Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 8 – Tarnung ist Wahrheit

   Ein unerwarteter Besuch stand am Sonntagnachmittag vor meiner Türe, als ich gerade im Begriff war mein reichlich verspätetes Frühstück vorzubereiten. Es war noch nicht lange her, dass ich aufgestanden war. Den ganzen Vormittag hatte ich in meinem Bett zugebracht und abwechselnd über Geraldine oder Chris, Irina und Sandra nachgedacht. Es war diese Art des Nachdenkens, das weder einen Anfang noch ein Ende hatte und dementsprechend unproduktiv geblieben war. So gesehen war es mehr eine Gedankenreise. Ich ging zum Monitor der Videoüberwachungsanlage um nachzusehen, wer mich am frühen Sonntagnachmittag besuchen wollte. Zu meiner Überraschung war es Sandra. Als sie meine Auffahrt hinauflief bemerkte ich, dass sie eine kleine Kuchenschachtel in ihrer Hand hielt.
„Hallo Thom. Ich habe Kuchen mitgebracht“, begrüßte sie mich fröhlich. „Machst du uns Kaffee?“
Etwas irritiert stand ich in meiner Türe. Mit vielem hatte ich heute Nachmittag gerechnet, aber nicht mit Sandra, die sich zu Kaffee und Kuchen einlud.
„Gerne“, erwiderte ich. „Komm rein. Frischen Kaffee habe ich eben aufgesetzt“.
Wir gingen in die Küche und nahmen an der Bar Platz.
„Schön, dass du vorbeischaust. Ich freue mich dich zu sehen.“
„Ich freue mich auch dich zu sehen“, sagte Sandra mit einem für sie ungewöhnlich gequält wirkendem Lächeln.
Ich wollte nicht lange über den wahren Grund von Sandras Besuch spekulieren und fragte sie daher ohne Umschweife danach.
„Und warum bist du wirklich hier? Du hast doch nicht für uns Kuchen gekauft, in der Hoffnung ich sei zuhause und wir könnten einen Kaffeeklatsch halten?“
Sandra sah mich betreten an.
„Weißt du wo Chris ist?“
„Nein, wieso?“
Ich war gerade bei ihm und wollte ihn mit Linzer Torte überraschen. Das ist sein Lieblingskuchen und er freut sich immer sehr darüber, wenn ich welche zum Kaffee mitbringe. Aber er hat nicht aufgemacht, obwohl sein Auto auf dem Parkplatz steht. Und an sein Telefon geht er auch nicht.“
„Vielleicht ist er mit Mable kurz draußen“, versuchte ich Sandra zu beruhigen.
„Um diese Zeit? Sicher nicht!“
„Möglicherweise ist er kurz seine Zigarillos holen gegangen.“
Sandra blickte mich ungläubig an.
„Ich habe 15 Minuten vor seinem Haus gewartet. Solange braucht er nicht zur Tankstelle und wieder zurück.“
Ich hatte einen bestimmten Verdacht, warum Chris nicht aufgemacht hatte, den ich Sandra aber nicht mitteilen wollte. Deshalb versuchte ich weiter sie zu beruhigen.
„Und wenn er einen Mittagsschlaf macht? Du weißt doch, wie müde er oft ist“.
Sandras Gesicht zeigte jetzt Züge von Erleichterung.
„Das könnte natürlich sein.“
„Siehst du“, sagte ich, während ich uns Kaffee eingoss, „alles hat eine vernünftige Erklärung. Außerdem wolltest du doch, dass Chris sich mehr ausruht und besser auf sich achtet. Er meldet sich sicher bei dir, sobald er deine Anrufe gesehen hat.“
Dieser Satz musste Sandra überzeugt haben.
„Du hast bestimmt Recht. Ich bin manchmal einfach zu besorgt um ihn. Verzeih bitte, ich sollte dich nicht mit meinen unüberlegten Sorgen beunruhigen.“
Zufrieden trank sie einen Schluck Kaffee und begann ihren Kuchen zu essen. Ich war gerührt zu sehen, wie sehr sich Sandra um Chris sorgte. Gleichzeitig kam ich mir schäbig vor, ihr nicht die Wahrheit erzählen zu können. Aber es war Chris Entscheidung, wann und ob er Sandra von der Veränderung in seinem Leben in Kenntnis setzen wollte und nicht meine. Eine starke Stunde später verließ Sandra mich wieder. Ihre Schilderung hatte mich neugierig gemacht. Ich wollte wissen, ob ich mit meiner Vermutung Recht hatte, dass Irina bei Chris war und er deshalb nicht geöffnet hatte. Ich wartete bis ich Sandras Auto wegfahren hörte, nahm meine schwarze Regenjacke sowie eine Baseball-Mütze, die ich mir tief ins Gesicht zog und machte mich auf den Weg zu Chris Wohnung. Im Gegensatz zu früher musste ich diesmal sehr vorsichtig sein. Nicht nur Chris kannte mich, auch Irina könnte sich vielleicht noch an mich erinnern. Besonders aber Mable würde mich sofort und lange vor den beiden bemerken. Hatte ich mit meinem Verdacht Recht, musste Irinas Auto in der Nähe seines Hauses parken. Von dem kleinen Fußweg, der seine Straße mit der Hauptstraße verband konnte ich fast die ganze Straße überblicken, sah aber nirgends Irinas Auto. Gerade als ich wieder umkehren wollte, bemerkte ich Irina mit ihrem Hund aus dem Hof von Chris Haus kommen. Eilig versteckte ich mich hinter einer Garage und beobachte, wo Irina hinlief. Zielstrebig ging sie auf einen weißen SUV zu und öffnete die linke hintere Türe, um ihren Hund einsteigen zu lassen. Irina hatte ein neues Auto. Damit hatte ich nicht gerechnet. Dieser hochaufragende SUV wird es in Zukunft leichter machen, wenn ich wieder einmal nachsehen müsste, ob Irina bei Chris war, als jene flache Limousine, die sie zuvor fuhr. Zufrieden mit dieser neuen Erkenntnis und der Tatsache, dass die beiden offensichtlich das Wochenende gemeinsam verbracht hatten, machte ich mich wieder auf den Heimweg. Ein gemeinsames Wochenende war als Beleg zu werten, dass sich Chris Bedenken der letzten Woche gelegt haben mussten. An diesem Abend sah ich keine Notwendigkeit abermals in Chris Tagebuch zu lesen und machte mir stattdessen mit einer Flasche Bordeaux einen gemütlichen vor dem Kamin.

   Die Vorbereitung meiner längst fälligen Steuererklärung raubte mir die folgenden Tage. Mein Steuerberater hatte mir schon mehrere Aufforderungen geschickt, ihm endlich die fehlenden und dringend benötigten Quittungen, Belege und sonstige Unterlagen zukommen zu lassen und die letzte war in ihrem Ton nicht mehr ganz so freundlich gehalten. Die gewünschten Unterlagen in meiner durchaus als unorthodox zu bezeichnenden Ablage zu finden, gestaltete sich nicht ganz einfach. Einige der Tankbelege lagen noch in den Autos, andere Quittungen steckten in diversen Jacken, ein paar in verschiedenen Schubladen, andere am Klemmbrett in der Küche, die meisten jedoch in einem großen Stapel Papier in einem Regal meines Arbeitszimmers. Am Donnerstagabend war ich fertig mit diesem unliebsamen Papierkrieg und wollte ich mich endlich mit ein paar Freunden treffen, die ich in den letzten Monaten stark vernachlässigt hatte. Ich war gerade im Begriff das Haus zu verlassen, als eine SMS von Chris eintraf. Bis zum heutigen Abend hatte ich die ganze Woche nichts von ihm gehört, was ich als ein weiteres gutes Zeichen empfand. Bestimmt war es Irina gelungen seine Irritationen der letzten Woche auszuräumen und Chris war jetzt endlich auf dem Weg mit Irina glücklich zu werden. Neugierig darauf, was Chris mir mitteilen wollte, las ich seine Nachricht. Er wollte wissen, ob wir uns morgen Nachmittag zu einem Spaziergang treffen könnten. Er hätte eine Überraschung für mich und würde mich um 16 Uhr abholen. Ich bestätigte umgehend den Termin und machte mich daraufhin auf den Weg zu meiner Verabredung. Während der Fahrt machte ich mir ein paar Gedanken darüber, welche Überraschung das sein konnte. Ich war sicher, sie musste in irgendeinem Zusammenhang mit Irina stehen. Daran bestand für mich keinen Zweifel.

Der letzte Tag im Januar war ein kalter sonniger Tag. Meine Ungeduld wollte mich nicht länger warten lassen. Kurz vor 16 Uhr zog ich meine Jacke an und verließ mein Haus um am Eingang des alten Parks auf Chris und Mable zu warten. Ich war noch etwa 100 Meter vom Eingang entfernt, als ich die beiden mir entgegenkommen sah. Als Mable mich bemerkte, rannte sie freudig auf mich zu und führte einen wahren Begrüßungstanz auf.
„War dir langweilig oder konntest du es nicht erwarten?“ begrüßte mich Chris spöttisch.
„Von beidem etwas“, wich ich einer präzisen Antwort aus.
Chris griff mit einem breiten Grinsen in seine Hosentasche, zog einen USB-Stick heraus und hielt ihn mir entgegen.
„Hier, bevor du vor Neugier platzt, die Überraschung.“
Ich nahm dem Stick aus seiner Hand und steckte ihn in meine Jacke.
„Danke. Was ist darauf?“
„Der Schlüssel zu deinem Glück, hoffe ich. Naja ein Teil davon“, erwiderte Chris.
Ich sah ihn fragend an.
„Tut mir leid, ich verstehe nicht?“
„Es sind die ersten 8 Kapitel deines Buchs. Ein paar fehlen leider noch. Ich bin sehr gespannt, wie es dir gefällt?“
Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Hocherfreut bedankte ich mich bei Chris, der heute wieder außerordentlich müde, doch dafür sehr zufrieden wirkte und versprach ihm, es sofort zu lesen sobald ich wieder Zuhause war. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nahm Chris heute nicht den Weg der an der Hangkante vorbei führt, sondern wir gingen auf einem kleinen Trampelpfad mitten durch die Wiese. Nach ein paar Schritten erkundigte ich mich, wie es ihm ging und ob alles in Ordnung sei?
„Heute ist alles gut“, erwiderte Chris gleichmütig.
Ich nahm diese seltsame Antwort zunächst nur zur Kenntnis und entschied später genauer nachzufragen, was Chris mit heute ist alles gut genau gemeint hat. Stattdessen schnitt ich ein anderes Thema an, dass mir auf der Zunge brannte.
„Ich weiß, es geht mich nichts an, aber hast du schon mit Sandra über die Veränderungen in deinem Leben gesprochen?“
Chris Gesichtsausdruck wurde bei meiner Frage nachdenklich.
„Ist schon in Ordnung, die Frage ist berechtigt. Ich weiß, dass ich mit ihr darüber reden muss, aber ich weiß nicht wie ich ihr das beibringen soll?“
Chris Bedenken verwunderten mich. Hatte er mir doch erzählt, dass Sandra bislang nie ein schlechtes Wort über Irina verloren hatte. Somit sollte es keinen Grund geben, dass er ihr bislang nichts gesagt hatte. Oder hatte Chris denselben Verdacht wie ich, dass er für Sandra doch mehr sein sollte, als nur ein sehr guter Freund? Ich versuchte Chris davon zu überzeugen mit Sandra zu reden.
„Ihr seid doch Freunde? Freunde verstehen so etwas und ich bin mir sicher Sandra wird dich verstehen.“
Chris schaute mir direkt in die Augen.
„Wir sind doch auch Freunde, oder? Verstehst du mich?“
Diese Frage brachte mich in eine unangenehme Situation. Sicher waren wir Freunde. Nach meinem Dafürhalten sogar sehr gute Freunde, aber wie sollte ich diese Frage beantworten? Sie ließ sich, seit ich wieder in Chris Tagebuch herumgeschnüffelt hatte, nicht so eindeutig beantworten. Ich hatte Chris hintergangen und kannte die Details, die er mir verschwiegen hatte. Einerseits konnte ich Chris sehr gut verstehen. Er hatte nie aufgehört Irina zu lieben und wird es mit Sicherheit auch niemals tun. Insofern war seine Entscheidung wieder eine Beziehung mit ihr zu beginnen nachvollziehbar und richtig. Eine Entscheidung, die ich an seiner Stelle genauso getroffen hätte. Darüber mit Sandra zu sprechen war für ihn, nach allem was im vergangen Jahr geschehen war, bestimmt nicht einfach. Anderseits hatte er augenscheinlich von Anfang an Zweifel an der Beziehung, die ich mir nicht erklären konnte und über die er offenkundig mit niemand sprechen wollte. Möglicherweise hielten diese ihn zurück, mit Sandra zu sprechen. Ich entschied mich für eine Antwort, die der Wahrheit unseres Status entsprach und von der ich hoffte, dass sie seine Entscheidung alsbald mit Sandra zu sprechen positiv beeinflussen würde.
„Natürlich sind wir Freunde und ich verstehe dich vollkommen. Wäre ich an deiner Stelle, ich hätte das gleiche getan. Auch wenn es sicher keine leichte Entscheidung für dich war. Ich kann mir gut vorstellen, dass es dir schwerfällt, vor allem nach dem letzten Jahr, mit Sandra darüber zu reden. Aber sie ist deine beste Freundin und sie wird dich verstehen. Da bin ich ganz sicher. Dafür sind Freunde da.“
Chris wirkte noch nicht sonderlich überzeugt.
„Ich bin mir sicher“, fuhr ich fort, „dass Sandra sich sehr für dich freut. Sie weiß doch, wie sehr du Irina liebst.“
Chris dachte einen Augenblick nach.
„Ja, ich denke Sandra wird mich verstehen“, erwiderte Chris sichtlich erleichtert. „Sie hat immer alles verstanden. Sie ist ein toller Mensch.“
Nicht nur das, dachte ich. Sie ist generell eine tolle Frau. Mittlerweile hatten wir die kleine Wiese erreicht, die den toten Baum umgab. Mable kletterte auf den abgefallenen Ast und beobachtete aufmerksam, was im Park vor sich ging.
„Weißt du eigentlich, dass deine Inschrift immer noch da ist?“
Chris ging um den Ast herum zu der Stelle an der die Inschrift stand und strich langsam mit seiner Hand über sie.
„Sehr schön, dass sie noch da ist“, freute er sich sichtlich.
„Vielleicht solltest du sie Irina zeigen und gemeinsam mit ihr erneuern“, schlug ich vor.
Chris sah zu mir auf.
„Nein, nicht jetzt. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ich weiß gar nicht, ob sie sich überhaupt noch daran erinnert? Wahrscheinlich nicht.“
Er schien bei diesen Gedanken bedrückt zu sein.
„Wann hast du es denn eingeritzt?“
„An einem kühlen, verregneten Sonntag im Mai 2011. Irina und ich waren mit Baghira spazieren. Es war Nachtmittags gegen 15 Uhr. Darüber musst du doch gelesen haben. Es steht in meinem Tagebuch.“
„Wenn es im Mai 2011 war wahrscheinlich nicht“, erwiderte ich lachend. „Deine Tagebuch war ab Mitte April voll mit romantischem Zeug. Nach den ersten drei, vier Einträgen hatte ich genug davon und übersprang bis Anfang Juni fast alles, bis auf die Stellen mit den Tierarzt Rechnungen und deinen Geldsorgen. Alle, die mit „Sonnenschein“ oder so ähnlich begonnen haben, habe ich überhaupt nicht gelesen. Das ist nicht so ganz meine Welt, wie du weißt.“
Chris schien kurz zu zögern, bevor er verständnisvoll entgegnete:
„Weiß ich. Sie sollte es aber ein bisschen werden. Du erinnerst dich, Geraldine, die Romantikerin?
Ich nickte lediglich. Jedes Wort wäre überflüssig gewesen.
Mittlerweile war Mable von dem großen Ast heruntergeklettert und im Begriff auf der Wiese nach Mäusen zu jagen. Chris rief sie zu sich und wir machten uns auf den Rückweg. Ich hatte das Gefühl, dass nun ein guter Zeitpunkt dafür gekommen war, Chris zu fragen, warum heute alles gut war. Chris, der meine Frage erwartet zu haben schien, erläuterte mir bereitwillig warum.
„Irina hat am Montag Geburtstag und ich habe mir viele Gedanken gemacht, was ich ihr schenken könnte. Es sollte nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig sein. Nicht zu persönlich, aber auch nicht zu unpersönlich. Überhaupt ist es wahnsinnig schwierig ihr etwas zu schenken. Ich war lange unsicher, worüber sie sich freuen würde. Anfang der Woche kam mir dann die Idee ihr einen besonderen Schlüsselanhänger zu schenken.
„Einen Schlüsselanhänger?“, unterbrach ich Chris leicht irritiert.
„Ja, einen Schlüsselanhänger. Auf der Vorderseite ist ein Foto ihres geliebten Baghira eingraviert und auf der Rückseite sein Name. Aber irgendwie kam mir das zu wenig vor und ich suchte noch nach einer Kleinigkeit. In einem Onlineshop bin ich dann zufällig auf eine Tasse gestoßen. Die Sonnenschein-Tasse. Da sie gerne und viel Kaffee trinkt, fand ich die Tasse mit dieser Aufschrift sehr passend und habe sie bestellt. Vorhin habe ich erfahren, dass ich den Schlüsselanhänger nachher abholen kann und die Versandbenachrichtigung für die Tasse habe ich auch bekommen. Ich muss dann am Montag nur noch Blumen für sie kaufen.“
Obwohl sich Chris über sein Geschenk für Irina viele Gedanken gemacht hatte, wirkte er verunsichert, ob er das Richtige für sie gekauft hatte. Zu Recht, wie ich fand. Ein Schlüsselanhänger und eine Tasse empfand ich als nicht besonders einfallsreich und irgendwie unpersönlich, egal ob der Anhänger eine besondere Gravur hatte oder nicht. In meinen Augen waren das eher Geschenke für eine Bekannte, zu deren Geburtstag man eingeladen war und für die man eben irgendetwas als Geste gekauft hatte. Aber ich wollte Chris mit meinen Gedanken nicht wieder verunsichern. Stattdessen versuchte ich Chris zu bestärken und versicherte ihm, dass dies ein schönes Geschenk sei, über das sich Irina bestimmt freuen würde.
„Ich hoffe sehr. Bei ihr weiß man nie“, sagte Chris und klang dabei bedrückt.
Mich beschlich das Gefühl, es musste noch etwas geben, das Chris beschäftigte.
„Da ist doch noch etwas? Stimmt’s?“
Chris nickte fast unmerklich. Mit gedämpfter Stimme sagte er:
„Es wird der erste Geburtstag von Irina, den wir gemeinsam verbringen werden. Und mit großer Wahrscheinlichkeit der letzte. Kein schönes Gefühl. Ehrlich gesagt graut es mir vor diesem Tag.“
Obwohl ich von meinen eigenen Worten wenig überzeugt war, versuchte ich Chris Mut zu zusprechen.
„Niemand kann das wissen. Auch du nicht. Die Ärzte haben sich doch schon einmal geirrt. Warum sollte das nicht wieder so sein?  Bestimmt sitzt ihr in zehn Jahren an ihrem Geburtstag in einem lauschigen Restaurant und seit immer noch genauso verliebt, wie heute.“
„Ein schöner Gedanke, aber ich weiß, dass es nicht so sein wird. Es wird der letzte sein. Sie weiß es nur noch nicht und sie muss es auch nicht wissen“, erwiderte Chris.
„Daran bist du nicht ganz schuldlos“, warf ich in scharfem Ton ein. „Immerhin warst du es, der Irina gesagt hat, es wären noch 2 Jahre. Du solltest diesen Unsinn dringend überdenken und umgehend in Ordnung bringen. Du tust ihr damit keinen Gefallen!“
Chris blieb stehen und sah mich ernst und eindringlich an.
„Das werde ich nicht tun. Selbst wenn ich wollte, ich könnte dir heute nicht erklären, warum das so ist. Akzeptiere es bitte einfach. Das einzige das im Moment zählt ist, dass sie sich über ihre Geschenke freut. Mehr ist im Augenblick nicht wichtig!“
Ein paar Schritte weiter trafen wir auf einige andere Hundehalter und wir unterbrachen unsere Unterhaltung. Gemeinsam mit ihnen gingen wir den Weg weiter. Chris wechselte dabei ein paar belanglose Worte mit dem einen oder anderen. An der Abzweigung des Weges, die Richtung Ausgang führt, verabschiedete sich Chris von der Gruppe. Beinahe wie jedes Mal, wenn ich mit Chris und Mable spazieren war, mussten wir auch heute am Ausgang auf Mable warten. Mit Begeisterung war sie den anderen Hunden auf die große Wiese gefolgt und hatte nicht bemerkt, dass Chris zum Ausgang gelaufen war. Anders als vor ein paar Tagen blieb er heute sehr gelassen.
„Mach dir keine Sorgen. Sie kommt schon, wenn sie bemerkt, dass ich weg bin. Mable kennt den Weg nach Hause.“
Ich nutzte diese Wartezeit um in Erfahrung zu bringen, welche Pläne Chris für den heutigen Abend hatte. In der Überzeugung, dass er diesen Freitagabend mit Irina verbringt, zielte ich mit meiner Frage direkt in diese Richtung.
„Seht ihr euch heute Abend?“
„Nein, Irina hat irgendetwas vor. Keine Ahnung was, sie hat es nicht erwähnt. Wir sehen uns erst wieder Samstag“
Ich war ein wenig erstaunt. Eine Antwort mit der ich nicht gerechnet hatte.
„Und was machst du stattdessen?“
„Sandra kommt zum Abendessen. Ich habe sie heute Morgen eingeladen, da wir uns schon fast zwei Wochen nicht mehr gesehen haben.“
„Hast du keine Bedenken, dass Irina wider Erwarten plötzlich vor deiner Türe stehen könnte? Du würdest dann in akuten Erklärungsnotstand geraten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du ihr eine Frau wie Sandra, die Freitagabend urplötzlich auf deinem Sofa sitzt erklären möchtest?“
Chris blieb sichtlich gelassen.
„Darüber mache ich mir keine Sorgen. Ersten hat Irina gesagt, dass sie vor Samstagabend keine Zeit hat und zweitens würde sie lange vorher eine Nachricht schicken. Irina wird nie unangemeldet vorbeikommen. Sie mag es nicht, wenn man sie ohne längere Voranmeldung besucht und daher besucht sie auch niemand ohne vorherige Ankündigung.“
Das kam mir reichlich bekannt vor. Auch Geraldine konnte es nicht ausstehen, wenn man unangemeldet vor ihrer Türe stand. Selbst in den Zeiten, in denen wir so etwas wie eine Beziehung hatten musste ich mindestens 1 Tag vorher Bescheid geben, wenn ich sie abends besuchen wollte. Ich fand das damals immer ein wenig befremdlich, weil es eine Art künstlicher Distanz zwischen uns schuf. Chris schien es mit Irina nicht viel anders zu gehen.
„Wirst du Sandra von Irina erzählen“, wiederholte ich meine zuvor gestellte Frage.
„Werde ich tun“, versprach Chris. „Ich weiß nur noch nicht, wie ich es anfangen soll. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich es ihr nicht gleich gesagt habe. Das macht die Sache nicht gerade leichter.“
„Denk an meine Worte über Freundschaft“, versuchte ich Chris nochmals Mut für sein Gespräch mit Sandra zu machen, als Mable endlich zurückkehrte und Chris sich mit ihr auf den Heimweg machte.

   Zuhause angekommen nahm ich als erstes den USB-Stick aus meiner Jacke und steckte ihn in mein Laptop. Doch statt der erwarteten Word Dateien erschienen PDF Dateien auf dem Monitor. Offensichtlich wollte Chris nicht, dass ich in diesen Dateien etwas verändern konnte. Ein Gedankengang, der mir vertraut vorkam. In der Vergangenheit hatte ich mich oft genug mit meiner Lektorin über diverse Szenen gestritten, die nach ihrer Einschätzung überflüssig oder zu lang waren und manchmal hatte sie diese einfach unkommentiert aus meiner Datei gelöscht. Da ich kein Freund davon war, Bücher oder auch nur Teile davon, auf einem Monitor zu lesen, druckte ich die Dateien aus. Zu meinem Erstaunen ergab es über 82 engbeschriebene DIN A4 Seiten. Ich nahm die Ausdrucke, holte mir eine Flasche Barolo und setzte mich in einen Sessel vor meinem Kamin. Mit großer Neugier, was Chris geschrieben hatte, fing ich an zu lesen. Bereits nach dem ersten Kapitel war ich beeindruckt. Chris hatte wie versprochen nicht einen einfachen Liebesroman geschrieben, sondern die Geschichte von Geraldine und mir in eine spannende Rahmenhandlung gepackt. Wie er es angekündigt hatte, gab es zwei weitere Hauptfiguren, die er mit Zügen von Geraldine und mir ausgestattet hatte. Am Anfang war ich mir nicht ganz sicher, welche der beiden männlichen Hauptfiguren mich darstellen sollte, so geschickt hatte Chris die Charaktereigenschaften verteilt und es dauerte ein paar Seiten, bis ich mich in einer Figur wiederfand. Bei der weiblichen Hauptfigur hingegen war ich mir längere Zeit nicht sicher, welche Geraldine sein sollte. Besonders imponierte mir die Umsetzung seiner Idee, die Handlung aus der Perspektive der fiktiven männlichen Hauptperson zu erzählen. Chris nutzte die sich ihm dadurch eröffnende Möglichkeit perfekt, alle Gedanken dieser Person einfließen zu lassen. Hoch interessiert las ich das zweite Kapitel. Die beiden fiktiven Figuren erlebten Episoden aus dem Leben von Geraldine und mir, aber auch manches andere, das auf den ersten Blick nicht zu unserer gemeinsamen Geschichte gehörte. Mit viel Phantasie und Geschick war es Chris gelungen diese Episoden in ein komplett neues, immer wieder unerwartetes Umfeld einzubetten. Bis zum Ende des vierten Kapitels ließ Chris diese beiden Figuren, von den ich zuerst überzeugt war, dass sie Geraldine und mich darstellten immer weiter in den Hintergrund treten und die anderen Figuren übernahmen die Haupthandlung. Auf einmal war ich mir gar nicht mehr so sicher wie am Anfang, welche der Figuren Geraldine und ich waren. In der Mitte des fünften Kapitels wurde ich sehr müde und mir fielen immer wieder die Augen zu. Eine Folge der Flasche Rotwein, die ich während des Lesens getrunken hatte. Ich legte mich auf mein Sofa und schlief kurz darauf ein. In dieser Nacht hatte ich einen seltsamen Traum, der Chris Roman mit einem meiner eigenen Bücher auf sonderbare Weise vermengte und diese eigentümliche Mischung zusätzlich noch mit der Geschichte von Chris, Irina und Sandra verknüpfte. Das wirklich ungewöhnliche an diesem Traum war aber, dass ich mich am nächsten Morgen sehr gut an ihn erinnern konnte. Gewöhnlich konnte ich mich morgens nicht an meine Träume erinnern. Mit steifem Nacken von der Nacht auf dem Sofa machte ich mich auf den Weg ins Bad. Anschließend frühstückte ich in aller Ruhe, bevor ich mich wieder dem Manuskript widmete. War ich bislang schon sehr angetan, von dem was ich gelesen hatte, fesselte mich die Handlung nun richtig. Chris hatte wiederholt überraschende Wendungen und unerwartete Begebenheiten eingearbeitet. Selbst die Ereignisse rund um die Gartenparty von Geraldines Mutter und die Angelegenheit mit den Büchern fanden sich in völlig abgewandeltem Zusammenhang wieder. Obgleich seine Wortwahl diplomatisch gehalten war, war Chris in diesen Szenen für mein Dafürhalten relativ deutlich geworden. Ich hatte zuerst ein mulmiges Gefühl dabei, erinnerte mich dann aber daran was Chris gesagt hatte. Man kann nicht über Rasen gehen ohne auf Gras zu treten. Würde dieses Thema hier nicht angesprochen, würde es wahrscheinlich für immer totgeschwiegen werden. Nach vier Stunden war ich fertig und legte sein Manuskript zur Seite. Chris hatte sich eine komplexe, in sich verschachtelte Geschichte ausgedacht, die man sehr aufmerksam lesen musste. Sonst konnten dem Leser schnell Details entgehen, die später wieder wichtig wurden. Er hatte nicht nur, wie er es avisiert hatte, die Eigenschaften von Geraldine und mir auf mehrere Personen verteilt, sondern er hatte sie zusätzlich überkreuzt. Ferner hatte er auch verschiedene aktuelle Themen und Entwicklungen, denen er skeptisch gegenüberstand in die Handlung eingeflochten. Es war wirklich weitaus mehr als eine reine Liebesgeschichte. Ich beschloss das Ganze ein paar Stunden sacken zu lassen, bevor ich mich auf die Suche nach den Ostereiern, wie Chris die versteckten Hinweise für Geraldine genannt hatte, machen wollte. Meinen Plan entsprechend machte ich mich am Abend auf die Suche nach diesen verborgenen Hinweisen. Ich war überrascht, wie viele ich fand, vor allem aber darüber, wie clever sie Chris in die Handlung eingebettet und versteckt hatte. Ob Geraldine ebenfalls alle finden würde und wenn ja, würde sie die Hinweise richtig verstehen?

   Am Montagabend hatte, zum ersten Mal seit langer Zeit, wieder mein Nachbar auf der Flucht vor der Bridge-Runde seiner Ehefrau um Asyl bei mir nachgesucht. Bis nach Mitternacht saßen wir vor meinem Kamin, unterhielten uns über Sport, Politik und sehr ausführlich über unsere Gärten. Nebenher tranken zwei Flaschen Wein und rauchten Zigarren. Es war ein überaus interessanter und kurzweiliger Abend. Auf dem Weg ins Bett, erinnerte ich mich daran, dass ich heute unbedingt Chris Tagebuch lesen wollte. Ich war sehr neugierig, wie Irina auf seine Geschenke reagiert hatte, vor allem aber darauf wie die beiden ihren Geburtstag verbracht hatten. Doch durch den Wein und das lange Gespräch war ich dafür zu müde geworden und ich verschob mein Vorhaben auf den nächsten Tag.

   Der Dienstagmorgen begann wenig erfreulich. Aus einem unerfindlichen Grund war über Nacht die Heizung ausgefallen und in meinem Haus war es ungemütlich kühl geworden. Ich hatte zwar noch genügend heißes Wasser um zu duschen, dafür war es im Badezimmer als ich aus der Dusche stieg unangenehm frisch. Statt in Ruhe zu frühstücken und mich anschließend mit Chris Tagebuch beschäftigen zu können, musste ich zuerst mit dem Notdienst der Heizungsbaufirma telefonieren. Die freundliche Dame versprach mir umgehend einen Monteur vorbei zu schicken, schränkte allerdings ein, dass dies durchaus 3 bis 4 Stunden dauern könnte. Mir blieb nichts Anderes übrig, als meinen Kamin anzuheizen und zu warten. Um die Zeit zu verkürzen las ich abermals Chris Manuskript und machte mir an den Seiten ein einige Notizen. Schon während der Renovierung meines Hauses hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Zeitangaben von Handwerkern durchaus relativ sein konnten. Nicht nach drei oder vier Stunden, sondern nach reichlichen sechs Stunden tauchte der Monteur endlich auf. Immerhin hatte er den Fehler schnell gefunden. Ein Defekt in der elektronischen Steuerung hatte die Schutzschaltung ausgelöst, woraufhin die Heizung automatisch heruntergefahren worden war. Glücklicherweise hatte er das passende Ersatzteil in seinem Wagen und konnte die Heizung umgehend wieder in Betrieb nehmen.

   Diese unerwartete Störung hatte meinen geplanten Tagesablauf durcheinander gewirbelt. Anders als ich es beabsichtigt hatte, kam ich erst am späten Nachmittag dazu, in Chris Tagebuch seine Aufzeichnung über den Verlauf von Irinas Geburtstag zu lesen. Wie schon vor ein paar Tagen, überkamen mich erneut große Skrupel, als ich mich in Chris PC einloggen wollte. Ich beruhigte mein wiederholt äußerst schlechtes Gewissen damit, dass ich nur schnell nachsehen wollte, ob sich Irina über ihre Geschenke gefreut hatte. Dann wollte ich die Verbindung sofort wieder trennen. Ein paar Sekunden später war ich auf Chris Computer eingeloggt und öffnete das Verzeichnis mit seinem aktuellen Tagebuch. Ich scrollte bis zu seinem Eintrag vom Montag. Dabei stach mir sofort ins Auge, dass die Anzahl der Seiten erheblich zugenommen hatte. Der letzte Eintrag den ich gelesen hatte datierte vom 24. Januar und endete auf Seite 21 ganz unten. Seither waren 10 Tage vergangen, in denen fast 14 Seiten dazu gekommen waren. Das war ungewöhnlich viel, im Schnitt über eine Seite pro Tag. Mich beschlich das ungute Gefühl, dass sich einiges ereignet haben musste, von dem ich noch keine Kenntnis hatte. Sicher war ich mir nur damit, dass ich nichts über sein Abendessen mit Sandra vom letzten Freitag finden würde. Zunächst jedoch las ich den Eintrag von gestern. Dem ersten Geburtstag von Irina an dem sich die beiden in den vergangenen Jahren gesehen hatten. Wie er es angekündigt hatte, war Chris morgens für Irina Blumen besorgen gegangen. Den gekauften Rosenstrauß beschrieb er überraschend detailliert. Die Farbe der Blüten ging von Irinas Lieblingsfarbe Orange langsam in ein dunkles Rot über. Diese Farben schienen Chris überaus wichtig zu sein. Anders konnte ich mir diese ausführliche Beschreibung nicht erklären. Über ein kleines Detail musste ich schmunzeln. Irina hatte die gleiche Lieblingsfarbe wie Geraldine. Gegen Mittag war Irina zu Chris gekommen und etwa anderthalb Stunden geblieben. Im Gegensatz zu seinen Befürchtungen hatte sich Irina über den Schlüsselanhänger gefreut. Ich war beruhigt das zu lesen und freute mich für Chris. Zwei Zeilen später wich meine Freude. Chris hatte sich ausgeschlossen, als er spät abends nochmals mit Mable vor die Türe gegangen war. Zuerst klingelte er bei seiner Nachbarin, bei der er für solche Notfälle einen Schlüssel deponiert hatte. Diese schlief aber bereits. Geraume Zeit irrte er ziellos durch die Straßen und überlegte, was er nun tun sollte. Die beste Lösung, die ihm einfiel war Irina anzurufen, der er einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben haben musste. Er beschrieb einigermaßen wirr, wie schwer es ihm gefallen war, Irina, die mit ihrer Familie und ihren Freunden anlässlich ihres Geburtstags Essen gegangen war, damit zu belästigen. Warum war Chris nicht zu mir gekommen, schoss mir durch den Kopf. Ich wohne nur etwa 5 Gehminuten entfernt, war um diese Zeit fast immer wach und hatte genügend Gästezimmer. Chris hätte bequem bei mir übernachten und am nächsten Morgen den Ersatzschlüssel bei seiner Nachbarin holen können. Er hätte auch Sandra anrufen können. Immerhin hatte ich letztes Frühjahr beobachtet, dass sie die Haustüre aufgeschlossen hatte. Möglicherweise besaß sie den Schlüssel noch. Selbst wenn dem nicht mehr so war, sie hätte ihn mit Sicherheit abgeholt und bei sich übernachten lassen. Irina anzurufen und sie von ihrer Feier wegzuholen war also nicht unbedingt die beste Lösung. Zudem war mir neu, dass Irina einen Schlüssel zu seiner Wohnung hatte. Chris hatte das bislang nicht erwähnt. Der Anlass dafür war bestimmt in seinen Aufzeichnungen der vorangegangenen Tage zu finden. Im Weiteren notierte Chris, dass Irina sehr aufgebracht war, als sie ihm den Schlüssel vorbeibrachte und ihm einige unschöne Worte an den Kopf geworfen hatte. Dass Irina verständlicherweise nicht gerade erfreut war unter Alkoholeinfluss Autofahren zu müssen, um Chris den Schlüssel zu bringen, war mehr als verständlich. Immerhin hing ihre berufliche Existenz zu einem großen Teil vom Besitz einer Fahrerlaubnis ab. Warum sie Chris, sollte seine Aufzeichnung wirklich stimmen, auch noch gesagt hatte: Hol mich nie wieder von meiner Familie und meinen Freunden weg, erschloss sich mir hingegen nicht. Sicher war es nur ein in ihrer Aufgebrachtheit bedeutungslos daher gesagter Satz. Am Ende seiner Aufzeichnung gelangte Chris zu der Überzeugung, dass er unter allen Umständen verhindern musste, dass sich so etwas wiederholen konnte. Aus diesem Grund entschied er, Irina den Schlüssel nicht mehr wieder zu geben und somit zu verhindern, Irina in einer ähnlichen Situation nochmals um Hilfe bitten zu müssen. Offenkundig stimmte mit Chris an diesem Abend einiges überhaupt nicht und ich begann mich zu fragen was der Grund dafür gewesen sein könnte. Seine Schilderung des Tages, ließ bis auf den Teil über den Abend auf einen normalen, eher schönen Tag schließen. Seine Bedenken, Irina könnte sich nicht über sein Geschenk freuen, hatten sich nicht bestätigt. Es gab also keinen erkennbaren Grund, der für Chris Verwirrung Anlass gewesen sein konnte.

   Durch den Ausfall der Heizung war es in meinem Arbeitszimmer noch immer recht frisch und mir war kalt geworden. Bevor ich nachschauen wollte, weshalb Chris in den vergangenen Tagen so viel geschrieben hatte, ging ich in die Küche und setzte Kaffee auf. Während die Maschine brummend das Wasser aufheizte blickte ich aus dem Fenster in meinem Garten. Chris hatte in den letzten Monaten auf mich immer einen gut organisierten Eindruck gemacht. Er war nie vergesslich oder gar verwirrt, wie an diesem Abend. Ganz im Gegenteil. Um uns diese Show vorspielen zu können musste alles seinen festen Rahmen haben und perfekt funktionieren. Hatte sich Chris in den vergangenen Tagen übernommen und war auf Grund seiner Erschöpfung nicht mehr ganz Herr seiner Sinne? War es das erste Anzeichen für eine allgemeine Verschlechterung seines Zustands? Oder einfach nur eine kleine Vergesslichkeit, wie sie jedem Menschen hin und wieder unterläuft? Ratlos nahm ich meinen Kaffee und ging zurück in mein Arbeitszimmer, in der Hoffnung seine Aufzeichnungen der Tage davor würden etwas Klarheit darüber bringen. Ich scrollte zurück zum 25. Januar. Über diesen Tag hatte Chris geschrieben, dass sie sich abends über einen möglichen gemeinsamen Urlaub im Sommer unterhalten hatten. Irina hatte den Wunsch geäußert 2 Wochen mit dem Motorrad durch Italien zu fahren und sich entweder alles anzuschauen, was sie interessierte oder tagsüber diverse Passstraßen zu befahren. Je nach geplantem Tagesablauf sollte ihr Chris mit Auto und Anhänger folgen und sie aufsammeln, falls sie zu müde zum Weiterfahren wurde oder solange mit den Hunden im Hotel warten, bis sie abends wieder zurückkehrte. Ein eigenartig egoistischer Urlaub dachte ich. Sie fährt alleine Motorrad und Chris darf ihr entweder mit dem Auto folgen, wie ein Begleitfahrzeug bei einer dieser großen Radtouren oder soll im Hotel warten. Ich wusste von Geraldine nur zu genau, wenn sie den ganzen Tag auf dem Motorrad unterwegs gewesen war, dass sie abends todmüde ins Bett fiel, nur noch ihre Ruhe haben wollte und nicht mehr ansprechbar war. Nach meiner Auffassung hatte Irinas Plan wenig mit einem gemeinsamen Urlaub zu tun. Besonders wenn man sich vor Augen hielt, dass dies mit großer Wahrscheinlichkeit der einzige gemeinsame Urlaub der beiden sein würde. Ich war verwundert über diese Vorstellung, die nicht so recht zu ihrem Verhalten und ihren E-Mails der ersten Tage passen wollte. Allerdings musste man berücksichtigen, dass Irina, die nach wie vor von falschen zeitlichen Voraussetzungen ausging und die zudem von Chris Zustand wahrscheinlich noch immer ein falsches Bild hatte, nur einen Wunsch geäußert hatte, ohne die Absicht ihn auf diese Weise umsetzten zu wollen. Mehr noch erstaunte mich Chris Reaktion. Anstatt sich zu fragen, worin hier der gemeinsame Urlaub bestand und sich prinzipiell ähnliche Gedanken zu machen wie ich, fragte er sich, wie er es im Sommer schaffen könnte, mehrere Stunden am Stück Auto zu fahren. Eine durchaus berechtigte Frage, zumal mir Chris vor wenigen Tagen eröffnet hatte, dass er generell nicht mehr gerne Auto fuhr. Sollte sich sein Zustand in diesem Jahr parallel zum Herbst 2012 entwickeln, wo er aufgrund seines eingeschränkten Sehvermögens seine ersten Unfälle hatte, dann würden diese langen Fahrten im Sommer ein erhebliches Risiko darstellen. Andererseits wusste Irina sicher nichts von diesen Unfällen und auch nicht, wie ungerne Chris längere Strecken fuhr. Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl beim Lesen dieser Zeilen. Vom 26. bis zum 28. Januar waren seine Aufzeichnungen wieder in der üblichen Länge. Er schrieb über seinen Tag, wie er sich fühlte, aber wider Erwarten wenig über Irina. Der nächste lange Eintrag datierte vom 29. Januar. Ein Eintrag, der sich äußerst zwiespältig las. Zuerst war Chris an diesem Tag sehr erfreut darüber, dass Irina seine Meinung über den geplanten Umzug ihrer Firma in neue Räumlichkeiten hören wollte. Aus diesem Grund hatte sie ihm per E-Mail Bilder der infrage kommenden Objekte geschickt. Er wertete das als Zeichen, dass sie ihn in ihr Leben einbinden wollte, ihr seine Meinung wichtig war. Auch wenn diese für die Entscheidungsfindung ihrer Firma letztlich unerheblich war. Im Laufe des Nachmittags hatte sie ihm unkommentiert eine dieser Zeichnung gesendet, die überall im Internet zu finden waren und lustig sein sollten. Chris hatte sich viele Gedanken über diese Zeichnung gemacht. Vor allem über den Grund, warum Irina ihm ausgerechnet diese Zeichnung geschickt hatte. Chris verstand sie als unverhohlener Kritik an der Art, wie er im Moment sein Leben gestaltete. Er gelangte zu der Erkenntnis, dass Irina ihm mitteilen wollte, dass sie in ihm den auf der rechten Bildhälfte abgebildeten Verlierer sah und sie lieber den Mann auf der linken Bildhälfte haben wollte. Einen Gewinnertyp, der zu ihr und ihren Ansprüchen passte. Ein Mann, mit dem sie sich sehen lassen konnte. Erstaunlicherweise war Chris darüber nicht zornig oder wütend, sondern blieb ausgesprochen ruhig. Ohne diese Zeichnung zu kennen, war es schwer nachzuvollziehen, was Chris über diese geschrieben hatte. Ich öffnete Chris E-Mails und sah mir diese Zeichnung an. Auf der linken Hälfte war ein Mann im Anzug abgebildet über dem Gewinner stand und der mit zahlreichen positiven Attributen versehen war. Auf der rechten Seite war ein Mann in Jeans und T-Shirt zu sehen, darüber stand Verlierer. Viele der dieser Figur zugeordneten negativen Eigenschaften trafen auf den ersten Blick im Moment auf Chris zu. Allerdings durfte man bei dieser Betrachtung nicht außer Acht lassen, dass Chris Lebensumstände alles andere als normal waren. Er war in vielem eingeschränkt. Dass er diese Zeichnung nicht mit Humor aufgenommen hatte, war für mich absolut verständlich. Ganz sicher war Chris kein humorloser Mensch, aber man konnte diese Zeichnung in seiner Situation durchaus so verstehen, wie Chris es getan hatte. Dagegen konnte ich mir nicht vorstellen, dass seine Interpretation dieser Zeichnung auch nur im Geringsten Irinas Intention entsprach. Wäre dies der Fall gewesen, dann wäre diese E-Mail zu tiefst unmenschlich und verachtungswürdig. Wahrscheinlich fand sie dieses Bild einfach lustig und hatte die E-Mail unbedacht abgeschickt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie derartige Folgen haben könnte. Immerhin schloss Chris diesen Tag mit ein paar sehr positiven Zeilen. Irina hatte paar Kosmetikartikel mitgebracht, die sie in seinem Bad deponierte. Für Chris ein erfreuliches Ereignis, dass er als positiven Hinweis interpretierte, sie wolle wahrscheinlich doch nicht so schnell wieder weglaufen, wie sie etliche Tage zuvor angekündigt hatte. Wunderschön las sich auch seine Beschreibung, als er sein allabendliches Glas Whisky trank und Irina einen winzigen Schluck davon probieren ließ. Chris schrieb, dass der Geschmack von Single Malt sie immer an ihren verstorbenen Vater erinnerte, den sie nach seiner Meinung sehr vermisste und wie wichtig ihm deshalb diese kleine Kostprobe für sie war. Chris beendete seine Aufzeichnung über diesen Tag mit einigen bedeutungsvollen an Irina gerichteten Sätzen.

„Wir dürfen nie vergessen uns zu erinnern. Erinnerungen sind die Brücke zwischen dem was war, dem was ist und dem, was sein wird. So sehr wir dazu neigen unerfreuliche Erinnerungen zu verdrängen, so sehr sollten wir sie beachten. Sie sind eine Mahnung, oft eine Warnung unserer eigenen Geschichte an uns selbst. Niemals dürfen wir zulassen, dass unsere Erinnerungen instrumentalisiert oder ritualisiert werden. Es muss unser Bestreben sein, uns die wertvollen Dinge im Leben so lange wie möglich zu erhalten, damit die Zeit, in der wir keine andere Chance mehr haben als uns daran zu erinnern, so kurz wie möglich bleibt. Während die Zeit, die wir haben kürzer werden wird, werden die Erinnerungen größer. Sollten wir eines Tages selbst zu einer Erinnerung werden, dürfen wir nichts unversucht gelassen haben, eine schöne, tröstliche Erinnerung zu sein“.

Ich trank einen Schluck Kaffee, steckte mir eine Zigarette an und dachte eine Weile über diese Sätze und was Chris mit ihnen sagen wollte nach, bevor ich begann seine Aufzeichnung vom 30. Januar zu lesen. Sie zog sich über mehr als zwei Seiten und gehörte mit zu längsten, die ich bislang in Chris Tagebuch zu lesen bekam. Chris notierte, dass Irina, die an diesem Tag keine Termine hatte bei ihm Zuhause geblieben war, während er ein paar Stunden arbeiten und anschließend einkaufen gegangen war. Damit sie falls notwendig mit Baghira und Mable rausgehen konnte, hatte er ihr einen Wohnungsschlüssel gegeben, den sie fortan behalten sollte. Auffällig sachlich schilderte Chris seine Gefühle, als er nach Hause kam und Irina ihn freudig erwartete. Als Überraschung hatte er ihr einen kleinen Strauß roter Rosen mitgebracht über den sich Irina ausnehmend gefreut hatte. Im Widerspruch zu dieser Sachlichkeit stand seine Schilderung des Abends. Besonders hob er hervor, dass Irina an diesem Abend gekocht hatte und er sehr angetan von ihren Kochkünsten war. Auch über ihre an diesem Tag ruhigere Reaktion auf seinen, wahrscheinlich vorhersehbaren, Kälteanfall, für dessen Auslöser er ihr mit Sicherheit auch an diesem Tag eine ehrliche Erklärung schuldig geblieben war, berichtete Chris mit Bewunderung für Irina. Diese Zeilen waren wunderschön zu lesen. Alles bis dahin war sehr liebevoll und weit entfernt von den Bedenken, die Chris immer wieder geäußert hatte. Der zweite, längere Teil seiner Aufzeichnung beschäftigte sich mit der gemeinsamen Nacht der beiden und erschütterte mich zu tiefst.

„…Im Bett hat mich dann meine Realität wieder eingeholt. Wir lagen nebeneinander und obwohl ich große Lust auf sie verspürte, habe ich mich nicht getraut sie anzufassen. Zum überwiegenden Teil aus Angst, dass es wieder nicht funktioniert wie schon in den letzten Tagen oder dass sich so etwas wie im November wiederholt, zum Teil aus Sorge, ich könnte sie falsch anfassen, weil ihr ihr Nacken oder ihr Rücken wieder weh tut oder weil sie es schlicht nicht will in diesem Moment. Letztlich hat sie dann, wie die letzten Nächte immer, die Initiative übernommen. Neben der Angst, es könnte sich so etwas, wie im November wiederholen, hat mich das während des ganzen Sex beschäftigt. Ich habe gehofft, Irina merkt es nicht, aber sie es hat gemerkt. Wohl doch die falsche Frau hat sie mich mit einer Mischung aus Traurigkeit und Ratlosigkeit gefragt. Diesen Gesichtsausdruck werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Es tat mir unendlich weh, sie so zu sehen. Ich habe versucht sie zu beruhigen, ihr gesagt, dass ich einfach wegen dem Ding vorsichtig sein muss und dass ich sie sehr liebe. Ob sie das überzeugt hat weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht. Ich lag noch lange wach und habe darüber nachgedacht. Es gibt Dinge, die dürfen nicht passieren, wenn sie weiter den Eindruck haben soll, alles hier ist bis auf ein paar kleine Ausnahmen normal. Deshalb kann es am Ende nur eine Lösung geben, dass sie nie mehr den Eindruck bekommt, sie ist die falsche Frau. Ich darf diese Tablette nicht mehr nehmen. Vielleicht sind sie gar nicht so wichtig. Was dann passieren wird? Keine Ahnung, aber ich werde es erfahren. Selbst wenn es mir deutlich schlechter geht, ist es die Sache wert. Vielleicht waren diese Dinger sogar an dem Blackout Ende November schuld, wer kennt die Nebenwirkungen dieser Dreckschemie wirklich? In Anbetracht der begrenzten Zeit mit ihr gibt es nur noch eines das zählt, sie ist glücklich in unseren Nächten und ich kann ihr beweisen, sie ist die richtige Frau. Die Frau die ich liebe, meine Frau.“

Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken. Hatte Chris nun komplett den Verstand verloren? Ich war außer mir. Wollte er mit seinem Leben Roulette spielen, nur um Irina zu beweisen, dass sie die richtige Frau ist? Warum redete er nicht einfach mit ihr? So ein Irrsinn war mir noch nie begegnet. Ich sprang von meinem Stuhl auf und ging in meinem Arbeitszimmer wie ein Tiger in seinem Käfig auf und ab. Irgendjemand musste diesen Wahnsinnigen stoppen, ihn wieder zur Vernunft bringen. Nur wie und vor allem wer sollte das tun? Es dauerte eine Zeit bis ich wieder einigermaßen klar denken konnte und anfing die Fakten zu verarbeiten. Ganz eindeutig hatte Chris Irina verschwiegen, dass diese gewissen Einschränkungen auf die Nebenwirkungen eines seiner Medikamente zurückzuführen waren. Wenn er ihr gegenüber überhaupt erwähnt hatte, dass er Medikamente nehmen musste. Dass Irina davon ausging, dass er keine nehmen musste konnte ich mir nicht vorstellen. So einfältig konnte sie nicht sein. Überdies war sie in den vergangenen Tagen oft und lange genug mit Chris zusammen, dass sie die Medikamente bemerkt haben musste. Andererseits war Chris ein Meister der Tarnung. Nehmen wir eine Tarnung als Tatsache wahr, dann wird diese Wahrnehmung zu unserer Wahrheit. Gegen ihre Kenntnis sprach zudem, dass Chris in ihrer Gegenwart Whisky trank. Würde Irina davon ausgehen, dass er Medikamente nehmen musste, hätte sie ihn gewiss darauf angesprochen. Selbst ich hatte mir bei unserem ersten gemeinsamen Abendessen darüber Gedanken gemacht, als ich Chris damals ein Glas Whisky angeboten hatte. Die zwingend folgende Diskussion zwischen den beiden hätte Chris mit Sicherheit in seinem Tagebuch erwähnt. Ob Irina von seinen Medikamenten wusste oder nicht, war letztlich irrelevant. Wichtig war einzig und alleine Chris Entscheidung dieses Medikament ohne Rücksprache mit seinen Ärzten eigenmächtig abzusetzen. Überdies wollte ich wissen, was Ende letzten Jahres vorgefallen war, von dem Chris befürchtete, es könnte sich wiederholen. Mir gegenüber hatte er nie von etwas Gravierendem erzählt und aufgefallen war mir in diesen Tagen ebenfalls nichts. Aber das hatte Zeit. Im Moment war es weitaus wichtiger zu erfahren, was sich in dieser Woche noch alles zugetragen hatte. Wie ich schon vermutet hatte, enthielt sein Eintrag vom 31. Januar, der wieder kürzer war, keinen Hinweis auf sein Abendessen mit Sandra. Zuerst berichtete er von unserem gemeinsamen Spaziergang. Anschließend setzte er sich nochmals mit Irinas Geburtstag und seinen Geschenken für sie auseinander. Intensiv beschäftigte sich Chris mit der Frage, wie er mit diesem wahrscheinlich letzten gemeinsamen Geburtstag von Irina umgehen sollte. An diesem Tag schrieb er sehr deutlich, dass viel Unausgesprochenes zwischen den beiden stand, das ihm großes Kopfzerbrechen bereitete. Leider ohne darauf einzugehen, welche Punkte dies im Einzelnen waren. Es bedurfte keinerlei Phantasie zu erahnen, dass es ich dabei um die genauen Details seiner Krankheit und die tatsächlich noch verbleibende Zeit handeln musste. Chris beendete an diesem Tag seine Aufzeichnung mit einer der schönsten Liebeserklärungen, die ich gelesen hatte.

„Wäre ich ein Architekt, würde ich dir deine Traumwelt bauen.
  Wäre ich ein General, würde meine Armee dich schützen.
  Wäre ich ein kluger Mann, würde ich für alles eine Lösung finden.
  Wäre ich ein Kapitän, würde ich dein Schiff sicher durch jeden Sturm steuern.
  Wäre ich ein Dichter, würden alle meine Worte dir gelten.
  Wäre ich ein Liebhaber, würden alle meine Nächte dir gehören.
  Aber ich bin nur ein einfacher Mann, der dich liebt.“

Trotz dieser letzten Zeilen wurde meine Befürchtung verstärkt, dass diese Beziehung enorm schwierig werden wird. Das Erschütterndste war jedoch, dass Chris beschlossen hatte ein Medikament abzusetzen, nur um Irina Normalität beim Sex vorgaukeln zu können. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Niemand konnte damit rechnen. Das war Irrsinn pur, für den es keine auch nur halbwegs vernünftige Begründung gab. Ich war davon überzeugt, dass wenn Irina wüsste welche Ursache Chris Probleme hatte, sie dafür sicher Verständnis hätte und diese Einschränkung hinnehmen würde. Chris Gesundheit wird ihr wichtiger sein als ein paar Minuten Spaß. Daran bestand für mich nicht der geringste Zweifel. In diesem Augenblick dachte ich an Sandra. Ich hoffte, dass Chris in der Zwischenzeit mit ihr über seine neue Beziehung gesprochen und ihr seine Probleme und Bedenken anvertraut hatte. Was aber, wenn nicht? Wie es ihr wohl gehen würde, wenn sie lesen könnte, was in Chris vor sich ging und zu welchem Wahnsinn es geführt hatte? Das wollte ich mir lieber nicht ausmalen. Im Zweifel war eine unmögliche Situation eingetreten. Vielleicht war es doch an der Zeit mit Sandra zu reden? Mit allen Konsequenzen, die so ein Gespräch nach sich ziehen könnte. Die andere, wahrscheinlich bessere Alternative, wäre zu Irina Kontakt aufzunehmen, die als Auslöser für Chris Entscheidung viel wichtiger war. Ihr könnte ich mit geringeren Schwierigkeiten, jedenfalls ohne schlechtes Gewissen erzählen, wie ich zu meinem Wissen gekommen war. Ihr die Tagebücher von Chris sogar zeigen und sie sich selbst eine Meinung darüber bilden lassen. Aber ich konnte Irina nicht mit abschließender Sicherheit einschätzen. Wie würde sie reagieren? Es bestand die denkbare Möglichkeit, dass sie panisch werden würde und Panik wäre die schlechteste aller vorstellbaren Reaktionen. Unabhängig für welchen Weg ich mich entscheiden würde, Chris musste dringend zur Vernunft gebracht werden. Ich zündete mir noch eine Zigarette an und las weiter. In seiner Aufzeichnung vom 1. Februar, erneut einer ungewöhnlich langen und ausführlichen, standen höchst interessante und aufschlussreiche Details. Zunächst jedoch beschrieb Chris einen ganz normalen Samstag. Normal, bis auf den Punkt, dass er sich im Anschluss an das Putzen seiner Wohnung seit langem wieder hatte übergeben müssen. Konnte der Grund dafür das Absetzen dieser Tabletten sein? Mir erschien das als durchaus wahrscheinlich. Zudem legten seine Schilderungen der letzten Tage zwingend den Schluss nahe, dass sich Chris überanstrengt hatte. Seine dringend erforderlichen Ruhephasen standen ihm nicht mehr in dem von ihm benötigten Umfang zur Verfügung. Nach meiner Einschätzung konnte das nicht lange ohne ernstliche Folgen für Chris Allgemeinzustand bleiben. Im weiteren Verlauf dieses Eintrags setzte er sich nochmals kurz mit der Problematik auseinander, warum er bei Irina ungern die Initiative ergriff. In diesem Zusammenhang nahm er Bezug auf einen Vorfall, der sich vorletzten Sommer ereignet hatte. Welchen Vorfall Chris damit genau meinte, war mir nicht ganz klar. Ich erinnerte mich lediglich daran, dass er im Laufe des Sommer 2012 ein- oder zweimal über dieses Thema geschrieben hatte, ohne damals jedoch genauer auf die Gründe einzugehen. Der mit Abstand wichtigste Teil seines Eintrags war aber, dass Irina ihn an diesem Abend davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass ihre Familie und Freunde unter keinen Umständen jemals von dieser Beziehung erfahren dürften und sie diese in ihrem Umfeld komplett verschweigen werde. Als Hauptgrund dafür führte sie an, dass ihre Familie ihr immer in die Wahl ihrer Männer hineingeredet hatte, sie meist schlechtmachten und ihr fast ausnahmslos zu verstehen gegeben hatte, dass dieser Mann ungeeignet für sie war. Aber das war nicht der einzige Grund. Chris Aufzeichnung zu Folge war Irina ebenfalls sehr wichtig, dass ihre Familie, etliche ihrer Freunde und selbst einige ihrer Mitarbeiter ihren Exfreund sehr gerne mochten und freundschaftliche Verbindungen zu ihm unterhielten, die sie nicht stören wollte. Besonders einen ihrer Mitarbeiter, der Irina ungewöhnlich nahe zu stehen schien wollte sie auf keinen Fall durch ihre Rückkehr zu Chris vor den Kopf stoßen. Ich war entsetzt über diese Zeilen. Wie stellte sich Irina den weiteren Verlauf der Beziehung vor? Sollte ihr Exfreund weiter mit ihrer Familie und ihren Freunden befreundet bleiben und sie sich regelmäßig treffen? Während ihre Beziehung zu Chris wie eine Affäre, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattzufinden hatte? Oder war ihr Chris gegenüber ihrer Familie und ihren Freunden peinlich und unangenehm? SO wie ich Chris bislang kennengelernt hatte, war er tatsächlich ein wenig anders als die meisten Menschen, aber eines war er nicht, peinlich. Eher im Gegenteil. Ich war stolz sein Freund zu sein. Weiter schrieb Chris, dass Irina ihm erzählt hatte, dass sie ihren Exfreund, bei dem sie quasi gewohnt hatte, bereits nach kürzester Zeit in ihre Familie und ihren Freundeskreis eingeführt hatte. Gemeinsam hatten diese nach ihrer Darstellung seit letztem Sommer sehr viel unternommen. Grillpartys und vieles andere. Wie Chris geschrieben hatte, war es ihr von Anfang an sehr wichtig gewesen, ihn überall zu involvieren. Bei Chris hatte sie das, bis auf wenige Ausnahmen im Sommer 2011 vermieden. Soweit ich mich an das Gelesene aus dieser Zeit erinnerte, gab es nur etliche Treffen im Juni 2011 in einem Biergarten. Absolut sicher war ich mir aber, dass es seit der Wiederaufnahme der Beziehung im Sommer 2012 bis zu ihrem vorläufigen Ende im Mai 2013 keinen Kontakt mehr zwischen ihrer Familie oder Freunden und Chris gegeben hatte. Möglicherweise hatte Irina bereits damals schon ihre Beziehung mit Chris vor ihrer Familie und ihren Freunden verheimlicht. Das alles deutete beinahe zwingend darauf hin, dass sich Irinas Verallgemeinerung nur auf Chris bezog, den ihr Umfeld aus einem mir unbekannten Grund nicht mochte oder gar ablehnte und sie die Beziehung deshalb verschwieg. Diese Deutung erschien mir wahrscheinlicher, als eine generelle Ablehnung jedes Freundes, die zudem in direktem Widerspruch zur Haltung ihrer Familie und Freunde zu ihrem Exfreund stand. Unabhängig davon welcher Variante ich folgte, riefen diese Aussagen Irinas weitere Zweifel in mir hervor. Es war mir unbegreiflich. Ich saß innerlich kopfschüttelnd vor meinem Monitor und fing an zu überlegen, ob es für Irinas Verhalten nicht noch andere Ursachen geben konnte. Theoretisch konnte es noch andere Gründe geben. Einer davon, der in Anbetracht dessen, wie die Beziehung im Januar entstanden war, eher unwahrscheinlich, aber trotzdem möglich war, kannte ich aus eigener Erfahrung. Ich hatte meinen Eltern stets nur die wichtigen Mädchen vorgestellt. Diejenigen, die mir im Grunde gleichgültig waren, bei denen sich die Beziehung weitgehend auf Sex beschränkte und die ohnehin nicht länger als ein paar Wochen dauern würde oder die lediglich eine Art Spiel waren, verschwieg ich. Diese Frauen gab es für meine Eltern schlicht nicht. Aber gegen diese Theorie sprach zu vieles, eigentlich alles. Die Dauer der Geschichte, der ganze Ablauf der Geschehnisse, die Vorgeschichte, diese Unmenge von E-Mails, die Lieder, einfach alles. Zudem konnte ich mir nicht vorstellen, dass Irina so kaltschnäuzig war und Chris, aus welchem Grund auch immer, die große Liebe vorspielte. Nicht wenn man sich Chris Zustand vor Augen hielt. Mit diesen Gedanken lehnte ich mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, als mir ein Aspekt in den Sinn kam, dem ich bislang überhaupt keine Beachtung geschenkt hatte. Irinas Verschweigen konnte durchaus noch eine andere plausible Erklärung haben. Die Wiederaufnahme einer Beziehung zu einem schwer kranken Menschen wie Chris konnte zu einer kontroversen Diskussion in ihrem Umfeld führen. Berechtigte Fragen nach der Zukunft einer solchen Beziehung, ihrer Vorstellung, wie sie ihr Leben einteilen wollte, wenn Chris ins Krankenhaus kommen sollte und nicht zuletzt der allerwichtigsten, wie sie mit dem schlimmsten Fall umgehen will, würden ihr mit Sicherheit gestellt werden. Möglicherweise Fragen, auf die Irina selbst noch keine Antwort gefunden hatte und sie deshalb versuchte diesen solange es ihr möglich war aus dem Weg zu gehen. Es war uneingeschränkt vorstellbar, dass Irina dieses Problem erkannt hatte und Diskussionen darüber vermeiden wollte. Allerdings konnte ich nicht beurteilen, ob in Irinas Umfeld überhaupt jemand von Chris Krankheit wusste. Mir erschien das eher unwahrscheinlich. Doch selbst wenn dies der wahre Grund dafür war, dass Irina nicht mit ihrem Umfeld über ihre neue Beziehung reden wollte, waren ihre Äußerungen unangebracht und sie wäre besser beraten gewesen, dieses Thema überhaupt nicht anzuschneiden. Das erstaunlichste an diesem Eintrag war aber die Tatsache, dass Chris die Äußerungen Irinas überhaupt nicht kommentiert hatte. Er ging mit keinem Wort darauf ein, sondern berichtete lediglich darüber. War Chris zu enttäuscht von Irina, dass er nichts dazu schreiben konnte oder wollte? Jedenfalls war es ein äußerst auffälliger Eintrag, dessen Bedeutung für die Zukunft der Beziehung ich nicht abschätzen konnte. Doch das war nicht das einzige was mir aufgefallen und Chris scheinbar entgangen war. Seinen Aufzeichnungen zufolge, benutzte Irina nie den Namen ihres Exfreundes, sondern benannte ihn immer nach der Stadt, in der dieser wohnte. Eine sehr ungewöhnliche Art über eine nahestehende Person zu sprechen. Vielleicht waren es die Erfahrungen meines ersten Lebens, die mich hier hellhörig werden ließen. Das konsequente Ersetzen von Klarnamen hatte dort einen einfachen Grund. Die Identität sollte nicht preisgegeben werden, damit eine Kontaktaufnahme jederzeit unauffällig erfolgen konnte. Aber soweit wollte ich nicht gehen und Irina diese Absicht unterstellen. Wahrscheinlich war es nur einer dieser Zufälle des Lebens, dass Irina seinen Namen nicht benutzen wollte, der mich zu dieser Interpretation anregte. Die letzten Sätze von Chris an diesem Tag verstand ich überhaupt nicht. Sie standen mit keinem der Ereignisse dieses Tages in erkennbarem Zusammenhang und ergaben für mich keinen Sinn.

„… Man sollte bei seiner Beurteilung des Verhaltens anderer Personen stets Vorsicht walten lassen. Niemals kennt man den Stand ihres Wissens oder Unwissens wirklich. Man beurteilt ihr Verhalten nach dem Kenntnisstand der eigenen Wahrheit, die oft in Unkenntnis der Realität ist. Am Ende könnte die böse Überraschung stehen, das Wahrheit wesentlich weiter reichen kann.“

Diese Art von ungewöhnlichen Formulierungen begann sich zu häufen. Sie erinnerten mich an jenen Satz, mit dem alles angefangen hatte. Das Leben wird die Beziehung bald beenden. Ein Satz, dessen wahre Bedeutung mir erst sehr viel später klar wurde. Chris hatte ihn damals gewählt, um eine Aussage zu treffen, ohne etwas über ihren Hintergrund sagen zu müssen. In seinen Tagebüchern aus dieser Zeit war ich immer wieder über solche Formulierungen gestolpert. Sätze, deren Sinn mir häufig verschlossen geblieben waren, oder die ich zum Teil erst sehr viel später begriffen hatte. Aufgrund dieser Erfahrung musste ich davon ausgehen, dass Chris, genau wie im Jahr zuvor zielgerichtet Feststellungen traf, deren Bedeutung sich mir nicht oder noch nicht erschloss, die aber aufgrund des Zeitpunktes zwingend im Zusammenhang mit Irina stehen mussten.

   Die 20 Uhr Nachrichten im Radio machten mir bewusst, wie spät es geworden war und dass es Zeit wurde, mich um mein Abendessen zu kümmern. An diesem Abend verspürte ich keine Lust zu kochen und bestellte stattdessen bei einem chinesischen Lieferservice Ente süßsauer und ein paar Frühlingsrollen. 30 Minuten später traf meine Bestellung ein. Ich stellte die kleinen Pappschachteln auf der Bar in der Küche ab und begann zu Essen. Mich ließ nicht los, was ich gelesen hatte. Absurd war noch eine milde Untertreibung für das, was sich in diesen Tagen ereignet hatte. Ich war zwar kein Arzt, dennoch konnte ich mir vorstellen, welche Gefahren das unkontrollierte Absetzen von Medikamenten in sich bergen konnte. Chris musste das erst recht wissen. Auch Irina verstand ich nicht. Ohne dass ich zynisch sein wollte drängte sich mir eine Frage auf. Wenn ihr doch die Meinung ihrer Familie und Freunde so wichtig war, sie diese unter allen Umständen zufriedenstellen wollte, warum ist sie dann nicht einfach bei ihrem Exfreund, den alle so mochten, geblieben? Alle wären glücklich und zufrieden. Die Tatsache, dass Irina einen anderen Mann liebte wäre zum Wohl ihrer Familie und Freunde bestimmt zu vernachlässigen gewesen und wer weiß, eines Tages hätte sie sich sicher damit abgefunden. Ihre Gefühle wären dann nichts weiter als ein zu notwendiger Kollateralschaden des Allgemeinwunsches gewesen. Aber sie hatte sich für ihr Herz entschieden und darüber schwieg sie. Was aber wenn es ganz anders war? Wenn die Vermeidung seines Namens, die seltsame Trennung sowie der eigenartige Ablauf ihres Geburtstages doch in Zusammenhang standen? Konnte es nicht sein, dass es der Tatsache geschuldet war, dass sie Chris nicht nur wegen ihrer Familie und ihren Freunden an jenem Abend nicht dabeihaben wollte, sondern weil ihr Exfreund ebenfalls anwesend war? Dann gab auch dieser Satz, hol mich nie wieder von meiner Familie oder meinen Freunden weg, einen Sinn. Irina musste zwingend ihre Gäste über den wahren Grund ihres kurzeitigen Verschwindens belogen haben. Das stand außer Frage. Da niemand gerne seine Familie oder seine Freunde aktiv belügt muss diese Lüge aber für sei das kleiner Übel gewesen sein, als jenes ihre Beziehung mit Chris bekannt zu machen. Mit dieser Aussage stellte sie noch einmal klar, dass wenn sie bei ihrer Familie oder ihren Freunden ist, sich Chris unter allen Umständen ruhig zu verhalten hatte. Vollkommen gleichgültig was passiert war. Genauso gut konnte man es aber anders verstehen. Irinas Ausführung über das Gebaren ihrer Familie und Freunde entsprach zumindest Chris gegenüber der Wahrheit. Auch dann gab ihr Satz einen Sinn. Er diente letztlich ihrem zukünftigen Schutz vor möglichen unangenehmen Fragen. Wie auch immer, ich wurde aus Irina und ihrem ganzen Verhalten nicht schlau. Genauso wenig wie aus Chris. Es passte nicht zu dem rationalen, überlegten Chris, den ich zu kennen glaubte. Er müsste doch nur ein offenes Gespräch mit Irina führen, ihr erklären, wie es ihm wirklich ging. Sie würde Chris mit Sicherheit verstehen, wie es jeder vernünftige Mensch an ihrer Stelle tun würde. Mir war beängstigend klar geworden, dass, sollte sich hier nichts Grundlegendes ändern, diese beiden ohne zu übertreiben auf ein Desaster zusteuerten. Ich räumte die Pappschachteln in den Müll, holte mir eine Flasche Wasser und setzte mich in meinen Sessel vor dem Kamin. Für heute hatte ich mehr als genug von dieser Geschichte. Sie ging mir zu nahe und ich brauchte Abstand. Die beste Möglichkeit abzuschalten war wieder das Manuskript von Chris zu lesen. Mich auf das Buch und meine Welt mit Geraldine zu konzentrieren.

Schreibe einen Kommentar