Der Mann mit dem Hund: Drei W̦lfe РKapitel 12 РReihe 16, Nummer 246

   In den vergangenen Wochen war ich mit der Arbeit an meinem Buch lange nicht so gut vorangekommen, wie ich gehofft hatte. Fast neun Monate arbeitete ich mittlerweile daran. Länger, als an jedem meiner anderen Bücher zuvor. Sogar mein erstes hatte ich schneller geschrieben. Immer wieder unterbrachen Gedanken über mein eigenes Leben meine Arbeit. Dieses Mädchen von damals, Geraldine, Emma, überhaupt meine ganzen Beziehungen. Vieles, das ich immer beiseite geschoben, aber nie aufgearbeitet, oder gar versucht hatte zu lösen, geisterte mir immer wieder durch den Kopf. Seit Wochen wartete ich nun schon auf Nachricht von meinem Freund bei der Polizei, der mir versprochen hatte, mir bei der Suche nach dem Mädchen behilflich zu sein. Es war selbst für die Polizei eine ungewöhnlich lange Zeit für die Beschaffung einer einfachen Information.

   Heute war einer dieser Tage, an denen mir nicht ein vernünftiger Satz einfallen wollte. Ich tat mir schwer, die richtigen Worte zu finden und noch schwerer, ihnen einen Sinn zu geben. Gerade als ich meinen Schreibbemühungen beenden wollte, klingelte mein Handy. Endlich, der lang erwartete Anruf meines Bekannten. In verbindlichem Ton schlug er ein Treffen in einer Stunde in einem Biergarten außerhalb der Stadt vor. Nervös geworden darüber, was mich erwartete, aber auch mit ein bisschen Vorfreude endlich eine Spur von ihr gefunden zu haben, räumte ich die Tassen von meinem Schreibtisch und leerte den Aschenbecher. Ich schnappte die Schlüssel des Mustangs und machte mich auf den Weg. Als ich an dem Biergarten angekommen war, konnte ich meinen Freund nirgends entdecken. Ich ging zur Getränkeausgabe, kaufte mir ein Glas Wasser und suchte mir einen Platz etwas abseits. 15 Minuten vergingen, bis mein Bekannter auftauchte. Er machte einen gehetzten Eindruck und schaute sich immer wieder um. Fast so, als wollte er sichergehen, dass ihm niemand gefolgt war. Ein Verhaltensmuster, das nicht untypisch für Menschen mit der Sorge ist, bei etwas Unrechtmäßigem erwischt werden zu können. Er setzte sich zu mir und ich erkundigte mich, was er trinken wollte.
„Kaffee schwarz“, antwortete er knapp.
Ich stand auf und holte ihm einen Kaffee. Als ich wieder kam. zog er einen dieser typischen beigen Aktenordner aus seiner Jacke und schob ihn mir herüber. Voller Spannung öffnete ich den Ordner. Ein Unfallbericht, Polizeifotos, ein paar Skizzen sowie der Bericht eines Pathologen kamen zum Vorschein. Das übliche bei einem Autounfall mit Todesfolge eben. Ein wenig irritiert fragte ich, was das sei.
„Die Information, die du unbedingt haben wolltest“, entgegnete er knapp. „Der Unfall ereignete sich vor etwas mehr als 2 Jahren. Aber lies selbst.“
Ich las mir den Bericht ganz langsam, fast Wort für Wort durch. Sie hatte nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen. Das war das Erste, das mir auffiel. Dem Bericht über den Unfallhergang entnahm ich, dass die Polizei von, wie sie es nennt, nicht angepasster Geschwindigkeit ausging und sie bei Nacht und Nässe die Kurve nicht geschafft hatte. Ich betrachtete die Bilder des zerstörten Wagens. Das Auto war fast in zwei Hälften gerissen worden. Obwohl alle Airbags ausgelöst hatten, war augenfällig, dass sie keine Überlebenschance hatte. Dann las ich den Bericht des Pathologen. Er hatte ein schweres Schädel/Hirntrauma, massive innere Verletzungen, diverse Knochenbrüche und starke Quetschungen diagnostiziert. Aber auch ein Blutalkoholgehalt von 0,6 Promille, große Mengen an Koffein und Spuren von starken Schmerzmitteln und Psychopharmaka festgestellt. Ich klappte den Ordner zu und schaute in den Himmel. Er war ungewöhnlich blau an diesem Tag. Keine Wolke, nur blauer Himmel und die Sonne. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn ein Wort sagen. Zu geschockt war ich.
„Nicht gerade das, was du erwartet hast, oder?“
Er ergänzte die Informationen, die ich der Akte entnommen hatte.
„Wir gehen davon aus, dass sie in Folge von Übermüdung, bei gleichzeitigem Alkoholkonsum, die Kurve bei Nacht und der schlechten Witterung falsch eingeschätzt hat und viel zu schnell war. Sie war sofort tot. Falls dich das in irgendeiner Weise beruhigt.“
Ich hörte seine Worte, aber sie drangen nicht zu mir durch. Alles um mich herum erschien mir plötzlich auf merkwürdige Art surreal. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte.
„Ich danke dir“, sagte ich leise und schob den Ordner wieder zu ihm rüber. Eine ganze Weile saßen wir uns schweigend gegenüber. Er wusste wohl nicht so recht, was er sagen sollte und ich konnte nichts sagen.
„Ich muss wieder los“, gab er mir nach ein paar Minuten zu verstehen, während er im Aufstehen die Akte wieder in seine Jacke schob.
„Danke für den Kaffee. Übrigens, ihr Grab ist auf dem alten Friedhof am Bach, Reihe 16, Nummer 246. Ich wünsche dir viel Glück. Bis dann.“
Er drehte sich um und ging. Das war also das Ende. Eine unbeschreibliche Laune des Schicksals.

   Ich blieb noch ein paar Minuten regungslos vor meinem Wasser sitzen, bis ich langsam aufstand und zu meinem Wagen ging. Von dem Parkplatz hat man eine wunderbare Sicht über die Stadt, aber das war mir in diesem Moment vollkommen gleichgültig. Wie ich nach Hause gefahren bin kann ich nicht mehr sagen, ich weiß nur, dass ich irgendwann dort angekommen bin und mich auf mein Sofa fallen ließ. Dort lag ich die ganze Nacht und dachte an diese Tage im September vor vielen Jahren. Was wäre geschehen, wenn ich ihr damals die Wahrheit gesagt hätte, über mich, meine Pläne und mein Leben. Hätte es den Lauf ihres Lebens verändert, wenn sie die Wahrheit gekannt und auf mich gewartet hätte? Würde sie dann heute noch leben und wir wären heute noch ein glückliches Paar. Niemand vermag das zu beurteilen. Alles nur Spekulation. Das Leben geht seine eigenen Wege, immer ein bisschen abhängig von unseren Entscheidungen. In diesem Augenblick zuckte mir ein Satz einer der Ausbilder, die ich in der Firma hatte, durch den Kopf. Ein Satz, den er oft und gerne wiederholte.
„Vergessen sie niemals, am Ende sind sie alle alleine.“
Wie Recht er doch hatte. Aber ich war nicht nur alleine, ich hatte auch die Chance versäumt, einem Menschen, der mir viel wichtiger war, als ich mir lange eingestehen wollte, etwas Wesentliches zu sagen und nun wird es für immer unausgesprochen bleiben müssen. Mir ging es dabei nicht um eine Erklärung, über die die Zeit ohnehin schon lange hinweg gegangen war. Es ging um eine Entschuldigung für mein Verhalten.

   Langsam dämmerte der Morgen blutrot am Horizont. Obwohl ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, war ich überhaupt nicht müde. Zu viel Adrenalin wahrscheinlich. Ich ging in die Küche, setzte Kaffee auf und dann unter die Dusche. Ich stand sehr lange unter der Dusche an diesem Morgen. Fast so, als wäre diese Dusche der am Ende ungeeignete Versuch, die ganze Geschichte von mir abwaschen zu wollen. Zurück in der Küche trank ich meinen Kaffee und überlegte, was ich mit diesem Tag anfangen sollte. Mir war weder nach Schreiben, noch nach sonst etwas. Ich schaltete das Radio ein. Als ich hörte, welches Lied lief, wollte ich sofort wieder ausschalten. Es war eines der Lieder, die ich damals zusammen mit dem Mädchen gehört hatte. Einer dieser verrückten Zufälle des Lebens, der in diesem Augenblick nicht gerade zu meinem Wohlbefinden beitrug. Mit der Kaffeetasse in meiner Hand ging ich zuerst in meinem Wohnzimmer und anschließend auf meiner Terrasse auf und ab. Ich konnte nicht aufhören an das Mädchen und diesen Friedhof zu denken. Irgendwann entschied ich mich ihr Grab zu besuchen, obwohl Friedhöfe seit Jahren nicht gerade zu meinen Lieblingsorten gehörten und ich sie vermied, wann immer ich konnte. Hier aber war es anders. Ich musste unbedingt hin. Selbstverständlich war mir die Sinnlosigkeit bewusst, aber ich konnte nicht anders.

   Auf dem Weg zu dem Friedhof hielt ich an einem Blumenladen und kaufte zwei Dutzend Rosen. Ein Dutzend weiße, ein Dutzend rote. Am Friedhof angekommen blieb ich für einige Minuten in meinem Auto sitzen. Merkwürdige Gedanken jagten mir durch den Kopf. Was, wenn ich jemand an ihrem Grab treffe? Was sollte ich sagen? Gab es überhaupt etwas zu sagen? Ich versuchte diese Gedanken zu verdrängen, stieg aus und ging zu Reihe 16. Ganz am Ende war Nummer 246. Das Grab war einfach gehalten, machte aber einen sehr gepflegten Eindruck. Jemand musste sich darum kümmern. In goldenen Buchstaben standen ihr Name, ihr Geburtstag und ihr Todestag auf einem schlichten kleinen schwarzen Marmorgrabstein. Ich suchte eine Vase für die Rosen, holte Wasser und stellte sie auf ihr Grab. Minutenlang stand ich schweigend davor, bis mir endlich, ganz leise, die Sätze, die ich ihr schon viel früher hätte sagen müssen, über die Lippen kam. Als wären Tonnen von Stein von meinem Herzen gerollt, so unendlich erleichtert fühlte ich mich danach. Nach beinahe 30 Jahren waren sie endlich ausgesprochen worden. Aber am falschen Ort und zur falschen Zeit. Wie es so viele Menschen taten. Ich setzte mich vor das Grab und versuchte mich an alles zu erinnern, das wir damals gemeinsam erlebt hatten. Eine bittere Art eines unmöglichen Zwiegesprächs in Form eines stummen Monolog.

   Eine Stunde später war ich wieder Zuhause. Zum ersten Mal kam mir mein Haus leer und viel zu groß für mich vor. Ich schien zu vermissen, was ich nie hatte. Nicht dieses Mädchen persönlich, mehr im Allgemeinen. Ich ging in den Garten und kauerte mich in Mitten meiner Rosen auf den Boden. Mein Kopf war vollkommen leer. Eine gefühlte Ewigkeit starrte ich die in ihrer voller rosafarbenen Pracht blühende Queen Elisabeth an, auf die ich besonders stolz war. Es war vollkommen ruhig in diesem Augenblick. Nicht das kleinste Geräusch war zu vernehmen. Sonst waren immer irgendwo spielende Kinder, ein Rasenmäher oder Musik zu hören, nicht aber an diesem Nachmittag. Ganz langsam dämmerte mir, dass das Mädchen nicht das einzige unerledigte in meinem Leben war. Es gab noch jemanden, mit dem ich, wenn sich die richtige Gelegenheit dafür bot, dringend sprechen sollte. Bevor es eines Tages ebenfalls unwiederbringlich zu spät sein würde. Das war mir heute überdeutlich geworden. Seitdem mich Geraldine gefragt hatte, ob ich sie auf dieses Konzert begleiten würde, hatte ich mich nicht mehr bei ihr gemeldet und alle SMS und E-Mails unbeantwortet gelassen. Ich entschied mich, bevor die Situation eskalieren konnte, Geraldine anzurufen, wohl wissend, dass sie überraschende Anrufe überhaupt nicht schätzte. Als Anlass für meinen Anruf nahm ich die Frage, wie weit die Analyse der E-Mails des Mannes fortgeschritten war. Anfangs verlief das Gespräch ausgesprochen frostig. Das änderte sich erst geringfügig, als ich mich dafür entschuldigte, ihre Nachrichten die vergangenen Tage nicht beantwortet zu haben. Ich schob als Grund für dieses Fehlverhalten die Arbeit an meinem Buch vor, die meine volle Konzentration erforderte. Eine bessere oder überzeugendere Ausrede fiel mir in diesem Moment nicht ein und ganz einfach ehrlich konnte ich nicht sein. Ich war überzeugt Geraldine hätte für die Wahrheit ohnehin kein Verständnis aufgebracht. Ihre Reaktion ließ darauf schließen, dass sie mir nicht glaubte. Geschäftsmäßig knapp und unterkühlt teilte sie mir mit, dass die Analyse abgeschlossen sei und sie auf ein paar interessante Details gestoßen war. Neugierig auf diese Ergebnisse geworden, bat ich sie betont höflich und freundlich um ein Treffen am heutigen Abend. Sie zögerte kurz und schien einen Augenblick zu überlegen, bevor sie mein Ansuchen ablehnte. Allerdings fügte sie ihre Absage umgehend an, dass sie übermorgen Abend Zeit hätte.

   Als ich am übernächsten Morgen die Zeitung aufschlug, stellte ich fest, dass an diesem Tag nicht nur Freitag, sondern auch der 2. August war. Hatte ich keine Termine, war es für mich nicht unüblich, dass ich nicht wusste, welches Datum heute war und beinahe hätte ich diesen 2. August übersehen. Der Tag, an dem vor genau 21 Jahren das Drama zwischen Geraldine und mir mit unserer ersten gemeinsamen Nacht seinen Anfang genommen hatte. Ich fragte mich, ob Geraldine diesen Tag mit Absicht für unser Treffen gewählt hatte oder ob es lediglich Zufall war. Gegen die These Zufall sprach, dass Geraldine sich stets an solche Termine zu erinnern pflegte. Andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, was sie damit bezwecken wollte. Sie konnte nicht zwingend davon ausgehen, dass ich mich im Zweifelsfalle auch an dieses Datum erinnern würde. Die meisten Männer erinnern sich normalerweise nie ein solches Datum. Einige vergessen, oder der Wahrheit wohl wesentlich näher kommend, verdrängen sogar den Hochzeitstag. Da ich mich nicht weiter mit der Frage beschäftigen wollte, entschied ich, den Abend auf mich zukommen zu lassen.

 Kurz vor 21 Uhr klingelte es an meinem Tor. Ohne auf der Videogegensprechanlage nachzusehen, drückte ich auf den Öffner. Einige Augenblicke später stand Geraldine vor meiner Haustüre. Mit ihrem charmantesten Lächeln auf den Lippen begrüßte sie mich so freudig, als wäre in letzter Zeit nichts zwischen uns vorgefallen. Statt der üblichen Flasche Wein, hatte sie an diesem Abend eine Flasche Prosecco mitgebracht, die sie auffällig hoch in ihrer linken Hand hielt.
„Lange nicht gesehen, du Verweigerer.“
Trotz ihres Lächelns war ein unterschwellig vorwurfsvoller Ton nicht zu überhören. Ohne diese Bemerkung zu kommentieren erwiderte ich:
„Schön dich zu sehen, komm doch bitte herein.“
Während ich die Türe hinter ihr schloss, stieg mir ein Hauch ihres Parfüms in die Nase. Sie trug genau jenes Parfüm, das sie vor 21 Jahren an diesem Tag auch getragen hatte. Ein Duft, den ich niemals vergessen werde. Das konnte kein Zufall sein. Ich hatte eine grobe Vorstellung gewonnen, wo der Abend, nach ihrer Vorstellung hinführen konnte, ohne mir allerdings darüber schlüssig zu sein, ob auch ich das wollte. Die Freundschaft zwischen uns bedeutete mir sehr viel, genau wie Geraldine mir sehr viel bedeutete. Aber der erneute Versuch einer Beziehung mit ihr, mit all seinen Schwierigkeiten? Ich war mir in diesem Augenblick unsicherer als je zuvor.

   Ich holte zwei Sektgläser und einen Kühler aus der Küche und wir nahmen am Esstisch Platz. Während ich die Flasche öffnete und die Gläser eingoss, berichtete Geraldine, dass ihr Bekannter mit Hilfe von ConInt tatsächlich etwas Interessantes gefunden hatte und sie selbst zwischenzeitlich viele der E-Mails gelesen hatte.
„Du hast doch alle E-Mails der beiden der letzten 2 Jahre gelesen und dabei ist dir ist nichts aufgefallen?“, erkundigte sich Geraldine beinahe vorwurfsvoll.
„Ja, habe ich und mir ist einiges aufgefallen. Er schrieb ihr oft, wie müde er war, dass er Kopfschmerzen hatte. Oder das mehrfache Umleiten seiner E-Mails Ende Februar. Seine versteckten Anspielungen und Hinweise, das tagelange Schweigen. Ihre häufig kühl wirkenden, fast einsilbigen E-Mails, ihre Standardtexte am Wochenende. Die seltsamen Uhrzeiten zu denen sie ein paar ihrer E-Mails abgeschickt hatte und so weiter. Alles mehr als ungewöhnlich. Besonders in einer Beziehung.“
„Nein, das meine ich nicht“, entgegnete Geraldine ruhig.
„Ich spreche von zwei bestimmten E-Mails. Durch ConInt fiel auf, dass sie inhaltlich nahezu übereinstimmten, aber fast genau ein Jahr auseinander lagen. Sie benutzte beide Male als sie die Beziehung beendete, letztes Jahr, wie dieses Jahr, beinahe die gleichen Formulierungen. Normalerweise sollten sie sich in ihrem Inhalt unterscheiden.“
Geraldine trank einen Schluck ihres Prosecco und griff anschließend nach meinem Zigarettenetui, das in der Mitte des Tisches lag.
„Darf ich? Ich hoffe es sind diesmal wieder Luckies?“
Ich nickte zustimmend und sah Geraldine, wartend darauf, dass sie ihre Ausführung fortsetzte, gebannt an. Sie zündete sich eine Zigarette an, zog daran und legte sie im Aschenbecher ab.
„Trennt man sich zum zweiten Mal aus demselben Grund, ist die zweite Begründung üblicherweise weniger freundlich.“
„Ist das so? Und was schließt du daraus?“, fiel ich Geraldine sofort ins Wort.
„Lass mich doch bitte ausreden“, setzte sie ungewöhnlich gelassen ihre Ausführung fort. „Mir ließen diese beiden E-Mails keine Ruhe. Irgendetwas an ihnen störte mich und ich wusste nicht was. Als ich abends zuhause auf meinem geliebten Sofa saß und nochmal darüber nachdachte, fiel es mir auf. Es war das Wort Oktober, dass mich die ganze Zeit gestört hatte. Mir war das vor ein paar Wochen, als ich die neuere der beiden E-Mails bei dir zum ersten Mal gelesen hatte auch entgangen.“
Geraldine hatte mich neugierig gemacht. Sollte ich in diesem schier undurchdringlichen Chaos tatsächlich etwas übersehen haben?
„Was störte dich an dem Wort Oktober?“, unterbrach ich sie. Geraldine verdrehte ihre Augen, wie nur sie es konnte.
„Oktober“, sagte sie und wiederholte dieses Wort gleich darauf noch einmal. Ich wusste nicht, was sie mir damit sagen wollte.
„Pass auf“, fuhr sie fort. „Im März schickte sie ihm doch eines Abends dieses Lied, mit der Folge, dass sich die beiden an diesem Abend viele E-Mails schrieben und sie am Ende schrieb, dass sie den Gute Nacht Kuss heute lieber live bekommen hätte. Erinnerst du dich?“
Natürlich erinnerte ich mich an dieses kitschige Lied und besonders an Geraldines eigenartige Auslegung davon. Genauso, wie an diese E-Mails.
„Anderthalb Monat später schrieb sie, dass sie mit der Beziehung bereits im Oktober abgeschlossen hatte. Das ist ein Widerspruch. Ein ziemlich eklatanter Widerspruch. Aber sie hatte den Oktober erwähnt. Also lass ich ihre E-Mails vom Oktober, in der Hoffnung einen Anhaltspunkt zu finden, der ihre Aussage stützte. Aber ich fand keinen. Dafür etwas, dass ihrer Darstellung wirklich komplett widersprach. Ende Oktober, an seinem Geburtstag hatte sie ihm einen Link zu einem Lied geschickt. „L’amour existe encore“ heißt es und bedeutet übersetzt etwa die Liebe ist noch da. Weil es französisch ist, hast du es natürlich nicht verstanden und so, wie ich dich kenne, warst du auch zu faul, nach einer Übersetzung zu suchen. Wahrscheinlich liege ich nicht falsch damit, dass du es sowieso als für den gesamten Verlauf nicht relevant aussortiert hast. Aber es ist überaus wichtig, will man versuchen zu verstehen, was passiert ist.“
Ich erinnerte mich dunkel an dieses Lied und auch daran, dass ich keine Lust hatte, mich mit derlei Unsinn zu beschäftigen.
„Wie du weißt, spreche ich fließend Französisch und ich habe mir das Lied angehört. Es ist ein wirklich zauberhaftes Liebeslied, das sie für ihn ausgesucht hatte. Gleichzeitig ist diese E-Mail, oder das Lied, ganz wie du willst, ein weiterer Beweis dafür, dass sie, vorsichtig gesagt, während der Trennung nicht die Wahrheit gesagt hat. Übrigens, im Jahr davor war das, wenn auch ohne Links auf Musikvideos, nicht grundlegend anders. Sie widersprach sich eindeutig.“

   Zufrieden lehnte sich Geraldine zurück, während ich, über das, was sie gesagt hatte, nachdachte. Ich ärgerte mich darüber, dass mir das entgangen war und wollte Geraldine keinesfalls Recht geben.
„Das sind nichts weiter, als reine, nicht belegbare Spekulationen von dir und was soll das bitte beweisen? Außer der Tatsache, dass Frauen sich nie über ihre Gefühle im Klaren sind. Sie ständig schwanken, wie ein Schiff bei schwerem Seegang. Oder dass sie eine pathologische Lügnerin ist, die sich im Netz ihrer eigenen Lügen verheddert hat!“
„Spekulationen sind deine Behauptungen, sie hätte ihn betrogen! Du hast nichts weiter, als einen Haufen Indizien, die zugegeben in diese Richtung deuten. Aber du hast nicht den Hauch eines Beweises!“, entgegnete Geraldine, meinen letzten Satz ignorierend mit leichter Zornesröte im Gesicht. „Dagegen sind ihre E-Mails vom Oktober und März ein nicht widerlegbarer Beweis, dass sie sich ihn immer geliebt hat und sich nur widerwillig von ihm trennte!“
Geraldine goss sich Prosecco nach, trank einen Schluck und wir schwiegen uns eine Weile an. Da war sie wieder, diese uns Männern unbegreifliche Frauenlogik. Sie sagen das eine und meinen das andere. Während bei einem Mann Nein auch Nein bedeutet, kann es bei einer Frau von Nein, über vielleicht, bis hin zu Ja alles bedeuten und mit Ja und vielleicht verhält es sich genauso. Warum sind Frauen nicht in der Lage für uns Männer klare und unmissverständliche Aussagen zu treffen, sondern lassen uns stattdessen in interpretativen Aussagen nach dem suchen, was sie eigentlich sagen wollen und machen uns dann Vorwürfe, oder ziehen sich komplett zurück, wenn wir sie falsch verstehen. Oder, fast noch schlimmer, erwarten Antworten von uns auf Fragen, die sie gar nicht gestellt haben.
„Wenn du dich wieder beruhigt hast, hör mir bitte zu.“
Geraldine schaute mich an und schwieg.
„Das eine schließt doch das andere nicht aus. Vielleicht war es so, dass sie schon vor der ersten Trennung wieder etwas mit ihrem Exfreund hatte, was der Mann damals überhaupt nicht bemerkte, sie dann, warum auch immer, wieder zu dem Mann zurückkehrte, um Ende sich doch für ihren Ex zu entscheiden.“
„Das ist ausgemachter Blödsinn!“, fuhr mich Geraldine an.
„Ach ja, warum soll das so sein?“ bohrte ich ungehalten nach.
„Weil es gar nicht möglich war!“, polterte Geraldine. „Ihr Exfreund war zu dieser Zeit gar nicht in der Stadt, geschweige denn hätte er die Möglichkeit gehabt, sie zu sehen. Ich habe das überprüft. Glaub mir, das ist absolut gesichert!“
Geraldine hatte ihre Hausaufgaben gemacht und mir fiel auf Anhieb nichts ein, das geeignet gewesen wäre, ihre Aussage auch nur im Ansatz zu widerlegen.
„Gut, dann war es eben nicht ihr Ex und dass er die ganze Zeit über immer wieder auftauchte war eben nur ein dummer Zufall. Dann ist es eben ein Kollege, jemand den sie von der Arbeit kannte, oder sonst irgendjemand. Vielleicht hat sie ihn bei einem Hundespaziergang kennengelernt? Oder auf irgendeiner Party? Das ist doch ziemlich wahrscheinlich.“
Ich hoffte mit dieser These wieder etwas Ruhe in unsere Unterhaltung zu bringen.
„Nein“, wandte Geraldine energisch ein. „Sicher auch kein Kollege. Ich habe mir alle angeschaut. Die sind entweder verheiratet, zu alt, oder bestimmt nicht ihr Typ.“
„Seit wann sind verheiratete Männer für euch Frauen ein Hindernis?“
Bevor ich den Mund wieder geschlossen hatte wurde mir klar, das ohnehin schon dünne Eis unter mir war jetzt gebrochen.
„Typisch!“, harschte Geraldine mich an. „Bei dir sind immer die Frauen die Schuldigen, die Betrüger und Lügner! Niemals der Männer! Du hast sie als Schuldige ausgemacht, verurteilt und dabei bleibt es. Vollkommen egal, dass alle Beweise dagegen sprechen. Zu deiner Kenntnis, ich habe mich auch mit meiner Mutter, meiner Schwester und zwei meiner besten Freundinnen darüber unterhalten und sie sind alle meiner Meinung.“
Oh Gott, dachte ich. Frauen fragen Frauen um Rat, schlimm genug. Aber dann ausgerechnet noch ihre Mutter und ihre Schwester zu fragen. Was sollte dabei anderes herauskommen, als dass sie Geraldines Ansichten bestätigten. Ohne jemand in irgendeiner Form nahe treten zu wollen, aber Geraldine hätte genauso gut Joe McCarthy nach seiner Meinung über Kommunisten fragen können. Seine Antwort wäre ebenfalls vorhersehbar gewesen. Ich ersparte uns beiden, darauf einzugehen und bemühte mich stattdessen unser Gespräch mit einer Frage wieder auf eine konstruktivere Linie zu bringen.
„Sie schrieb in einer ihre letzten E-Mails, dass er sie diesmal in Ruhe lassen soll. Ich weiß, dass sich Frauen gerne dieser Floskel bedienen um sich um Wahrheiten mit der Begründung „ich will ihm nicht weh tun“ herumdrücken, aber bedeutet das nicht im Klartext, du brauchst dich nicht mehr zu bemühen, ich habe jemand anderen?“
„Ich möchte nur wissen, warum du so auf diesem Thema herumreitest?“, erwiderte Geraldine gereizt.
„Im Gegensatz zum Jahr davor, in dem der Mann keine Trennung wollte und wie du sicher nicht auch noch bestreiten wirst, er alles tat um sie zurückzugewinnen, schrieb er ihr in diesem Jahr E-Mails, in denen er sie beschuldigte an dieser Situation schuld zu sein. Er wollte sie wütend machen. So wütend, dass sie den Kontakt abbrach und nicht wie im Vorjahr aufrecht erhielt. Weil er ihr nicht sagen wollte, worum es wirklich ging, prangerte er ihre angeblichen Verfehlungen als Grund an. Als sie ihm dann fast schon entschuldigend schrieb, es sind zu viele Missverständnisse für eine Fortsetzung der Beziehung, am Ende aber immerhin eine Freundschaft übrigbleiben würde, weil sie ihn wenigstens als Freund nicht verlieren wollte.“
Geraldine hielt kurz inne.
„Freundschaft, der bittere Trostpreis, wie so oft. Jedenfalls erkannte dein Held daraufhin, dass sein Plan nicht richtig funktioniert hatte. Er schickte ihr diese „ich will keinen Kontakt mehr zu dir“ E-Mail samstagabends kurz vor Mitternacht. Der perfekt gewählte Zeitpunkt. So etwas ist hinterhältig und berechnend. Sie sollte diese Botschaft mit ins Bett nehmen. Hast du schon einen Gedanken daran verschwendet, wie sie sich in dieser Nacht gefühlt haben muss? Nein, natürlich nicht. Sie ist in deinen Augen nur eine weitere Frau, die ihren Freund belügt und betrügt und eine solche E-Mail mehr als verdient hat! Bist du schon einmal auf den Gedanken gekommen, dass sie möglicherweise dachte, er hat aufgrund seines offenkundigen Desinteresses an ihr eine andere? Nein, sicher nicht. Das passt ja nicht in dein Weltbild! Nur für sie war das sicher eine wesentlich plausiblere Vermutung, als ihr Freund könnte krank sein.“
In diesem Augenblick war ich froh, dass ich Geraldine bislang nichts von dieser unbekannten Frau erzählt hatte. Das wäre nur zusätzlich Wasser auf ihre Mühlen gewesen wäre. Ich fragte mich, was heute Abend mit Geraldine los war. So offen auf Konfrontationskurs zu gehen, war ich von ihr nicht gewohnt. Inhaltlich waren wir wieder am selben Punkt angelangt, wie schon vor Wochen und der Verlauf unseres Gespräches brachte uns immer weiter gegeneinander auf. Vorläufig war ich nicht bereit nachzugeben und Geraldine zuzugestehen, dass sie möglicherweise Recht haben konnte und stichelte stattdessen weiter.
„Wenn ihr der Mann doch so wichtig war, wie du behauptest, sie wenigstens die Freundschaft erhalten wollte, warum hat sie dann auf seine letzte E-Mail nicht geantwortet? Nichts unternommen um die ihr ach so wichtige Freundschaft zu retten? Soll ich dir sagen warum? Weil ihr nicht einmal an einer Freundschaft zu ihm etwas lag. Im Grunde war er ihr doch gleichgültig! Eine nette Affäre zwischen durch, mehr nicht. Sie lebt nach dem Motto: Nach mir die Sintflut“
Geraldine schaute mich entsetzt an.
„Du verstehst wirklich überhaupt nichts, mein Liebling. Aus dem gleichen Grund, warum sie auf seinen Brief nicht reagiert hat. Wenn man jemanden wirklich und aufrichtig liebt, respektiert man die Entscheidungen des anderen. Ob sie einem gefallen oder nicht. Aber so etwas würde dir nie in den Sinn kommen. Bei dir gibt es immer nur eine richtige Meinung und zwar deine. Nicht wahr, Liebling? Nach allem was ich über sie erfahren habe, ist es aber auch möglich, dass sie einfach nur resigniert hat, keine Kraft mehr hatte weiter um ihre Beziehung zu kämpfen. Ich glaube du hast eine verdrehte Ansicht wer hier Opfer und wer Täter ist.“
Ich spürte, wie diese Thema zunehmend zu einer Belastung für unser Verhältnis wurde, die ich keinesfalls hinnehmen wollte. Um Geraldine wieder zu beruhigen und ihr gleichzeitig zu zeigen, wie wichtig mir ihre Meinung war, wollte ich von ihr wissen, wie sie an der Stelle der Freundin des Mannes reagiert hätte. „Schwer zu sagen“, antwortete sie, nachdem sie kurz überlegt hatte. „Ich weiß es nicht. Möglicherweise hätte ich schon viel früher in diesem Jahr das Gespräch mit ihm gesucht. Aller spätestens direkt nach seinem seltsamen Benehmen auf dieses Lied im März. Schon um ein Zeichen zu setzen: So nicht! Hör endlich auf mich zu ignorieren. Vielleicht hätte ich ihm ein sogar Ultimatum gestellt? Aber von außen sagt sich das immer leicht. Wer weiß, höchstwahrscheinlich würde ich doch genauso reagieren wie sie und das endgültige Ende notgedrungen akzeptieren.“
Würdest du ganz sicher nicht, dachte ich mit innerem Grinsen. Tief in deinem Herzen bist du vermutlich eine ausgesprochene Romantikerin, die sich nach Liebe mit allem Drumherum sehnt. Nur zugeben würdest du das nie und im Gegensatz zu ihr, würdest du ein solches Ende nie akzeptieren. Solltest du in deinem Leben wirklich einmal lieben, würdest du alles dafür tun, dein Glück zu erhalten. Um deine Liebe kämpfen, wie die gerne zitierte Löwin. Fast jede Kröte schlucken, die du sonst, vor allem in deinen Zwischenbeziehungen, lautstark zurückgehen lässt.
Geraldine blickte auf ihre Uhr.
„Es ist spät geworden. Du bist sicher müde und wir sollten ins Bett gehen? Ich denke, ich sollte jetzt nach Hause gehen. Oder was meinst du?“
Es war kurz erst vor 23 Uhr. Eigentlich nicht die Zeit, zu der ich schlafen ging und auch nicht die Zeit, zu der Geraldine üblicherweise nach Hause ging. Bestimmt war Geraldine von einem langen, anstrengenden Arbeitstag müde, was sie mit Sicherheit nicht zugeben wollte und deshalb ihre Müdigkeit mir zuschob.
„Ja, ich bin müde“, bestätigte ich und versuchte dabei schläfrig zu klingen. „Ich denke es ist am besten, du gehst jetzt nach Hause, damit ich in mein Bett komme. Ich brauche nämlich auch meinen Schönheitsschlaf“, fügte ich auf ihre Bemerkung von neulich anspielend, scherzend an.
Geraldine schaute mich kurz an, leerte ihr noch knapp halbvolles Glas mit einem Schluck und stand auf. Als ich sie zur Türe gebracht hatte, wollte ich sie, wie üblich zum Abschied, in den Arm nehmen. Anders als sonst stand Geraldine diesmal dabei regungslos steif, wie ein Gardesoldat. Sie gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, drehte sich und ging wortlos aus der Tür. Was war das denn für ein Abgang dachte ich, während ich die Türe hinter ihr schloss. Kopfschüttelnd über die weibliche Unberechenbarkeit ging ich zu Bett, mich weigernd auch nur eine Sekunde über den Verlauf des heutigen Abends nachdenken zu wollen.

   Während meines Frühstücks erinnerte ich mich wieder an die eigentliche Kernfrage des gestrigen Abends, die ich in der Hitze unserer Diskussion aus den Augen verloren hatte. Wollte Geraldine womöglich doch über Nacht bleiben? Waren die Signale, die ich zu Beginn des Abends durchaus gesehen hatte, wirklich so eindeutig, wie ich glaubte? Ich verwarf diese mir im Moment seltsam unangenehmen Fragen sofort wieder und beschäftigte mich lieber damit, warum Geraldine, erneut sämtliche Tatsachen ignorierend, immer stärker Partei für die Freundin des Mannes ergriffen hatte. Aber auch auf diese Frage konnte ich keine Antwort finden. Später am Vormittag, als ich mir Notizen über den gestrigen Abend machte, überkam mich erneut die Frage, ob Geraldine nicht doch bleiben wollte. Aber warum sollte sie das wollen? Unsere Beziehungsversuche hatten uns, außer ein paar wirklich schönen Nächten, im Großen und Ganzen nur verzichtbare Erfahrungen eingebracht und auf ein neues Experiment mit ungewissem Ausgang wollte ich mich nicht einlassen. Mit Maria zum Beispiel war es vergleichsweise einfach gewesen und doch wurde mir es am Ende zu viel. Geraldine ist aber nicht Maria. Sie ist viel komplizierter. Andererseits ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass die Nacht mit Geraldine zu verbringen doch sehr schön gewesen wäre. Nur neben ihr zu schlafen, allein dieser Gedanke hatte etwas Behagliches. Mehr wäre gar nicht notwendig gewesen. Erschrocken über die Gedanken, die mir eben durch den Kopf gegangen waren versuchte ich mich zu sammeln. Das Beste würde sein, ich versuchte nur objektive, messbare Kriterien heranzuziehen. Wie oft dachte ich in den letzten Wochen am Tag an Geraldine? Abseits meiner Gedanken an das Mädchen in letzten Wochen und der kurzen Episode mit Emma, war diese Antwort bereits so eindeutig, dass keine weiteren Kriterien mehr notwendig waren. Es war nicht einmal, oder zweimal am Tag, es war deutlich mehr und ich wusste nur zu genau, was das zu bedeuten hatte. Jahrelang war Geraldine einfach nur da. Irgendwie, auf ihre besondere Art, ein Teil meines Lebens. Unsere gemeinsamen Nächte und die sich daran anschließenden Beziehungsversuche waren außer den Tagen im Sommer und Herbst 1992 meist mehr den einfachen Trieben geschuldet, als dem Anspruch auf große Gefühle. Jedenfalls was mich betraf. Davon war ich bislang immer überzeugt. Natürlich war mir bewusst, dass ich mich vor vielen Jahren einmal in Geraldine verliebt hatte. Aber diese Schmetterlinge waren mit der Zeit einem anderen Gefühl gewichen, das ich nie richtig zu deuten in der Lage war. Nun dämmerte es mir langsam. Ich war nicht mehr in Geraldine verliebt. Ich liebte ausgerechnet die Frau, mit der es mir unmöglich ist eine Beziehung zu führen. Das war ganz und gar nicht der Start in den Tag, den ich mir vorgestellt hatte. Den Rest des Tages verbrachte ich mit allen möglichen Dingen, um mich von diesem Gedanken abzulenken. Einkaufen, Gartenarbeit, Autos waschen, putzen und am Ende mit Trinken. Aber diese Erkenntnis ließ sich nicht mehr verdrängen. Sie blieb.

   Der Sonntag begann für mich ungewöhnlich früh. Ich hatte die ganze Nacht unruhig und schlecht geschlafen. Immer wieder war ich aufgewacht, zwischen verschiedenen schlechten Träumen, in denen ich Geraldine genauso verlor, wie das Mädchen von damals. Die Geschichte des Mannes hatte mich wie ein Sog, in meine eigene Geschichte gezogen. Als kurz nach 6 Uhr morgens aufstand, hatte ich mich entschieden einen neuen, vielleicht letzten, Anlauf zu wagen, mit Geraldine über uns zu sprechen. Normalerweise bin ich ein Mensch der lieber telefoniert, als E-Mails schreibt, weil ein Gespräch, im Gegensatz zu einer E-Mail immer den Vorteil bietet, Missverständnisse, falls sie entstehen, sofort auszuräumen. Aber in diesem Fall zog ich eine E-Mail vor. Angst oder besser Feigheit gehörte nie zu meinen Charaktereigenschaften, aber in diesem Fall war eine E-Mail die pure Feigheit vor ihrer direkten Antwort am Telefon. Ich schrieb Geraldine, ob wir uns am Freitag zum Abendessen treffen könnten. Ich müsste bezüglich meines Buchs noch dringend etwas mit ihr besprechen, bei dem ich allergrößten Wert auf ihre Meinung lege. Ein billiger Vorwand, dessen war ich mir bewusst. Aber eine andere, bessere Lösung hatte ich nicht. Den ganzen Tag wartete ich unruhig auf eine Antwort. Ich fühlte mich ein wenig wie damals, als ich mein erstes Buch zu einem Verlag geschickt hatte. Geraldines Antwort ließ ungewöhnlich lange auf sich warten. Erst am späten Mittwochnachmittag schrieb sie mir, dass sie nächsten Freitagabend Zeit hätte und wir uns treffen könnten.

   Den ganzen Donnerstag und den halben Freitag dachte ich, während ich versuchte weiter an meinem Buch zu arbeiten, darüber nach, wie ich dieses Gespräch mit Geraldine beginnen wollte. Ich machte verschiedene Pläne, um sie sofort wieder zu verwerfen. Nichts erschien mir passend, oder auch nur im Entferntesten sinnvoll. Welches Bild Geraldine von mir haben musste, fragte ich mich immer wieder. Sie kannte mich lange und gut genug. Fast alle meine Macken und Eigenheiten. Sie hatte alle meine Affären und Beziehungen, einschließlich die mit ihr, mitgemacht. Sie wusste, dass ich sehr verschlossen sein konnte und wenn mir nicht danach war, ich einfach nicht redete. Das ich Probleme am liebsten mit mir selbst ausmachte und erst darüber sie sprach, wenn ich eine Lösung dafür gefunden hatte. Falls ich das überhaupt tat. Sie wusste auch, wie wichtig es mir war, dass ich meine Auszeiten brauchte. Zeit nur für mich alleine, ohne jemand Rechenschaft darüber ablegen zu müssen. Dass ich nicht mehr gut, ehrlich gesagt mittlerweile ausgesprochen schlecht darin war, einem anderen Menschen zu zeigen, dass er mir wichtig war und ganz speziell bei Geraldine war mir das überhaupt nie gelungen. Nur von dem Mädchen wusste sie nichts. Vielleicht war das der geeignete Auftakt für dieses Gespräch. Eine Tatsache, die Geraldine zeigen würde, dass ich einmal anders war, bevor mein Leben mich zu dem Menschen gemacht hatte, der ich heute war. Das ich durchaus wusste, was Liebe war und sie mir vor Geraldine schon einmal begegnet war. Sie längst nicht alles über mich wusste.

  Wie gewohnt stand Geraldine, diesmal ohne die fast schon obligatorische Flasche ihres Lieblingsweines, pünktlich zur verabredeten Zeit vor meiner Türe. Sie wirkte kühl und reserviert. Fast unnahbar. Wir gingen direkt auf die Terrasse und setzten uns. Ohne lange Umschweife kam ich direkt, wie ich es geplant hatte auf das zu sprechen was ich mir vorgenommen hatte zu sagen.
„Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich dir etwas erzählen muss.“
Geraldine betrachtete mich, ohne ein Wort zu sagen an.
„Vor vielen Jahren, hatte ich ein Mädchen kennengelernt. Es war nur eine sehr kurze Beziehung. 3 Wochen später ging ich zum Militär. Anstatt die Beziehung mit Anstand zu beenden, oder, was noch viel besser gewesen wäre, mit ihr zu reden, bin ich einfach aus ihrem Leben verschwunden. Ich wollte meine Welt aus der ihren heraushalten. Sie damit schützen, weil ich mir sicher war, es wäre eine zu große Belastung für sie geworden. Ich hatte mich damals damit beruhigt, dass sich einer meiner Freunde um sie kümmerte, nach dem ich fort war. Es klingt nach einer kurzen, irrelevanten Episode. Das war es aber nicht. Die Erinnerung an sie ist lange nicht verblast, aber den Mut nach ihr zu suchen und mit ihr zu reden, hatte ich nie. Sicher fragst du dich, warum erzähle ich dir das gerade jetzt, gerade heute? Der Grund ist mein neues Buch. Die Geschichte der beiden erinnert mich in vielen Punkten an mein Leben. An das, was ich falsch gemacht habe. Der Mann wollte, wie ich damals, alles richtig machen, indem er seine Erkrankung vor ihr verheimlichte. Aus welchen Motiven er das am Ende tat ist dabei unerheblich. Seine Geschichte machte mir Mut, mich mit meinen Fehlern auseinanderzusetzen. Heute weiß ich, dass jedenfalls soweit es mich anbelangt, diese Denkweise falsch war.“
An diesem Punkt unterbrach mich Geraldine.
„Zuerst für das Protokoll, du hast einen Fehler gemacht und gibst ihn auch noch zu? Ich dachte immer, ein Mann wie du macht keine Fehler? Zweitens, du willst mir hier sagen, dass ausgerechnet du, der absolut keine Ahnung hat was Liebe bedeutet, sich wirklich einmal verliebt hat. Entschuldige bitte, aber das ist zu viel auf einmal.“
In Geraldines Gesicht waren die Anzeichen eines Triumphs, wenngleich mit einem bittersüßen Beigeschmack zu erkennen. Sie griff in ihre Handtasche, holte eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete sich eine an.
„Ich dachte mir so etwas seit unserem vorletzten Gespräch beinahe. Es geht nicht nur um dieses verflixte Buch, es geht um dich. Du hast den Mann immer so in Schutz genommen, dass ich das Gefühl hatte, jede Kritik an ihm trifft dich persönlich. Mir wird jetzt nicht nur klar, warum du unbedingt eine Art Happyend in dieser Geschichte haben willst, sondern auch warum in deinen Augen ausschließlich sie alles falsch macht. Und sollte diese Geschichte kein Happyend haben, schreibst du die Realität um. Einfach so. Für dich. Weil du es für dich so brauchst. Und die Gefühle seiner Freundin sind dir im Grunde egal, wie dir Gefühle von Frauen immer gleichgültig waren. Deine Geschichte bestätigt das nur.“
Ich unterbrach Geraldine.
„Nein, das werde ich nicht tun. Ich kann dir weder sagen, wie die Geschichte der beiden ausgeht, niemand kann das, noch sind mir die Gefühle seiner ehemaligen Freundin egal. Aber ich kann dir sagen, wie meine Geschichte ausging. Das Mädchen ist tot. Es gibt nichts mehr zu sagen, klarzustellen oder zu tun. Es ist vorbei.“
Geraldine sah mich betroffen an.
„Seit wann weißt du das?“
„Etwa seit 5 Wochen. Am Tag, nachdem ich davon erfahren hatte, bin ich zu ihrem Grab gefahren. Sicher wundert dich das. Du weißt, wie ungerne ich auf Friedhöfe gehe. Das Eigentümliche daran war die Tatsache, dass ich ihr zum ersten Mal sagen konnte, was ich für sie empfunden hatte und mich für mein Verhalten entschuldigte. Vielleicht konnte ich es nur deshalb, weil ich sicher sein konnte, dass sie nicht antworten konnte. Sie nichts mehr von mir erwarten würde. Es ist ein trauriges Gefühl gewesen. Aber ich habe dadurch etwas begriffen, dass ich lange nicht verstanden hatte und ich denke du wirst mir diesmal Recht geben.“

   Der Ausdruck in Geraldines Gesicht hatte sich merklich verändert. Sie wirkte nachdenklich, fast abwesend. Sie glaubte mich zu kennen, wirklich zu kennen. In diesem Moment aber musste sie erkennen, dass auch sie mich nicht wirklich kannte.
„Das tut mir sehr leid für dich. Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst“, sagte sie leise während ihr Blick Kontakt vermeidend, durch den Garten schweifte. Ich ließ Geraldine einen Augenblick Zeit, bevor ich zum wichtigeren Teil dessen, was ich ihr sagen wollte überging.
„Das ist aber nicht alles, was ich dir zu sagen habe. Wir kennen uns jetzt 21 Jahre, haben die eine oder andere gemeinsame Nacht, mit mehr oder minder großen Dramen im Anschluss daran, hinter uns und waren, mit kleinen Unterbrechungen, fast immer Freunde. Es gibt keinen Menschen der mir so nahe steht, der mich so gut kennt wie du. Wir mögen dieselben Restaurants, dieselben Filme, verstehen einander oft ohne ein Wort zusagen. Wir haben gemeinsam vieles erlebt. Schönes und leider auch weniger schönes. Wir schätzen die gleichen Dinge und haben fast die gleichen Abneigungen. Kurz gesagt, bei den vielen Gemeinsamkeiten wärst du zu einem großen Prozentsatz die passende Partnerin und wir sind beide alt genug um zu wissen, dass es 100 Prozent niemals geben wird. Kein Glück ist vollkommen. Die Geschichte des Mannes hat mir aber nicht nur gezeigt, welchen Fehler ich damals bei dem Mädchen gemacht hatte, sondern auch welchen ich bei uns mache. Du bist mir weitaus mehr als sehr wichtig und das schon eine sehr lange Zeit. Ich habe mich wohl nur immer geweigert das wahrhaben zu wollen. Ich möchte dich in meinem Leben haben und nicht nur als Freund. Du bist die einzige Frau, mit der ich im Frühling in Paris am Ufer der Seine sitzen, im Sommer durch die Gärten von Giverny spazieren gehen und im Herbst nach Schottland fahren möchte. Die einzige, mit der ich Urlaub im Haus meines Verlegers am Gardasee machen will und vieles mehr. Ich liebe die Art, wie du mit deinen Augen rollst, deinen kindlich verträumten Blick, den du manchmal haben kannst. Dein Lachen, dein verwuscheltes Haar in deinem Gesicht am Morgen, die Art, wie du dich bewegst. Deine Wärme und deine Herzlichkeit, die du leider fast immer hinter einer unnahbaren Fassade versteckst. Jede deiner Berührungen erzeugt in mir stets einen wohligen Schauer. Ich liebe, dass du es immer schaffst mit mir auf Augenhöhe zu diskutieren, eine stetige Herausforderung und manchmal ein großes Rätsel für mich bist und mich, wenn es notwendig ist, auf den Boden der Tatsachen zurückholst. Dass du ein stetiger Unruhegeist bist, der mich antreibt, mich aus meiner Komfortzone holt. Aber nicht nur das. Mit keiner anderen Frau in meinem Leben war Sex je so schön und erfüllend, wie mit dir. Es ist etwas Einzigartiges, Besonderes, das ich nicht in Worte fassen kann und am liebsten immer wieder erleben möchte.“
Ich machte eine kurze Pause, in der ich Geraldines Reaktion beobachtete. Sie saß regungslos ihren Kopf mit der rechten Hand stützend auf ihrem Stuhl. Als ich weiter sprach, schaute ich ihr direkt in die Augen.
„Aber du hast auch Eigenschaften, die mich immer abhielten, mir es unmöglich machen, eine Beziehung mit dir zu führen. Zum Beispiel die Tatsache, dass ich nie wusste, an welcher Stelle ich bei dir stehe. Bei dir kamen immer zuerst die Firma, deine Familie, deine Freunde, dein Leben, deine Motorräder und was dir sonst so noch wichtig ist. An welcher Stelle ich auf dieser Liste stand, wusste ich nie. Sicher, du hast mir auf deine eigentümliche Art oft versucht zu sagen, dass ich dir wichtig bin. Aber selten genug hast du mir dieses Gefühl auch vermittelt. Von Zeit zu Zeit hast du Bemerkungen über uns und unser Verhältnis gemacht, teils sogar sehr eindeutige. Aber jedes Mal wenn ich darauf eingegangen bin, hast du schnell wieder den Rückwärtsgang eingelegt. Das ging so weit, dass ich mir irgendwann nicht mehr sicher war, ob diese Andeutungen überhaupt für mich bestimmt waren, bis ich schließlich anfing anzunehmen, dass sie schlicht nur ein verbaler Unfall, oder die Macht einer mir unerklärlichen Gewohnheit waren. Oder deine Verschlossenheit. Mir wirfst du zu Recht vor oft verschlossen zu sein, du selbst bist aber keinen Deut besser. Du willst von mir immer alles wissen, wie ich mich fühle, was ich mache und so weiter. Frage ich dich, erzählst du außer von deiner Arbeit, deinen Motorrädern und hin und wieder von deiner Familie nichts über dich und wenn, dann verlierst du dich in sehr vagen Andeutungen. Sind wir verschiedener Meinung, oder haben Streit, ist es für dich in Ordnung, dir eine Auszeit zunehmen und zu schweigen. Mache ich das bekomme Vorwürfe von dir gemacht. Du misst mit zweierlei Maß was dich und mich angeht. Und dann dein zeitweise seltsames Benehmen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Abend, an dem du mich zum Essen bei dir eingeladen hattest. Du sagtest, aber nur zum Essen. Nach 90 Minuten schmeiße ich dich wieder raus, ich will früh ins Bett. Nur so funktioniert das alles nicht und ich hätte mit dir darüber reden müssen. Möglicherweise wartete ich immer auf den besten Zeitpunkt für ein Gespräch. Der kam aber nie. Vielleicht hatte ich auch Angst vor deiner Antwort, weil es nicht die Antwort gewesen wäre, die ich mir gewünscht hätte, oder ich war einfach noch nicht bereit dazu. Keine Ahnung. Wahrscheinlich war es von allem etwas. Was mir noch viel weniger gefällt, ist, wie du mit deiner Gesundheit umgehst. Kaffee, Wein und Zigaretten sind keine Grundnahrungsmittel, bei dir aber schon. Auch um dein PTBS kümmerst du dich nicht mehr. Du ignorierst alles, nimmst lieber irgendwelche Psychopharmaka, anstatt die Sache vernünftig aufzuarbeiten. Wann hast du die zum letzten Mal eine Nacht durchgeschlafen, ohne jede halbe Stunde mit Gedanken über die Firma aufzuwachen? Ich will nicht, dass dir etwas passiert und ich dich auch nur noch auf einem Friedhof besuchen kann. Denn dieser Friedhof neulich hat mir gezeigt, irgendwann ist es zu spät. Ob heute der richtige Tag ist, dir das zu sagen, weiß ich nicht, aber ich wollte bei dir nicht auch warten bis es zu spät ist.“
Einen Augenblick lag dieses Schweigen in der Luft, bei dem man eine Feder hätte fallen hören können. Bevor Geraldine mir antworten konnte sagte ich zu ihr:
„In einem Punkt hast du dich vorher geirrt. Ich habe nicht einmal geliebt, sondern zweimal und tue es noch. Nämlich dich! Und jetzt möchte ich, dass du gehst. Ohne Diskussion, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Einfach gehst und vielleicht irgendwann mal über dich nachdenkst!“
Geraldine schaute mich fassungslos an und erhob sich wortlos. Sie ging um den Tisch, vorbei an meinem Stuhl und verabschiedete sich mit den Worten:
„Das war es dann wohl“ von mir, ohne mich dabei anzusehen. Wenige Sekunde später hörte ich die Haustüre ins Schloss fallen.

   Ich ging an meine Bar, holte mir Glas des 18 Jahre alten Oban, den ich von Maria geschenkt bekommen hatte und setzte mich vor meinen Kamin. Obwohl ich nicht alles angesprochen hatte, was ich Geraldine hätte sagen sollen, fühlte ich mich erleichtert. Endlich waren viele Dinge ausgesprochen worden, die mich seit Jahren fortwährend unterbewusst beschäftigt hatten und alles an einem Abend. Mir war bewusst, dass ich das vornehmlich dem Mann zu verdanken hatte und ich fühlte mich in seiner Schuld. Er hatte, ohne es zu wissen, mir geholfen Ordnung und Klarheit in mein Leben zu bringen. Es gibt Menschen, die mich als dickköpfig beschreiben. Andere als schwierig, manche sogar als egoistisch. Ein Funken Wahrheit steckt sicher dahinter, aber eines war ich nie in meinem Leben, undankbar. Nur, wie sollte ich dem Mann danken? Ich konnte nicht zu ihm gehen und mit ihm sprechen. Die beste Art mich bei ihm zu bedanken, war mein Buch zu Ende zu schreiben, in der Hoffnung, seine Freundin würde es lesen, sich darin wiederfinden und verstehen, was passiert war. Keine große Hoffnung, aber immerhin eine Chance. Hollywood dreht aus dieser kleinen Chance jene Filme, bei denen die Zuschauer am Ende zwischen Bergen von Taschentücher in ihren Sesseln sitzen. Warum sollte das hier nicht auch gelingen?

   Den Unterschied zwischen einem dieser Filme und dem Leben lernte ich am nächsten Morgen kennen. In meinem Postfach war eine E-Mail von Geraldine. Geschrieben mitten in der Nacht. Gespannt öffnete ich die E-Mail. Aber der Inhalt war ein ganz anderer, als den, den ich erwartet, oder zumindest erhofft hatte.

„…Du bist einer der wunderbarsten und liebevollsten Menschen, den ich kenne und Du bedeutest mir sehr viel mehr, als Du denkst. Aber ich bin an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr weitergeht. Du ignorierst konsequent alles. Zum Beispiel Weihnachten. Ich wäre gerne über Nacht geblieben. Aber anstatt das zu bemerken, servierst Du mich höflich und charmant ab, mit der Begründung, ich müsste am nächsten Tag ausgeschlafen sein, wenn ich bei meiner Schwester zum Weihnachtsessen eingeladen bin. Dann mein Geburtstag. Anstatt zu fragen, ob wir uns sehen, schickst Du mir eine unpersönliche SMS. Überhaupt SMS. Meine werden von Dir wohl grundsätzlich nicht beantwortet. Oder Freitag letzter Woche. Ich kenne Dich viel zu gut um zu wissen, dass Du genau wusstest, warum ich ausgerechnet diesen Tag für unser Treffen gewählt hatte. Aber Du hast mich wieder einmal ablaufen lassen, mich und meine Wünsche ignoriert. Diese Liste kann ich noch beliebig fortsetzen.

Gestern hast Du allem die Krone aufgesetzt. Du erklärst mir, dass Du mich liebst, schränkst es aber sofort, mit fadenscheinigen Begründungen, wieder ein. Ohne mir eine Chance zu geben, darauf antworten zu können, wirfst Du mich dann mehr oder weniger raus.

Ich kann und will so nicht mehr weitermachen. Es ist keine Frage von Gefühlen, sondern von dem, was ich nicht mehr will. Alles aufzugeben, auch unsere Freundschaft, ist der einzige Weg, der mir bleibt. Sein bedeutet wahrgenommen zu werden. Ich existiere für Dich doch nur, wenn ich bei Dir bin, oder du mich aus irgendeinem Grund brauchst. Tatsächlich kennst Du mich nicht und die Mühe, mich kennenzulernen, hast Du dir nie gemacht“

Ich war sprachlos. Das konnte nicht Geraldines Ernst sein. Bestimmt war es wieder eine ihrer berüchtigten, impulsiven Kurzschlusshandlung, die sie bestimmt bald bereuen würde. In den vergangenen 21 Jahren hatte sie ab und zu überreagiert, wenn sie mit meinem Verhalten nicht einverstanden war. So weit wie diesmal war sie aber noch nie gegangen. Ich beschloss besser nicht auf diese E-Mail zu reagieren und mir keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Spätestens in einer, maximal in zwei Wochen würde sich alles wieder normalisiert haben. Das war bislang immer so gewesen.

   Drei weitere Wochen vergingen, in denen sich Geraldine nicht gemeldete und ganz langsam wurde mir klar, sie meinte es ernst. Seit wir uns kannten war das mit eine der längsten Kontaktpausen, die wir hatten. In der Vergangenheit hatte ich Geraldine schon öfter verärgert, aber jedes Mal hatte sie mir meine Fehler und da waren einige gröbere dabei, nach ein paar Tagen verziehen und wir sprachen wieder miteinander. Diesmal musste ich eine Grenze überschritten haben, über die es in ihren Augen kein Zurück mehr gab. Ich begann mich zu fragen, welche Grenze das gewesen sein musste. War es nur dieser letzte Abend? Oder doch die Summe all dessen, was sie mir geschrieben hatte? Rein rational betrachtet war kaum vorstellbar, dass es nur der letzte Abend war, der zu einer solchen Reaktion führte Meine Kernaussage lautete: Ich liebe dich. Der Rest war eine Feststellung von Tatsachen, nebst der Begründung, warum ich trotz meiner Gefühle, große Bedenken hatte. Ebenso wenig die anderen Vorwürfen, die sie mir machte. An Weihnachten war ich einfach nur besorgt um sie gewesen. Ihre Behauptung, ich hätte am 2. August genau gewusst was für ein Tag war und warum sie ausgerechnet an dem Abend zu mir kam, auch wenn es der Wahrheit entsprach, ist nicht beweisbar und somit nichts weiter als eine Hypothese. Aber emotional betrachtet sah alles anders aus. Jahrelang hatte ich in Geraldine überwiegend, von ein paar Momenten einmal abgesehen, die beste Freundin gesehen, die ein Mann sich wünschen konnte. Sehen heißt glauben, solange bis man feststellt, dass man blind war. Ihre Gefühle hatte ich nie gesehen. Langsam ging mir auf, wie blind ich gewesen sein muss, dass ich nicht bemerkt hatte, wie sehr ich sie verletzt hatte und das nicht nur an diesem Abend. In dieser Welt gibt es Menschen, die bereit sind für das, woran sie glauben zu kämpfen. Ich war nicht einmal bereit gewesen, wegen ein paar sicher lösbaren Problemen, mich dafür zu entscheiden, mein Leben mit Geraldine verbringen zu wollen. Vielleicht wollte ich ein bisschen wie der Mann in meinem Buch sein, auf den ich seit längerem insgeheim ein wenig neidisch war. Aber dafür bestand in meinem Leben überhaupt kein Anlass. Es war weder Herbst 1986, noch glich meine Situation auch nur im Entferntesten seiner. Vermutlich spielten, neben all den vermeintlich wichtigen Punkten, auch gekränkte Eitelkeit über den Verlauf ihres Geburtstags und die Art, wie Geraldine in den letzten Wochen immer stärker Partei für die Freundin des Mannes ergriffen hatte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Leben, so sagt man, sei das einzige Spiel, bei dem man wegen Nachtretens nicht vom Platz gestellt werden kann. Ich würde es anders formulieren. Wir zählen die Narben auf unseren Herzen, um zu sehen wer gewonnen hat. Was für ein merkwürdiges Spiel. Ich fragte mich, wie groß die Narbe wohl sein wird, die ich auf Geraldines Herzen hinterlassen habe und wer von uns am Ende gewonnen hatte. Eine Frage auf die ich keine Antwort fand, dafür auf eine andere. Wenn ich Geraldine mit der Feststellung, ich liebe dich, jetzt weißt du es, aber aus dem und dem Grund kann ich nicht mit dir Zusammensein und jetzt kannst du gehen, verletzt hatte, wie sehr hatte der Mann, sollte Geraldine mit ihrer Interpretation richtigliegen, dann seine Freundin verletzt? Geraldines Gefühle mir gegenüber waren mir in den letzten Tagen deutlich geworden. Ich musste mir eingestehen, dass ich zwar sehr viel von Whisky, Wein und Zigarren, von gutem Essen, Filmen und Musik verstand, aber offensichtlich, nicht allzu viel von Frauen und rein gar nichts von Beziehungen. Bislang hatte ich in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass es selten zu spät war, einen Fehler zu korrigieren, solange dieser Mensch noch lebte. Warum sollte das ausgerechnet bei Geraldine anders sein?

   Ein paar Tage später schaute ich mir abends gelangweilt ein Fußballspiel im Fernsehen an, als ich abermals anfing über Geraldine nachzudenken. Was hatte sie tatsächlich geschrieben und was glaubte ich gelesen zu haben? Ich begann von neuem mir ihre E-Mail durch den Kopf gehen zu lassen. Doch anders als zuvor, nicht streng wörtlich, sondern ihrem Sinn nach. Konnte es wirklich sein, dass ich Geraldine wirklich so wenig kannte? Ich in ihr nur das sah, was ich sehen wollte? Dass ich alle ihre Signale stets übersah, oder wenn ich sie bemerkte, dann missdeutete, weil ich sie missdeuten wollte? Entsprach es nicht viel eher den Tatsachen, dass ich Geraldine nicht in letzter Konsequenz in meiner mir selbst errichteten und bequemen Welt haben wollte, weil ich einiges und nicht zuletzt mich selbst hätte ändern müssen? Nicht nur solche Kleinigkeiten, dass ich in meinem Bad keine Gegenstände von einer Frau duldete. Nein, es ging um weitaus grundsätzlicheres. Um meine Auffassung von Partnerschaft. Ernsthafte Beziehungen waren lange nicht mehr meine Sache gewesen. Nicht nur die Leichtigkeit des unabhängigen Seins und der damit verbundenen Freiheit hatte ich zu schätzen gelernt. Es ging um mehr. Eine Partnerschaft verlangt in vielerlei Hinsicht Kompromisse, besonders das Zulassen von Nähe des Partners. Dieser Nähe hatte ich mich jahrelang in fast jeder Hinsicht entzogen. Nicht nur, dass ich bislang nicht bereit war auf meine Partnerin einzugehen, ich wollte auch niemand näher an mich heranlassen als zwingend notwendig. Aber das hatte sich grundlegend verändert. Ich wollte eine ernsthafte Beziehung mit Geraldine, mit ihr mein Leben teilen. Nur leider wusste ich nicht, wie ich es anfangen sollte. Betrachtete meine verunglückte Liebeserklärung, sofern man das überhaupt so nennen kann, war sie in Wahrheit ein Schritt nach vorne und gleichzeitig zehn zurück. Ich habe zwar zu Geraldine gesprochen, aber nicht mit ihr. Vermutlich fürchtete ich tief in mir, ihre Antwort könnte nicht die sein, die ich gerne gehabt hätte.. Ich wollte absolute Sicherheit, dass sie genauso empfindet, wie ich und nicht nur diffuse Signale. Ohne diese wollte ich diesen Schritt nicht wagen. Nun hatte ich diese Sicherheit, aber sie war nutzlos geworden.

   Tage gingen ins Land, in denen ich weiter nichts von Geraldine hörte. Offenbar verfügen Frauen doch über diesen sagenumwobenen Schalter, mit dessen Hilfe sie Gefühle ganz einfach ausschalten können, während wir Männer uns wochenlang damit beschäftigen, alles bis ins kleinste Detail aufarbeiten und analysieren. Eine Eigenschaft, die ich zuvor schon bei einigen Trennungen in meinem Freundeskreis beobachtet hatte. Ich arbeitete, hauptsächlich um mich abzulenken, mitunter bis tief in die Nacht weiter an meinem Buch und versuchte die Geschichte der beiden so objektiv wie möglich zu erzählen. Ohne Schuldzuweisungen oder persönliche Stellungnahmen, vor allem aber unter Berücksichtigung dessen, was Geraldine mir gesagt hatte. Obwohl mein Instinkt tief in mir weiterhin sagte, dass ich mit meiner Interpretation Recht behalten würde, vertraute ich in den strittigen Punkten auf Geraldines weibliche Intention. Die Abende, an denen ich nicht arbeitete, verbrachte ich hauptsächlich zu Hause. Dann und wann mit Freunden, meistens aber alleine. Auch andere Frauen interessierten mich nicht mehr. Nicht einmal Emma, die wirklich attraktive Referendarin von nebenan. Dem Beispiel des Mannes folgend, der seiner Freundin wunderschöne Briefe geschrieben hatte, beschloss ich Geraldine ebenfalls einen Brief zu schreiben. Ich verbrachte unzählige Stunden damit, die richtigen Worte zu finden. Worte, wie sie einst der Mann für seine Freundin gefunden hatte. Aber es gelang mir nicht. Ich musste feststellen, dass ich zwar ein überaus erfolgreicher Bücherschreiber, aber scheinbar kein Schriftsteller war. Nach mehreren erfolglosen Versuchen stellte ich die Arbeit an meinem Brief, in der Überzeugung, dass mittlerweile ohnehin alles falsch und nutzlos sein würde, was ich sagen oder tun konnte, enttäuscht und resigniert ein.