten eindeutig war. Lag ich mit dieser Vermutung richtig, dann schloss sich zwingend die Frage an, wie würde sie sich verhalten, wenn sie Kenntnis von der Krankheit des Mannes hätte. Würde sie sich mehr um den Mann kümmern und ihre anderen Aktivitäten einstellen? Ich hatte meine Zweifel. Im Moment spielte ihr die ganze Situation in die Hände. Jedenfalls waren mir diese bis heute rätselhaften Aufzeichnungen über Weihnachten und Silvester ein wenig klarer geworden.

   Es war mittlerweile später Nachmittag geworden und ich holte mir einen Kaffee in meiner Küche. Alles, was ich gelesen hatte, bestärkte mich in meiner Überzeugung, Beziehungen nicht allzu fest werden zu lassen. Immer die überlebensnotwendige Distanz zu behalten. Niemand zu nahe an mich heran zu lassen. Eine Taktik, mit der ich bislang immer sehr gut gefahren war. Als ich wieder in mein Arbeitszimmer zurückgekehrt war, erwartete mich eine E-Mail von Geraldine. Sie lud mich für Samstagabend zum Essen ein. Das ungewöhnliche daran war, dass Geraldine kochen wollte. In all den Jahren, in denen wir uns kannten war dies erst das dritte Mal, dass Geraldine für uns kochen wollte. Auf der einen Seite freute mich diese unerwartete Einladung. Andererseits war ich froh, dass ich ihr wegen meiner Reise nach Jerez, die ich auch für Geraldine nicht verschoben hätte, absagen musste. Im Westen der Stadt, wo Geraldine wohnte, konnte abends die mir verhasste Parkplatzsuche in ein stundenlanges Glücksspiel ausarten und die Aussicht einen ganzen Abend mit kalten Füßen verbringen zu müssen, weil Geraldines Wohnung nicht mit Schuhen betreten werden durfte war ebenso wenig berauschend. Ich antworte ihr, dass ich es sehr bedauern würde, ich an diesem Wochenende aber in Jerez sein werde. Dabei erwähnte ich meine Trennung von Maria beiläufig in einem Nebensatz.

   Nach dieser unerwarteten Unterbrechung wandte ich mich wieder dem Tagebuch des Mannes zu. Ich war nicht nur auf seine Untersuchungsergebnisse gespannt, sondern auch darauf, wie sie sich die Beziehung unter dem Eindruck dieser Ergebnisse weiterentwickelte. Am 23. November, dem Tag an dem seine Ergebnisse eingetroffen waren, schrieb der Mann in seinem Tagebuch:

„Zeit im Glas, so fühlt sich das an. Gefühlte Stunden, bis ich den Briefkasten öffne. Aufmachen oder nicht, dass ist hier die Frage, die sich eigentlich nicht stellt. Wirklich erfreulich ist es nicht, einige Werte sind deutlich schlechter geworden, ich hatte es mir fast gedacht, so müde, wie ich die letzte Zeit oft war und so schlecht, wie ich phasenweise gesehen habe. Und Mitte Dezember die nächste Kontrolle. Ab jetzt vorerst monatlich. Was ist in diesem Moment alles passiert? Irgendwo ist ein Vulkan ausgebrochen, ein Fluss über die Ufer getreten und ein Krieg hat begonnen. Ein Haus ist abgebrannt, jemand schwört ewige Liebe, während andere an einem Grab stehen. Und irgendwo in China fällt in diesem Moment eine Türe ins Schloss. Die Welt der großen Belanglosigkeiten. Und keine Antwort auf meine Mail vorhin, nichts.“

Der Eintrag des nächsten Tages brachte die Erklärung für die ausgebliebene Antwort. Angeblich war sie, wie sie in einer E-Mail schrieb, die sie erst am nächsten Morgen abgeschickt hatte, noch auf einer Geburtstagsparty gewesen, die sie vollkommen vergessen hatte. Freitagabend, gab es überhaupt einen geeigneteren Tag als diesen für eine solche Ausrede? Mir fiel schwer zu glauben, was ich gelesen hatte. Um sicher zu gehen überprüfte ich seine E-Mails, fand aber leider nur die die Bestätigung dessen, was der Mann in seinem Tagebuch geschrieben hatte. Am Samstagmorgen, kurz nach 10:30 hatte sie diese E-Mail abgeschickt. Wenn ich eines in meinem ersten Leben gelernt hatte, dann offensichtliche Lügen zu erkennen und diese Erklärung, warum sie seine E-Mail an diesem Abend nicht beantwortet hatte, gehörte eindeutig dazu. In einer Zeit, in der die meisten Menschen beinahe schon zwanghaft pausenlos ihr Smartphone auf neuen Nachrichten kontrollieren, war diese Antwort vieles, aber nicht glaubhaft. Aber nicht nur mir, sondern auch dem Mann ging das so. Sein Eintrag vom darauffolgenden Sonntag verstärkte meinen Eindruck weiter. Er schrieb, dass sie nachmittags kurz bei ihm gewesen sei, um das Laptops ihrer Mutter abzuholen, welches er für sie repariert hatte. Nach 10 Minuten war sie, mit dem Hinweis, sie hätte noch eine ungemein wichtige Verabredung, die sie keinesfalls versäumen wollte, wieder verschwunden. Diese Art wichtiger Verabredungen an einem Sonntagnachmittag konnte ich mir lebhaft vorstellen. Doch nicht nur dieser Teil seiner Aufzeichnung war interessant, sondern auch eine Zeile, die er über Computer geschrieben hatte, die ich nicht einordnen konnte:

„… Computer können lügen, wenn man sie lässt. Meistens erzählen sie aber die Wahrheit und wie viel davon wird einem erst bewusst, wenn es bereits zu spät ist. Und manchmal dienen sie nur zur Bestätigung von Ergebnissen, wie es in der Wissenschaft gemacht wird.“

 Für diesen Tag hatte ich genug gelesen und ich wollte mir für den Rest des Abends keine Gedanken mehr über menschliche Abgründe machen. Stattdessen freute ich mich auf meine Reise nach Jerez, besonders aber auf den Dodge, der mich dort erwartete.