Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 9 – Die dünne rote Linie

   Chris Aufzeichnungen rund um Irinas Geburtstag bereiteten mir nach wie vor großes Kopfzerbrechen. Ich war mir mittlerweile zwar wieder sicher, dass es nicht Irinas Bestreben war Chris zu verunsichern oder gar zu verletzten und alles eine logische und vernünftige Erklärung haben musste. Auch meine große Sympathie, die ich für Irina seit ihrer Rückkehr zu Chris im Januar hegte, war trotz aller mir unerklärlicher Vorkommnisse nicht verschwunden. Dennoch war ich vorsichtig geworden. Aus diesem Grund las ich in den folgenden Tagen mit großer Sorge täglich Chris Tagebuch und seine E-Mails. Ich wollte unbedingt vermeiden doch eine unangenehme Überraschung erleben zu müssen. Aber entgegen meiner latenten Befürchtung hatte es den Anschein, dass sich die Beziehung stabilisierte und die beiden sich auf einem guten Weg befanden. Anlass zur Sorge hingegen boten weiterhin Chris Notizen über seinen Gesundheitszustand. In wie weit das dem Absetzen des Medikamentes geschuldet war, oder eine normale Entwicklung darstellte, vermochte ich nicht zu beurteilen. Zu Gute kam Chris in diesen Tagen, dass Irina wieder häufig geschäftlich unterwegs war und ihm weitaus mehr seiner dringend benötigten Ruhepausen zur Verfügung standen. In diesen ruhigen und teils sehr kurzen Einträgen stach einer heraus der mein Interesse weckte. Er handelte von den Schlüsseln zu Irinas Wohnung.

„Irina hat mir heute gesagt, wo sie den Ersatzschlüssel zu ihrer Wohnung aufbewahrt. Wenn ich wollte, könnte ich ihn holen und bei ihr Zuhause auf sie warten. So lieb sie das in diesem Augenblick sicher gemeint hat, es ist eine schlechte Idee. Ich habe schon zu oft erlebt, wie müde und gereizt sie nach einem langen Tag und einer langen Fahrt ist. Das letzte was sie dann zuhause vorfinden will ist jemand der auf ihrem Sofa sitzt und auf sie wartet, dazu noch eine nervös umherlaufende Mable. So gut sollte sie sich kennen. Wenn es dann auch noch ein Tag wie heute ist, an dem es mir nicht besonders gut geht, haben wir einen versauten Abend, der schnell mit unnötigem Streit endet. Ein anderes Problem ist der nächste Morgen. Ich brauche meinen festen Ablauf. Zudem müsste ich alles wieder mitnehmen, was ich für die Nacht mitgebracht hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie für mich ihren eisernen Grundsatz, nichts von Fremden in ihrer Wohnung zu dulden brechen würde. Deshalb ist es klüger ich bleibe zuhause und ruhe mich aus, obwohl ich sie heute sehr gerne gesehen hätte.“

Chris hatte diese Einstellung von Irina, die mir durchaus vertraut war, früher bereits einmal erwähnt und ich machte mir Gedanken darüber. Sollte Irina aus dem gleichen Grund wie ich früher diese Denkweise haben, war das ein weiteres fragwürdiges Signal. Nach meiner Überzeugung konnte man es nur so verstehen, dass sie ihre Wohnung und damit ihr Leben gegen jede Form von Eindringlingen abschottete. Für eine ernsthafte Beziehung eine mehr als zweifelhafte Haltung, die sich jedoch nahtlos in die Kette der vorangegangenen Ereignisse, wie das verheimlichen der Beziehung, dem Ablauf ihres Geburtstags und den Anderen einzufügen schien. Aber auch Chris weitgehend sachliche Schilderung wunderte mich abermals. Wie schon bei den vorangegangen, mir unerklärbar gebliebenen, Vorkommnissen hätte ich auch diesmal eine emotionalere Reaktion erwartet. Eines aber wurde durch diesen Eintrag deutlich. Chris Krankheit konnte nicht das einzige Problem sein, mit dem die beiden zu kämpfen hatten. Es musste noch etwas Anderes geben. Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass die merkwürdigen Formulierungen, die Chris in seinem Tagebuch in der letzten Zeit öfter gebraucht hatte, damit zu tun haben mussten. Solange sich Chris aber nicht offen äußerte, blieben diese mit großer Wahrscheinlichkeit wichtigen Themen für mich im Verborgenen. Ganz langsam beschlich mich das Gefühl, dass sich Chris womöglich schon sehr viel länger damit beschäftigt haben musste und ich es weder im Verlauf unserer Gespräche, noch während des Lesens seines Tagebuchs bemerkt hatte. Leider wusste ich über Irina viel zu wenig, um einen annähernd brauchbaren Ansatz zu haben, was dies sein könnte. Letztlich blieb keine andere Alternative, als zu warten, bis Chris diese Themen offen ansprach.

   Außer ein paar vereinzelten SMS, deren Inhalt überwiegend das Buch war, hörte ich von Chris in diesen Tagen nichts. Auch zu Sandra hatte ich seit ihrem unerwarteten Besuch nur sporadischen Kontakt. Dafür überraschte mich die Nachricht, dass meine Corvette am Freitag den Zoll passiert hatte und im Laufe des Mittwochs per Spedition bei mir angeliefert werden sollte. Meine Freude war riesig. So schnell hatte ich nicht mit ihr gerechnet. Sie war am 24. Januar in Hauston verschifft worden und schon knapp 3 Wochen später am 12. Februar bei mir. Bevor ich sie fahren konnte mussten noch einige kleinere Arbeiten an ihr erledigt werden. Üblicherweise hatte kaum ein Auto aus dieser Zeit einen Unterbodenschutz oder eine Hohlraumkonservierung. Besonders dann nicht, wenn sie ausschließlich im überwiegend sehr trockenen Süden der U.S.A. bewegt worden sind. Bei den hiesigen Witterungsverhältnissen stellten diese Vorsorgearbeiten jedoch eine zwingende Notwendigkeit dar, wollte man nicht, dass das Fahrzeug in kürzester Zeit Rost ansetzte. Zuerst mussten allerdings etliche Kleinigkeiten, wie Scheinwerfer und Blinker umgebaut werden, damit sie hier überhaupt eine Straßenzulassung bekommen konnte. Bezüglich dieser Umbauten telefonierte ich mit einigen Fachbetrieben, die mir von Bekannten empfohlen worden waren, ließ mir Kostenvoranschläge und mögliche Termine für die durchzuführenden Arbeiten zusenden. Einer der Betriebe, der mir als besonders kompetent empfohlen worden war, konnte meine Corvette am Donnerstag sogar dazwischenschieben. Als am Mittwochnachmittag die Corvette angeliefert wurde, regnete es leicht. Ich stellte sie sofort in meine Garage neben den Mustang und trocknete sie soweit es ging ab. In der Hoffnung, dass es morgen nicht regnen würde, ging ich an diesem Abend für meine Verhältnisse ungewöhnlich früh schlafen, da ich sehr zeitig aufstehen musste, wollte ich die Corvette pünktlich in die Werkstatt bringen. Wie erhofft präsentierte sich der nächste Morgen mit blauem Himmel und ein paar kleinen Wolken. Der Wind hatte die Straßen über Nacht abgetrocknet. Ideale Bedingungen für die Fahrt zu der Werkstatt. Nach dem obligatorischen Papierkram wurde die Corvette von einem Mitarbeiter der Firma umgehend in die Halle gefahren. Der Inhaber versicherte mir, dass die Arbeiten bis zum späten Nachmittag erledigt seien und bot mir an dabei zuschauen zu dürfen. Ein Angebot, das ich gerne annahm. Wie mir versprochen worden war, wurde die Corvette tatsächlich am späten Nachmittag fertig und ich machte mich zufrieden auf den Heimweg. Zuhause angekommen stellte ich sie sofort wieder in die Garage, wo sie bis zu ihrer Versiegelung bleiben sollte. Gerade als ich das Garagentor schloss klingelte mein Handy. Ich hatte mir in den letzten Wochen angewöhnt es, im Gegensatz zu früher, stets mit mir zu führen, falls mit Chris etwas Unerwartetes sein sollte. Der Name des Anrufers, der auf dem Display angezeigt wurde überraschte und erfreute mich gleichzeitig. Es war Sandra. Nach einer freundlichen Begrüßung und einem kurzen Smalltalk, fragte sie mich, ohne näher auf den Grund einzugehen, ob wir uns heute Abend zum Essen treffen konnten. Da ich ein wenig müde war und mir der Sinn heute nicht unbedingt nach einem Restaurant stand, schlug ich ein Abendessen bei mir vor.

   Wie von Sandra nicht anders zu erwarten war, stand sie auf die Sekunde pünktlich um 19 Uhr vor meiner Türe. Nachdem ich ihr ihren Mantel abgenommen hatte ging Sandra direkt in mein Esszimmer, während ich einen kleinen Umweg durch die Küche nahm. Ich hatte für uns an diesen Abend Penne all’arrabbiata und Rucola Salat zubereitet. Mit der Schüssel Penne in der einen und dem Salat in der anderen Hand betrat ich das Esszimmer, stellte die Schüsseln auf den Tisch und nahm gegenüber von Sandra Platz. Es dauerte nicht lange, bis mich Sandra über den Grund unseres heutigen Treffens aufklärte. Genauer gesagt war es eine Frage, die sie mehr stellte.
„Weißt du, wie Chris Untersuchung gestern war? Er hat mir bis heute nicht Bescheid gegeben, wie die Ergebnisse waren. Das hat er noch nie getan.“
„Nein, weiß ich nicht“, antwortete ich verlegen Chris monatliche Untersuchung schon wieder vergessen zu haben. „Ich habe in den letzten Tagen wenig von ihm gehört.“
Meine Antwort schien Sandra nicht zu überraschen.
„Das gleiche wie bei mir. Seit ich vorletzten Freitag bei ihm zum Essen war und er mir eröffnet hat, dass er wieder mit Irina zusammen ist, meldet er sich kaum noch bei mir. Schicke ich ihm eine SMS um mich zu erkundigen wie es ihm geht, bekomme ich, wenn ich Glück habe eine kurze, nichtssagende Antwort.“
Sandra musste meine Reaktion auf diesen Namen genau beobachtet haben.
„Du warst nicht erstaunt diesen Namen zu hören. Seit wann weißt du davon?“
Jetzt blieben mir nur Sekunden zu entscheiden, was ich Sandra sagen wollte. Ohne lange darüber nachzudenken entschied ich ihr die Wahrheit zu sagen.
„Seit ich aus Scottsdale zurück bin. Chris hatte es mir sofort erzählt.“
„Das ist nicht wahr!“, entfuhr es Sandra.
Ihre Ãœberraschung war in ihrem Gesicht deutlich zu erkennen.
„Doch Sandra, es ist wahr. Ich wusste es schon, als du an diesem Sonntag zum Kaffee bei mir warst. Aber ich wollte es dir nicht sagen, da ich der Ansicht war, Chris muss es dir sagen und nicht ich. Ich hoffe, du verstehst das?“
Weniger die Tatsache, dass ich Sandra verschwiegen hatte was ich wusste, sondern dass Chris mir diese Neuigkeit sofort erzählt hatte, während er sie Sandra ein paar Tage verheimlichte, traf Sandra sichtlich. Ganz langsam, fast in Zeitlupe legte sie Löffel und Gabel auf ihren Teller und sah mich mit versteinertem Gesicht an.
„Er hat es dir also vor mir gesagt“, flüsterte sie fast unhörbar.
Es war schwierig zu beurteilen, was in Sandra in diesem Moment vorging, aber ich konnte deutlich sehen, wie sie fast verzweifelt nach Fassung rang, versuchte ihre Fassade aufrecht zu erhalten. Der Anblick, der sich mir bot, verstärkte meine Vermutung weiter, dass Chris für Sandra mehr als nur ein sehr guter Freund war. Jetzt musste ihr schlimmster Albtraum wahr geworden sein. Irina, Chris große Liebe, die von keiner anderen Frau auch nur annähernd erreichbar war, war in sein Leben zurückgekehrt und er hatte wieder eine Beziehung mit ihr. Unter normalen Umständen wäre das schon schlimm genug, hier aber gab es noch den Faktor Zeit. Chris hatte nicht mehr grenzenlos viel davon. Es gab keine Worte, die ausreichend hätten beschreiben können, wie leid mir Sandra in diesem Moment tat. Sie war es, die für Chris seit letztem Frühjahr dagewesen war, die ihn letzten Sommer begleitet hatte, ihn zu jedem Termin gefahren hatte und als sich sein Zustand im Spätsommer schließlich unerwartet gebessert hatte mit ihm in Urlaub gegangen war, dass er sich erholen und neue Kraft schöpfen konnte. Kurz, sie war immer für ihn da und nun das. Nach einer Weile hatte sie sich wieder gesammelt, griff zu Gabel und Löffel und aß weiter.
„Glaubst du Chris ist glücklich mit ihr? Denn das ist das wichtigste überhaupt. Ich freue mich wirklich für ihn, obgleich ich mir vorstellen kann, dass es für die beiden in Anbetracht seines Zustands schwierig werden wird.“
Jetzt war ich kurz davor Löffel und Gabel fallen zu lassen. Selten zuvor in meinem Leben hatte ich eine solche Selbstbeherrschung gesehen. Sandra stellte eine der unglaublichsten Fragen, die in diesem Moment gestellt werden konnte. Ich wusste nicht wie ich diese Frage beantworten sollte. Weder konnte ich ihr erzählen, was in Chris in den letzten Tagen vor sich gegangen war, welche Zweifel ihn plagten, noch wie ich zu diesen Informationen gekommen war. Geschweige denn davon, dass Chris eigenmächtig ein Medikament abgesetzt hatte.
„Ich bin überzeugt, dass Chris glücklich mit ihr wird“, beantwortete ich schließlich ihre Frage ausweichend.
In den Augen von Sandra konnte ich erkennen, dass sie meine Antwort nicht überzeugte.
„Ich hoffe nur, Irina weiß was sie tut und sie passt gut auf Chris auf“, erwiderte Sandra. „Ich befürchte nämlich, sie hat keine Ahnung, auf was sie sich eingelassen hat. Ich wünsche ihr die Kraft durchzuhalten. Sie wird mehr davon brauchen, als sie sich vorstellen kann.“
Sandra machte eine kurze Pause.
„Chris ist ein ganz besonderer Mensch. Einen, den es in unserer Zeit kaum noch gibt. Hoffentlich weiß sie zu schätzen, was sie an ihm hat.“
Sandras Gesichtsausdruck nach zu schließen, war sie davon nicht überzeugt.
„Bestimmt tut sie das, versuchte ich Sandra zu beruhigen. „Ich bin sicher, sie hat sich ihre Entscheidung nicht leichtgemacht. Abgesehen davon wusste sie genau, was mit Chris ist und hatte mehr als ausreichend Zeit sich über seine Krankheit zu informieren. Niemand kehrt leichtfertig zu einem schwer kranken Menschen zurück. Besonders nicht nach all dem, was zwischen den beiden war. Ich glaube, sie liebt ihn von ganzem Herzen und tut alles was in ihrer Macht steht.“
Noch vor wenigen Monaten wäre es für mich unvorstellbar gewesen Irina derart in Schutz zu nehmen. Obwohl ich nach der Lektüre von Chris Tagebuch Bedenken hatte und ich mir Irinas Verhalten in ein paar Punkten nicht erklären konnte, zollte ich ihr nach wie vor Anerkennung für ihren mutigen Schritt.
„Wie wollen wir jetzt vorgehen? Wir müssen erfahren, wie seine Ergebnisse waren“, kehrte Sandra zu ihrer ursprünglichen Frage zurück und überging damit alles, was ich über Irina gesagt hatte. „Höchstwahrscheinlich wäre es besser, wenn du ihn fragen würdest?“
Ich zögerte eine Sekunde. Es gab noch eine andere Möglichkeit herauszufinden wie die Ergebnisse waren, als Chris zu fragen. Nur das konnte ich Sandra nicht sagen.
„Vielleicht hast du Recht und es ist wirklich besser ich kümmere mich darum. Sobald ich etwas weiß, gebe ich dir Bescheid.“
Sandras erleichtertes Lächeln genügte mir als Antwort. Wir saßen uns eine Zeit schweigend gegenüber während ich darüber nachdachte, was Sandra über Chris gesagt hatte. Ihre Bemerkung, Chris sei ein ganz besonderer Mensch hatte meine Neugier geweckt. Die Vertrautheit unserer Unterhaltung eröffnete mir die Möglichkeit Sandra Fragen über Chris zu stellen. Ich wollte wissen, wie Sandra ihn charakterisiert. Welche Art Mensch sie in ihm sieht.
„Ich kenne Chris noch nicht lange genug, um ihn wirklich einschätzen zu können. Wir haben zwar in den letzten Monaten viel Zeit miteinander verbracht und haben etliche gemeinsame Interessen. Dennoch ist mir vieles an ihm rätselhaft geblieben. Ich verstehe ihn nicht immer. Man kann doch sicher sagen, dass es kaum jemanden gibt, der Chris besser kennt als du. Immerhin seid ihr schon ein paar Jahren sehr enge Freunde. Daher würde ich dich gerne einiges fragen. Wie schätzt du Chris ein? Was für ein Mensch ist er?“
Sandra zögerte einen Moment und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
„Das ist seit vielen Monaten eine sehr schwierig zu beantwortende Frage.
„Wieso?“, unterbrach ich Sandra.
„Was weißt du genau über Chris Krankheit und ihren Auswirkungen?“
„Wahrscheinlich nicht genug, deiner Frage nach zu schließen“, entgegnete ich. „Eigentlich nur das, was Chris mir darüber erzählt hat. Ein paar Details hat mir ein befreundeter Arzt erklärt und etliches habe ich im Internet darüber gelesen.“
Sandra blickte mich nachdenklich an.
„Dann hast du sicher auch über die psychischen Veränderungen die mit ihr einhergehen gelesen?“
„Ja, das habe ich. Einiges sogar. Allerdings habe ich dem bislang wenig Beachtung geschenkt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die geschilderten Symptome auf Chris zutreffen.“
Sandra schüttelte den Kopf.
„Das tun sie sehr wohl. Sogar viel mehr als du denkst“, sagte sie mit schwerer Stimme. „Chris hat sich durch seine Krankheit sehr verändert. Er ist kaum noch so fröhlich wie er früher war. Er lacht fast gar nicht mehr und ist oft nur zynisch. Häufig ist er ohne jeden verständlichen Grund gereizt. Er ist abweisend, ja fast kalt und sehr in sich gekehrt. An manchen Tagen wirkt er unglaublich depressiv. Seine Laune kann von einem Augenblick auf den anderen ohne Vorwarnung oder erkennbaren Anlass umschlagen. Auch seine sozialen Kontakte hat er auf ein absolutes Minimum reduziert. Deshalb bin ich so froh, dass er in dir einen neuen Freund gefunden hat, mit dem er wenigstens über einige Dinge redet.“
„Ist sich Chris dessen bewusst? Wie gesagt, auf mich hat er in den letzten Monaten überhaupt nicht den Eindruck gemacht, irgendwie launisch zu sein.“
„Schwer zu sagen“, erwiderte Sandra nachdenklich. „Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Manchmal bin ich davon überzeugt, dass Chris sich dessen bewusst ist, manchmal nicht. Das ist sehr von seiner Tagesform abhängig. Ich weiß nur, dass er es nach außen sehr gut verbergen kann. Nur bei mir gelingt ihm das meist nicht.“
Sandra griff nach ihrem Glas und trank einen Schluck, bevor sie weitererzählte.
„Im letzten Frühjahr habe ich begonnen mich intensiv mit seiner Krankheit und ihren psychischen Auswirkungen zu beschäftigen, weil das gar nicht mehr der Chris war, den ich kannte. Ich habe viel darüber gelesen und mich ein paar Mal ausführlich mit seinen Ärzten unterhalten. Sie haben mir genau erklärt, wie alles zusammenhängt und wodurch Chris Verhalten ausgelöst wird. Das nicht nur der psychische Stress einer lebensbedrohlichen Erkrankung einen Menschen verändert, sondern dass bei Chris zusätzlich die Lage seines Tumors dazu kommt. Sie gaben mir viele Tipps, wie ich mit diesen Veränderungen am besten umgehen soll. Mir hat das sehr geholfen. Ohne diese Hinweise hätte ich vieles an Chris Verhalten sicher nicht verstanden und es wahrscheinlich oft persönlich genommen.“
Sandra atmete tief durch.
„Leicht ist es deswegen trotzdem nicht für mich.“
Das konnte ich gut nachvollziehen. Trotzdem war es schwer vorstellbar, wie sich Sandra fühlen musste.
„Wie war das 2010 als Chris zum ersten Mal krank wurde? War es damals anders?“
Sandra schien kurz nachzudenken
„Das ist schwer zu sagen. Damals lag sein Tumor geringfügig anders.“
Nach dieser kurzen und wenig aussagekräftigen Antwort wandte Sandra ihren Blick von mir ab, betrachte die Rossioglossum Grande auf dem Sideboard, bevor sie mich wieder direkt ansah.
„Erinnerst du dich daran, als ich dir vor Weihnachten sagte, dass es keinen Sinn hat Chris gewisse Dinge zu fragen? Er erst redet, wenn er soweit ist. Dieser Zug von Chris hat sich letzten Winter verstärkt. Er fing an sich immer stärker abzukapseln. Zuerst von anderen, dann auch von mir und das nicht erst seit dem Vorfall im Krankenhaus letzten Oktober. Der hat alles nur noch viel schlimmer gemacht“.
Sandra schaute mich prüfend an, als wollte sie sich vergewissern, dass ich mich daran erinnerte, was sie mir im Dezember über diesen Tag berichtet hatte. Chris Verschlossenheit musste sie sehr beschäftigten, wie sonst war es zu erklären, dass sie dieses Thema mittlerweile zum dritten Mal angeschnitten hatte. Ich nickte zustimmend und Sandra sprach weiter.
„Chris spricht fast überhaupt nicht mehr über seine Ängste und Gefühle. Mitunter kann selbst ich sie nur erraten“, seufzte Sandra nach einer kurzen Pause. „Ich denke wir gesunden Menschen können nicht im Entferntesten nachvollziehen, was in Menschen wie Chris vor sich geht, was sie beschäftigt, welche Ängste sie umtreibt. Wir können darüber reden und lesen so viel wir wollen. Wir werden es nicht verstehen. Wir können lediglich für sie da sein. Ihnen das Gefühl geben, dass sie nicht alleine sind. Mehr können wir nicht tun.“
Sandras Augen waren glasig geworden und sie schluckte schwer.
„Chris hat einmal meine Frage, wie er sich fühlt so beantwortet: Stell dir vor du hast 5 Tage Steine geschleppt, hast dazu die schlimmste Migräne deines Lebens und die größte Depression, die du dir vorstellen kannst. Gleichzeitig hält dir jemand eine geladene Waffe an den Kopf und du weißt nicht wann er abdrückt. Du weißt nur, dass er es tun wird.“
Mir stockte der Atem bei dieser Beschreibung. In der ganzen Zeit in der ich mich mit Chris, seinem Leben und seiner Krankheit befasst hatte, war mir nie eine bessere Umschreibung, wie er sich fühlen musste begegnet. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass man Angst bis zu einem gewissen Punkt soweit verdrängen konnte, dass sie nicht mehr pausenlos die Kontrolle über einen hatte. Trotzdem waren meine Erfahrungen nur bedingt mit dem vergleichbar, was Chris erleben musste. Im Gegensatz zu ihm hatte ich immer die Chance mich aktiv gegen die Lebensgefahr zur Wehr zu setzen. War es durch den Gebrauch von unwiderstehlicher Gewalt oder durch schlichtes Zurückziehen. Hat man diese Möglichkeiten aber nicht, fühlt man sich hilflos der Situation ausgeliefert. Ich sah mir Sandra genau an. In ihren Augen standen Tränen. Es musste sehr schwer für sie sein über diesen Aspekt von Chris Krankheit offen zu sprechen. Dessen ungeachtet wollte ich von ihr wissen, warum mir bislang nichts aufgefallen war. Bevor Sandra meine Frage beantwortete, griff sich nach ihrer Handtasche, holte ein Packung Taschentücher heraus und wischte sich eine Träne von ihrer Wange.
„Du kennst Chris erst seit er krank ist. Deshalb hast du keinen Vergleich“, erklärte Sandra mit auffallend unruhiger Stimme. „Zudem versucht Chris sich bei Dritten, wie ich bereits sagte, immer sehr zusammen zunehmen. Nicht nur physisch wie du in den letzten Monaten gesehen hast, sondern vor allem psychisch. Er versucht fast jedem, soweit er dazu in der Lage ist, Normalität in jeder Hinsicht vorzuspielen. Das wird er durchhalten, solange es ihm irgendwie möglich sein wird. Genau wie letztes Jahr. Nur bei mir hatte er damals weitgehend eine Ausnahme gemacht.“
Ich erkannte, dass jetzt der Punkt erreicht war, an dem ich Sandra besser keine Fragen mehr in diese Richtung stellen sollte. Ihr Gesichtsausdruck, ihre ganze Körperhaltung hatte sich verändert. Sie war an ihren Grenzen angelangt. Stattdessen versuchte ich mit der Frage, was Chris für ein Mensch war als er noch gesund war, positive Erinnerungen an ihn in ihr zu wecken. Sandra überlegte einen Moment, bevor sie mit einem verträumten Lächeln sagte:
„Chris ist ein sehr humorvoller und unterhaltsamer Mensch. Wir hatten immer sehr viel Spaß. Das ging manchmal sogar so weit, dass ich ihn bremsen musste, bevor es mir peinlich geworden wäre. Egal, ob wir nur Essen waren oder Chris mich beim Einkaufen begleitete, er hatte immer irgendeinen Unsinn im Kopf. Das fehlt mir heute sehr an ihm.“
Mein Versuch Sandra mit positiven Erinnerung an Chris abzulenken war kurz davor schief zu gehen. Ich musste das Gespräch dringend unterbrechen, bevor Sandra wieder traurig wurde.
„Darf ich mir noch ein Glas Wein in der Küche zu holen bevor du weitererzählst?“
„Natürlich“ erwiderte Sandra mit dem Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht.
Mit einem vollen Glas Cabernet Sauvignon kehrte ich kurz darauf wieder aus der Küche zurück. Ich hatte kaum Platz genommen, als Sandra weitersprach.
„Aber das ist nur eine Seite von ihm. Er ist ein sehr geduldiger Mensch, mit hohen moralischen, ja fast altmodischen Wertvorstellungen. Außerdem ist Chris jemand, der mehr von seinem Verstand, als von seinem Gefühl geleitet wird. Dementsprechend schwer ist es, ihn aus der Reserve zu locken. Er ist zu überlegt. Meistens bleibt er ruhig und analysiert gleichzeitig genau, warum etwas passiert. Er sagt immer, jedes Problem hat eine Ursache und damit auch eine logische Lösung. Um ein Problem zu lösen muss man die Ursache finden und diese ausschalten, nicht die Symptome bekämpfen. Zufälle gibt es für ihn nicht. Alles hat eine Erklärung. Deshalb kann Chris auf den ersten Blick emotionslos wirken, ohne das wirklich zu sein. Ganz im Gegenteil, er ist ein sehr gefühlvoller Mensch. Nur einer, der seine Gefühle einfach ausgezeichnet unter Kontrolle hat und sie nur den Menschen zeigt, denen er voll und ganz vertraut.“
Sandra beobachte meine Reaktion und musste zu der Erkenntnis gekommen sein, dass ich nicht ganz verstanden hatte, was sie mir damit sagen wollte. Während ich mir eine Zigarette anzündete setzte sie ihre Ausführung fort.
„Ich will versuchen es dir zu erklären. Als Raschka, die Hündin, die er vor Mable hatte, schwer krank wurde, hat sich Chris nach außen nichts anmerken lassen und nur mit sehr wenigen Menschen darüber gesprochen. Wie er sich wirklich fühlte wussten nur seine engsten Freunde und ich.“
„Ich kenne Fotos von Raschka“, stoppte ich Sandra. „Sie war viel größer als Mable. Hattest du vor ihr keine Angst?“
Sandra lächelte.
„Zu Anfang schon, riesige sogar. Immerhin war sie zur Hälfte eine belgische Schäferhündin. Aber meine Angst verflog sehr schnell. Im Gegensatz zu Mable, deren Hektik und Unruhe mich immer wieder erschreckte und mir lange Angst machte, war Raschka ein sehr ruhiger Hund und ich fasste schnell vertrauen zu ihr. Immer wenn ich bei Chris war, kam sie ganz langsam zu mir und drückte ihren Kopf an meine Beine, bis ich sie streichelte.“
Es war deutlich zu sehen, dass die Erinnerung an Raschka Sandra traurig stimmte.
„Also war sie genauso lieb, wie Mable?“
„So kann man das nicht sagen“, schränkte Sandra ein. „Wenn Raschka jemand nicht mochte, ließ sie diese Person das deutlich spüren. Manchmal mit Knurren und eindeutigen Drohungen. Wenn sie gespürt hat, dass Chris jemand nicht mochte, dann wich sie ihm nicht von der Seite. Sie hat ihren Chris immer bewacht. Und Raschka war beileibe kein Hund mit dem man Ärger haben wollte.“
Sandras Atem war schwer geworden und ihr Blick schweifte kurz unruhig durch den Raum.
„Als Raschka krank wurde und klar war, dass sie nicht überleben wird, hat Chris mich dauernd angerufen. An manchen Tagen bis zu zehn Mal. Dabei hat er mir nicht nur erzählt wie es Raschka ging, sondern auch wie er sich fühlte. Das waren schlimme Wochen. In dieser Zeit war ich fast jeden Abend bei Chris. Es war unglaublich, wie liebevoll er sich um seine Hündin gekümmert hat. Gleichzeitig hat er mir immer gezeigt, wie froh und dankbar er war, dass ich bei ihm war. Den Tag, an dem Raschka eingeschläfert werden musste, werde ich nie vergessen. Chris saß den ganzen Tag wie ein Häuflein Elend auf seinem Sofa und weinte. Es war unmöglich ihn zu trösten. Ich hielt ihn stundenlang im Arm, während er auf ihre Decke starrte und kein Wort sprach. Ab und zu nahm er meine Hand und hielt sie fest. So verbrachten wir die ganze Nacht. Am nächsten Tag, als wir zu einem Tierkrematorium fuhren, war es noch schlimmer. Wäre ich nicht gefahren, wären wir nie dort angekommen. So traurig alles war, Chris hat mich die ganze Zeit an seinen Gefühlen teilhaben lassen. Verstehst du, was ich damit sagen will?“
Obwohl die Geschichte von Raschka sehr traurig war, ließ sich in Sandras Gesicht weniger die Trauer über Raschka und deren Schicksal erkennen, als vielmehr die Zufriedenheit, dass Chris sie an allen seinen Gefühlen hatte teilhaben lassen. Sandra nahm ihr Glas und trank einen Schluck Orangensaft. Ich nickte bestätigend und ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor ich Sandra meine nächste Frage stellte.
„Als wir vor Weihnachten gemeinsam gebacken hatten, hast du gesagt, Chris sei ein Dickkopf und kann extrem stur sein. Widerspricht das nicht deiner Einschätzung von ihm als geduldiger Mensch?“
Sandra schüttelte leicht ihren Kopf und lächelte wieder.
„Nein, tut es nicht. Hat er ein Ziel vor Augen wird er alles tun, es zu erreichen und wenn er dafür eine Ewigkeit braucht.“
„Er hat die Geduld einer Katze und die Sturheit eines Maultiers“ fügte sich lachend hinzu.
Es war schön Sandra wieder lachen zu sehen.
„Mir ist aufgefallen, das Chris sehr gebildet ist und das nicht nur einseitig.“
„Stimmt“, erwiderte Sandra mit leuchtenden Augen. „Deshalb liebe ich es, mich mit ihm zu unterhalten. Manchmal ist es schier unglaublich, was Chris alles weiß. Letzten Sommer waren wir an einem der wenigen Tage an dem es ihm einigermaßen gut ging in einem Technikmuseum. Chris hatte sich das gewünscht. Es war faszinierend was er alles über die Autos und Flugzeuge wusste. Es war weit mehr, als an den Tafeln oder in dem Führer stand, den ich mir gekauft hatte.“
Sandra wirkte beinahe entrückt, als sie über den Besuch in diesem Museum berichtete. Ein Tag, an den sie sich offensichtlich sehr gerne erinnerte.
„Aber Chris ist auch sehr klug“, fuhr Sandra fort. „Bildung kann man sich anlesen, Intelligenz nicht.“
Sandra unterbrach ihre Ausführungen für einen Moment und schien zu überlegen.
„Leider ist Chris aber auch sehr bequem. Ich habe nie verstanden, warum er in dieser kleinen Computerfirma arbeitet. Er hätte so viel mehr aus sich machen können. Aber das ist eben auch Chris. Ein Mensch, der zufrieden mit sich ist.“
„Darf ich dich noch etwas fragen?“, leitete ich höflich meine nächste Frage ein.
Sandra nickte zustimmend.
„Du hast einmal gesagt Chris kann manipulativ sein.“
„Ja, wenn er etwas erfahren will, oder ein bestimmtes Ziel verfolgt. Darin ist er sehr gut. Er kann Menschen denken lassen, sie handeln aus freien Stücken, dabei machen sie genau das, was Chris von ihnen will.“
„Hat Chris das mit dir auch schon gemacht?“
Sandra zog ihre Augenbrauen hoch.
„Ein paar Mal.“„Dann warst du bestimmt sauer auf ihn, als du es bemerkt hast?“
„Nein“, widersprach Sandra. „Er hat mich damit jedes Mal vor einer Dummheit bewahrt. Chris nutzt diese Fähigkeit nie zu seinem persönlichen Vorteil. So etwas würde er nie tun.“
Während Sandra wieder zu überlegen schien, drückte ich meine Zigarette im Aschenbecher aus und wartete, was sie mir noch über Chris sagen würde.
„Zwei Dinge über ihn solltest du unbedingt noch wissen“, setzte sie ihre Einschätzung von Chris kurz darauf mit einem bestimmenden Unterton fort. „Erstens, du darfst ihn niemals anlügen. Er findet es immer heraus und reagiert sehr heftig darauf. Er sagt, die meisten Lügen sind idiotisch und nicht durchdacht, daher leicht zu durchschauen. Es gibt nur wenige Menschen, die wirklich gut lügen können. Ich meine damit nicht die kleinen Notlügen, die wir alle gebrauchen, sondern die wirklich großen Lügen.“
„Und das zweite, das ich unbedingt wissen sollte?“, fragte ich interessiert nach.
Sandras Gesichtsausdruck wurde ernst.
„Das hängt unmittelbar damit zusammen. Chris hat feste Grenzen, die nicht verhandelbar sind und die man besser nicht überschreitet. Die dünne rote Linie, wie er sie nennt. Überschreitet jemand diese Grenzen gibt es kein Zurück mehr. Nie wieder. Diese Person könnte dann genauso gut gestorben sein. Er ist darin erschreckend konsequent. Ich habe es miterlebt. Chris sagte in diesem Zusammenhang einmal zu mir: Grenzen haben nur dann einen Sinn, wenn sie verteidigt werden. Wer sie dennoch überschreitet muss sich darüber im Klaren sein, was dann passieren wird und bereit sein die Konsequenzen seines Handelns zu tragen.“
Sandra sah mich direkt an und ihre Augen funkelten dabei auffällig.
„Noch etwas fasziniert mich an Chris. Sein Gedächtnis. Er vergisst nie was jemand gesagt hat. Manchmal ist das fast beängstigend. Einmal hat er mir den genauen Wortlaut einer Unterhaltung wiedergegeben, die wir ein Jahr zuvor geführt hatten.“
„Das ist mir auch schon aufgefallen“, unterbrach ich Sandra. „Beim Kartenspielen kann sich Chris jede gespielte Karte merken und gewinnt deshalb immer.“
Sandra schmunzelte und erwiderte:
„Deshalb macht es keinen Spaß mit ihm zu spielen. Gewinnt man Ausnahmsweise doch, dann hat Chris entweder keine Lust zum Spielen, oder er lässt die anderen gewinnen und amüsiert sich darüber.“
Mir war das nicht nur beim Kartenspielen aufgefallen. Ich erinnerte mich an die Unterhaltung während unseres Spaziergangs an Neujahr. Damals hatte ich zu Chris gesagt, er hätte mir geraten nichts zu unternehmen, bis das Buch für Geraldine fertig sei. Eine Behauptung, die nicht stimmte und die Chris umgehend widerlegte. Chris wusste sehr genau, was er gesagt hatte. Mein Versuch ihm seine Worte im Mund herumdrehen zu wollen, oder ihm die eigene Interpretation seiner Aussagen unterzuschieben, war sinnlos. Das hatte ich damals erkennen müssen.
„Ach, es gibt so vieles, was ich dir noch über Chris erzählen könnte“ fuhr Sandra mit verklärtem Blick fort. „Aber das meiste kannst du selbst herausfinden. Du musst ihm nur immer sehr genau zu hören. Das ist am allerwichtigsten bei ihm. Sonst entgeht dir vieles.“
Diese Worte Sandras stimmten mich nachdenklich und ich fragte mich, wieviel mir schon entgangen war, weil ich Chris nicht genau zugehört hatte.

   Am Ende unseres überaus interessanten und aufschlussreichen Gespräches äußerte Sandra den Wunsch, in Zukunft engeren Kontakt zu halten. Wir vereinbarten uns regelmäßig zu treffen und unser Wissen auszutauschen. Mir drängte sich der Verdacht auf, dass Sandra vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse Chris nicht mehr ganz vertraute, beunruhigt war und sich auf diese Weise absichern wollte. Unmittelbar nachdem Sandra gegangen war, begab ich mich in mein Arbeitszimmer, fuhr meinen Computer hoch und loggte mich auf Chris Rechner ein. Ungeduldig rief ich das Verzeichnis mit seinem aktuellen Tagebuch auf und öffnete den Eintrag von gestern.

„Die Untersuchung heute war nicht so erfreulich, wie ich es mir erhofft hatte. Die Ergebnisse waren genau die, die ich nicht hören wollte. Sie sprechen zwar weiter von Oktober bis Januar, aber jetzt im aller günstigsten Fall. Irgendwie war das zu erwarten. Auf den Bildern konnte sogar ich erkennen, dass das Ding seine Richtung wieder geändert hat. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, wird es weniger Zeit sein und ich könnte schneller als gedacht wieder den Zustand von letztem Juni erreichen. Das ist für alles zu wenig Zeit. Erleichtert war ich darüber, dass bei der Blutuntersuchung das Absetzen dieser Tabletten noch nicht aufgefallen ist. Ich kann mir gut vorstellen, was das bei der nächsten Untersuchung für einen Ärger geben wird. Aber es ist alternativlos. Den ganzen Tag über geisterte mir ein Satz von Irina im Kopf herum: Du willst doch mit mir alt werden. Das ist zwar mein größter Wunsch, aber dafür muss ich Stand heute sehr bald eine Entscheidung treffen, für die ich dachte viel mehr Zeit zu haben. Jetzt muss ich mich spätestens im April entscheiden und nicht erst im Oktober, wie ich es vor hatte, ob ich diese Behandlung machen möchte oder nicht. Allein die Vorstellung der Nebenwirkungen der Medikamente ist schon heftig genug. An die Operationen will ich erst gar nicht denken. Es ist ein hohes Risiko, aber es ist der einzige Weg. Während des ganzen Heimwegs habe ich mir überlegt, wie ich es Irina am besten beibringe, ging im Kopf alles wieder und wieder durch. Doch das besorgte Gesicht von Irina auf meinem Sofa als ich nach Hause gekommen bin, hat mir gereicht um nicht mehr über den Tag reden zu wollen. Es bestätigte das Gefühl, das ich seit 2 Wochen habe. Sie belastet das ganze doch mehr, als sie zugibt und darüber reden will oder kann sie nicht. Dazu kommt noch, dass ihr Job und alles andere um sie herum sie wieder stresst und sie wieder immer öfter in diesen vollkommen unnahbaren Zustand zurückfällt. Ich kann spüren, wie sie dann zu schwanken beginnt und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Selbst wenn ich offen mit ihr reden würde, würde das mit großer Wahrscheinlichkeit nichts ändern. Noch ist Irina lange noch nicht so weit, wie sie glaubt zu sein. Mich verunsichert das stärker, als mir lieb ist. Gleichzeitig bestätigt es, was ich von Anfang an dachte. Aus diesen Gründen habe ich mich entschieden, ihr zu sagen, dass alles in Ordnung ist und sie sich um mich keine Sorgen machen muss. Eine notwendige Lüge, die mir sehr schwer gefallen ist.“

„…Warum können wir nicht ein Leben haben, wie ein normales Paar? Uns eines Tages die Köpfe einschlagen, mit Messern nach uns werfen, uns an die Gurgel gehen und uns hinterher wieder versöhnen? Das alles wäre besser als das, was ich hier auf uns zukommen sehe. “

„Ich habe heute Irina in die Liste eintragen lassen. Ein logischer und notwendiger Schritt. Sie ist die Frau in meinem Leben.“

Bestürzt schloss ich die Datei wieder. Mir fiel schwer zu glauben, was ich gerade gelesen hatte. Dass sich Chris Zustand wieder etwas verschlechtert hatte, war zu erwarten gewesen. Sandra hatte schon nach seiner Untersuchung im Januar darauf hingewiesen, dass sich Chris Gesundheit langsam aber stetig verschlechtern wird. Doch seine Gedanken galten weniger seiner Gesundheit, sondern beinahe ausschließlich Irina. Alles erinnerte frappierend an das Jahr zuvor. Am meisten erstaunte mich allerdings, dass Chris von einer Behandlung schrieb. Er hatte mir gegenüber nie davon gesprochen und ich war mir sicher, auch Sandra wusste davon nichts. Das hätte sie mit Sicherheit spätestens heute Abend erwähnt. Aber noch ein Detail stach mir heute ins Auge, das mir die ganzen Tage zuvor nicht aufgefallen war. Früher hatte Chris, wenn er über Irina schrieb, außergewöhnlich selten ihren Vornamen benutzt und sie stattdessen immer Sonnenschein genannt. Dieser Kosename war mir seit Ende Januar, als ich wieder angefangen hatte sein Tagebuch zu lesen, nicht mehr begegnet. In seinen E-Mails nannte er sie zwar weiterhin so, aber in seinem Tagebuch benutzte er fast ausnahmslos ihren Vornamen. Ich fragte mich, ob das etwas zu bedeuten hatte. Konnte das Vermeiden ihres Kosenamens ein Hinweis sein, wie Chris unsicher war? Bei dieser Vorgeschichte und allem, was in den letzten Wochen passiert war nicht undenkbar. Obwohl er zu keinem dieser Ereignisse Stellung genommen hatte, konnte ich mir kaum vorstellen, dass diese spurlos an Chris vorbeigegangen waren. Im Gegenteil, solche Vorfälle mussten ihre Spuren hinterlassen haben. Dagegen beruhigte mich die Tatsache, dass Chris Irina auf die Liste der im Notfall zu benachrichtigenden Personen setzen lassen hatte. Ein notwendiger Schritt in die richtige Richtung. Immerhin war sie seine Freundin und hatte das Recht auf dieser Liste zu stehen. Allerdings konnte dieser Schritt in letzter Konsequenz dazu führen, dass Irina und Sandra im unglücklichsten aller Augenblicke aufeinandertreffen konnten. Ob Chris dieses mögliche Szenario wirklich bedacht hatte? Mehr als diese sicher unglückliche Situation, die hoffentlich noch in ferner Zukunft lag, interessierte mich indes, von welcher Behandlung Chris geschrieben hatte. Ich musste unbedingt wissen, ob Chris in den Aufzeichnungen seiner vorangegangenen Untersuchungstermine etwas darüber geschrieben hatte. Als erstes suchte ich den Eintrag seiner Untersuchung vom Januar, fand dort aber keinen Hinweis. Danach öffnete ich die Datei Q4 im Ordner 2013. Ich wusste noch, dass Chris monatlichen Untersuchung in der Woche nach dem 2. Advent gewesen war, dementsprechend schnell fand ich seine Notizen über diesen Tag. Chris hatte damals geschrieben, dass er im Anschluss an seine Untersuchung ein längeres Gespräch mit seinen Ärzten geführt hatte. Gegenstand dieses Gesprächs war unter anderem diese Behandlung. Leider führte Chris weder genau aus, wie diese Behandlung ablaufen würde, noch um welche Art Behandlung es sich handelte. Im weiteren Verlauf des Eintrags setzte sich Chris ausführlich mit der Frage auseinander, ob er diese wohl nicht risikofreie und neue, noch selten erprobte, Behandlung machen wollte. Am Ende kam er für sich zu dem Ergebnis, dass im Augenblick keine Notwendigkeit bestand ein derart unkalkulierbares Risiko einzugehen und er diese Entscheidung solange wie möglich hinauszögern wollte. Obwohl mir bewusst war, dass das Internet mir mit Sicherheit nicht wesentlich weiterhelfen würde, versuchte ich dennoch mein Glück und recherchierte über neue Behandlungsmethoden bei seiner Diagnose. Tatsächlich fand ich zwei Hinweise auf eine neuartige Behandlungsmethode. Beide waren allerdings ohne genaue medizinische Kenntnisse kaum brauchbar und bezogen sich zudem immer auf Einzelfälle, die nicht unbedingt auf Chris Anamnese passen mussten. Ich war höchst unzufrieden mit diesem Ergebnis und dachte über andere Wege nach, mehr in Erfahrung zu bringen. Eine Möglichkeit wäre Carsten erneut zu befragen. Aber dieser war Chirurg und wusste mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genauso wenig darüber, wie ich. Mehr Alternativen fielen mir nicht ein. Das Beste wäre nach wie vor, Chris würde mit uns und damit meinte ich Irina, Sandra und mich, endlich ein offenes Gespräch führen. Uns alles erzählen. Nur so konnten wir in den nächsten Monaten für ihn da sein. Unterdessen war es ein paar Minuten vor Mitternacht geworden und ich warf noch einen kurzen Blick auf den Zeitstempel seiner aktuellen Tagebuchdatei. Sie trug noch immer das Datum von gestern. Chris hatte heute nichts geschrieben. War das in im letzten Jahr vielfach ein Zeichen dafür, dass es ihm an diesem Tag nicht gut ging, so war es seit er wieder mit Irina zusammen war ein Indiz dafür, dass sie bei ihm übernachtete. Wenigstens darüber beruhigt, dass die beiden vermutlich die Nacht gemeinsam verbrachten, fuhr ich meinen Computer herunter. Ich kannte jetzt nicht nur die Untersuchungsergebnisse, sondern auch Chris Überlegungen eine neuartige Behandlung zu beginnen, hatte aber keine Vorstellung, wie ich das Sandra mitteilen sollte. Die Wahrheit, wie ich zu dazu gekommen war, konnte ich ihr nicht sagen. Anlügen, indem ich ihr weiszumachen versuchte, Chris hätte sie mir mitgeteilt war ebenso wenig eine Option. Würde sie Chris darauf ansprechen, warum er mir aber nicht ihr davon berichtete, käme mein ganzes Handeln und der damit verbundene Vertrauensbruch ans Licht. Mit Sicherheit würde ich mit unangenehmen Fragen konfrontiert werden und zwei mir wertvolle Freunde verlieren. Meine Hoffnung war, dass Chris Sandra spätestens Morgen wenigstens seine Ergebnisse von sich aus mitteilen würde. Ein in vielerlei Hinsicht interessanter Tag war vergangen. Ich hatte eine Menge über Chris und noch mehr über seine Krankheit erfahren, über das ich erst in Ruhe nachdenken musste. Gleichzeitig war es der erste Tag seit langem, an dem ich erst als ich mich auf den Weg in mein Bett machte an Geraldine dachte. Die Ereignisse des Tages hatten mich abgelenkt, aber in der Stille der Nacht kehrte das Gefühl, sie endlos zu vermissen, mit großer Macht zurück.

   Mein üblicher Wocheneinkauf war heute zu einem Hindernislauf um die überall herumstehenden Valentinstag Angebote verkommen. Blumen, Pralinen und andere kleine Geschenkideen standen als stumme Mahnmale für vergessliche Männer unausweichlich im Weg. Selbst der Metzger hatte die grandiose Idee heute Wurst in Herzform anzubieten. Früher hatte ich diesem Tag nie besondere Beachtung geschenkt. Hatte ich an diesem Tag zufällig eine Freundin kaufte ich ihr, nicht ganz uneigennützig, natürlich ein paar Blumen. Rote Rosen hatte ich dabei jedoch stets vermieden. In diesem Jahr war das anders. Ich erinnerte mich an eine Szene, die ich in Chris Manuskript gelesen hatte. Sie spielte am Valentinstag und im Mittelpunkt stand Geraldine, oder die Figur, die ich für Geraldine hielt und ihre romantischen Vorstellungen. Begreiflicherweise waren deshalb heute jeder Blumenstrauß und jede Pralinenschachtel für mich eine Erinnerung an Geraldine. Erstaunlich was Bücher anrichten können. Der irrationalen Versuchung knapp entronnen Geraldine wenigstens ein paar Marzipanpralinen zu kaufen, die sie sehr mochte, es aber stets vehement verleugnete, machte ich mich auf den Heimweg. Ich hatte mir gerade ein paar Brote gemacht hatte, als Sandra anrief. Erleichtert unterrichtete sie mich darüber, dass Chris sie heute über die Ergebnisse seiner Untersuchung informiert hat und sich auch für die Verspätung entschuldigte. Chris hatte ihr mitgeteilt, dass soweit alles in Ordnung sei und kein Anlass zur Sorge bestehen würde. Alle Werte seien den Umständen entsprechend normal. Dementsprechend beruhigt und zufrieden wirkte Sandra.

   Chris hatte Sandra also eindeutig nicht die Wahrheit gesagt, sondern ihr eine geschönte Version verkauft. Genauso, wie er ihr seine Überlegungen bezüglich dieser Behandlung verschwiegen hatte. Eine schwierige Situation war entstanden. Jetzt verschwieg Chris nicht nur Irina, sondern aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen auch Sandra seine wahren Untersuchungsergebnisse. Im Gegensatz zu seinen Motiven, warum er diese Irina verschwieg, gab es was Sandra anbelangte keine Möglichkeit herauszufinden, warum Chris so handelte. Mit diesem unguten Gefühl aß ich meine Brote und setzte mich anschließend mit J.D. Salinger „The Catcher in the Rye“ in einer der Ledersessel vor meinen Kamin. Es war lange her, dass ich zuletzt ein Buch gelesen hatte. Im letzten Jahr hatte ich fast ausschließlich Chris Tagebuch, seine Gedichte und Kurzgeschichten gelesen, nur hin und wieder hatte ich in Büchern über Autos und Whisky geblättert Bevor ich kurz nach Mitternacht schlafen ging, warf ich noch einen Blick in Chris Tagebuch. Wie an jedem 14. des Monats, hatte er auch heute zusammen mit Mable Rashkas Grab besucht. Mit Verwunderung stellte ich zudem fest, dass ich heute nicht der einzige war, der diesen Abend alleine Zuhause verbracht hatte. Irina hatte sich mit ihrer Familie und ein paar Freundinnen ins Nachtleben gestürzt. Ungewöhnlich für den Valentinstag eines Paares, dem nicht viel Zeit verblieb. Bevor ich die Verbindung trennte, warf ich einen Blick auf den Zeitstempel seines Eintrags, 21:49. Er ließ darauf schließen, dass Chris heute früh zu Bett gegangen war. Offensichtlich nutzte er Irinas Abwesenheit, um sich zu erholen, damit er für das bevorstehende Wochenende ausgeruht genug war, Irina so gut es eben geht weiter Normalität vorspielen zu können.

   Eine angenehme Überraschung wartete am nächsten Morgen in meinem Briefkasten auf mich. Ein befreundeter Oldtimerhändler hatte mir vier Freikarten für eine der größten Messen für historische Fahrzeuge in Europa geschickt, die vom 14. bis zu 16. März gewissermaßen vor meiner Haustüre stattfindet. Ohne zu zögern, rief ich Chris an und fragte ihn, ob er Lust hätte mich zu begleiten. Streng genommen eine überflüssige Frage, wenn man Chris einigermaßen kannte. Voller Begeisterung sagte er sofort zu. Mit dem Hintergedanken Irina endlich offiziell kennenzulernen, erwähnte ich, dass ich vier Karten bekommen hatte und schlug vor, dass Irina uns doch begleiten könnte. Chris Reaktion auf meinen Vorschlag war nicht die von mir erhoffte. Zunächst erklärte er mir, dass Irina geschäftlich schon oft genug auf Messen gehen musste und sie Messen überhaupt nicht mochte. Weiter führte er aus, dass sie am Wochenende ohnehin immer sehr viel zu tun hatte, stets von einem Termin zum anderen hetzte und viele ihr wichtigen privaten Verabredungen hatte. Sie somit sicher keine Zeit für in ihren Augen unsinnige Aktivitäten zu verschwenden hatte. In meinen Ohren klang das nach einer Ausrede, deren Grund mir nicht ganz klar wurde. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Irina nicht gerne mit Chris etwas unternommen hätte, von dem sie wusste, dass es Chris großen Spaß bereiten würde. Am Ende hielt ich es für besser nicht weiter nachzufragen und beließ es dabei.

   In den letzten zwei Wochen seit Chris Untersuchung hatte sich weniger ereignet als in den Wochen zuvor. Ruhe war dennoch nicht eingekehrt. Regelmäßig, meistens alle zwei Tage, las ich in seinem Tagebuch um mich zu vergewissern, wie es ihm tatsächlich ging. Seit Chris eigenmächtigem Absetzen dieses Medikaments war ich in großer Sorge um ihn. Seinem Tagebuch konnte ich entnehmen, dass das Absetzen des Medikaments den von Chris gewünschten Effekt hatte. Die einschränkenden Nebenwirkungen waren verschwunden und dieser Teil der Beziehung schien für beide Seiten jetzt einigermaßen befriedigend in Ordnung zu sein. Es blieb nur die Frage offen, zu welchem Preis. Dafür boten andere Vorkommnisse Anlass zur Sorge. Chris berichtete in seinem Tagebuch von einer Reihe verschiedener Ereignisse, die mir das Gefühl vermittelten, die Beziehung der beiden entwickelte sich eine Richtung, die mir nicht sonderlich behagte. Insbesondere drei Einträge stachen in diesem Zusammenhang hervor. Im ersten berichtete Chris von einem Disput im Anschluss an einen gemeinsamen Hundespaziergang. Vorausgegangen war diesem ein Streit zwischen Irina und einer anderen Hundehalterin. Laut Chris Tagebuch hatte sich diese Hundehalterin über Irina aufgeregt, die es zugelassen hatte, dass Baghira sich ihrem Rüden genährt hatte. Dieser hatte auf Baghiras Annäherung mit Aggression reagiert und es kam beinahe zu einer Beißerei zwischen den beiden Rüden. Chris, der mit Mable etwas Abseits stand, hatte sich aus der sich anschließenden lautstarken und hitzigen Diskussion der beiden Frauen, die sich gegenseitig beschuldigten verhaltensgestörte Hunde zu haben, herausgehalten. Auf dem Heimweg wurde Chris von Irina dafür nachdrücklich kritisiert. Sie hatte ihm vorgeworfen, nicht Partei für sie ergriffen zu haben. Ein Verhalten, dass für Irina ein Zeichen war, dass er nicht zu ihr stünde. Chris hielt es für klüger, nicht auf diesen Vorwurf einzugehen und mit Irina eine in seinen Augen zu diesem Zeitpunkt unnötige Diskussion zu führen und schwieg stattdessen. Der gemeinsame Abend endete verfrüht damit, dass Irina verschnupft nach Hause ging, da Chris, der den ganzen Abend schweigsam geblieben war, um keine unnötige Diskussion über dieses Thema zu provozieren, nach ihrer Meinung nicht beziehungsfähig sei. Für sich betrachtet hatte Irina nicht Unrecht. In einer Beziehung strittige Punkte nicht zu diskutieren und sich stattdessen der Unterhaltung ausweichend in Schweigen zu hüllen führt zu nichts. Selbst mir war das in den letzten Wochen langsam klargeworden. Allerdings konnte man diesen Vorfall auch ganz anders betrachten. War es nicht denkbar, dass Chris Schweigen und damit verbunden dem Ausweichen einer Diskussion eine unterbewusste Reaktion auf Irinas Äußerung, niemand dürfte jemals von dieser Beziehung erfahren, war? In meinen Augen nicht unwahrscheinlich. Immerhin hatte Irina damit Chris sehr deutlich zu verstehen, dass sie ebenfalls nicht zu ihm steht. Der zweite interessante Eintrag handelte erneut von einer Äußerung Irinas. Chris hatte ihr während des gemeinsamen Spazierganges mit den Hunden erzählt, was an diesem Tag bei ihm in der Firma los gewesen war und wie sehr er sich darüber geärgert hatte. Daraufhin musste Irina ihn heftig angefahren haben und ihm in aller Deutlichkeit gesagt haben, dass sie seinen Mist nicht hören will. Ihr würde es reichen, wenn ihre Mitarbeiter, ihre Familie und ihre Freunde ihre ganzen Probleme bei ihr abladen, um die sie sich dann kümmern musste. Er solle seine gefälligst für sich behalten. Sie hätte genug Probleme und wollte nicht noch mehr hören. Natürlich konnte Irina einen schlechten Tag gehabt haben. Jeder von uns hat schlechte Tage. Dennoch wunderte ich mich über die Häufung ihre gedankenlosen Äußerungen. In die gleiche Richtung deutete der dritte. Er handelte von einer Äußerung Irinas, die mit missglückt noch freundlich umschrieben wäre. Der Auslöser war eine Diskussion über den Tagesablauf von Chris, in deren Verlauf Irina ihm vorgeworfen hat unflexibel zu sein. Nach Chris Darstellung hatte Irina ihm an den Kopf geworfen, dass sie sich nicht nach ihm richten kann. In ihrem Leben würde es wichtigere Dinge und Menschen geben auf die sie Rücksicht nehmen müsste. Zudem sei sie nicht dazu da, ihm das Leben angenehmer zu machen, sondern andersherum. Ich war sprachlos. Solche Bemerkungen seinem Partner an den Kopf zu werfen, dazu gehörte einiges. Ob sich Irina überhaupt bewusst war, was sie damit gesagt hatte? Wahrscheinlich nicht. Allerdings musste ich Irina zu Gute halten, dass sie von Chris Zeitmanagement, das seine Ruhephasen in ausreichendem Umfang gewährleisten sollte, nichts wusste. Deshalb war es nicht abwegig, dass sie Chris Tagesablauf als unflexibel wahrnahm. Zudem musste man in Betracht ziehen, dass sie Chris mit großer Sicherheit an der ihr von ihm vorgespielten Normalität maß. Trotzdem, zuerst der Ausspruch über das Weglaufen, dann jener über die Geheimhaltung der Beziehung und jetzt diese fragwürdigen Aussagen. Die Liste wurde immer länger. Solche Äußerungen mussten nach meinem Dafürhalten bereits einen nachhaltigen Schaden in einer Beziehung hinterlassen haben. Doch wie bei den vorangegangenen Begebenheiten, blieb auch hier die zu erwartende Reaktion von Chris erneut aus. Er schrieb das Geschehene lediglich auf. Ohne Kommentar und ohne Wertung. In einem weiteren aufschlussreichen Eintrag vermerkte Chris, dass Irina ihm die Ergebnisse eines Persönlichkeitstests, welchen sie auf Basis ihres aktuellen Benutzerprofils bei einer großen Online Partnerbörse erstellen lassen hatte, gezeigt hatte und sich die beiden darüber unterhalten hatten. Nach seiner Auffassung kam die Auswertung der Irina, die er kannte und liebte relativ nahe, er schränkte jedoch ein, dass diese Ergebnisse nur dann zutreffend waren, wenn sich Irina nicht gerade in einer ihrer depressiven Phasen befand. Dieses Thema war nicht neu. Chris hatte schon im letzten Frühjahr sehr ausführlich in seinem Tagebuch darübergeschrieben. Seine Aufzeichnung über diesen Tag endete mit den Sätzen: richtiger Ansatz, falscher Weg. Aber besser, als gar nichts. Ich konnte mir nicht vorstellen, was Chris mit diesen Sätzen sagen wollte und ordnete sie in die ebenfalls immer länger werdende Reihe seiner mir unerklärlichen Aussagen ein. Noch etwas irritierte mich kurz an diesem Eintrag. Irina war bei einer Online Partnerbörse angemeldet. Allerdings konnte ich mir gut vorstellen, dass Irina, wie etliche andere Frauen, sich nur zum Spaß bei einer solchen Plattform angemeldet hatte und es nichts weiter zu bedeuten hatte. Durchweg auffällig in seinen Aufzeichnungen nach dem Streit über Chris Unflexibilität war, dass Chris sein Zeitmanagement weiter perfektioniert hatte. Ihm war es gelungen seine Ruhephasen so zu verteilen, dass Irina den Eindruck gewinnen musste, ihm ginge es sehr gut. Entgegen kam ihm dabei, dass Irina geschäftlich wieder stärker eingespannt war. So sahen sich die beiden meist nur noch alle zwei, drei Tage zu einem kurzen Spaziergang mit ihren Hunden. Über Nacht war Irina in diesen Tagen nicht mehr bei Chris geblieben. Tendenziell eine Entwicklung, die mich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, frappierend an den Verlauf des letzten Frühjahrs erinnerte. Mir gefiel das ganz und gar nicht.  Irina hatte sich nach meiner Überzeugung das Recht zu wissen wie es ihm ging mehr als verdient. Zugleich war ich davon überzeugt, dass sie mit der Realität im Zweifel besser umgehen konnte, als Chris annahm. Sandra konnte es schließlich ebenso. Noch weniger gefiel mir, dass inzwischen Wochen vergangen waren, in denen weder Chris noch Irina über ihre Ängste und Sorgen, die zweifelsfrei vorhanden sein mussten miteinander gesprochen hatten. Über so ein, in meinen Augen, dringend notwendiges Gespräch fand sich nicht der kleinste Anhaltspunkt in Chris Tagebuch. Für mich stellte sich das so dar, dass Irina mit ihren Albträumen und ihren daraus resultierenden Ängsten um Chris, die nach meiner Auffassung kaum verschwunden sein konnten, alleine war und Chris mit seinen Sorgen, die deutlich erkennbar waren, ebenfalls. Doch solange Chris an seiner Taktik Irina Normalität vorzuspielen festhielt und nicht bereit war, ihr offen die Wahrheit zu sagen, war ein solches Gespräch undenkbar. Zudem barg Chris Verhalten noch eine weitere große Gefahr in sich, die bereits deutlich sichtbar geworden war. Was wenn Irina, die nach wie vor von falschen zeitlichen Voraussetzungen ausging, sein Schauspiel nicht durchschaute, sondern glaubte, dass es Chris relativ gut ging und angefangen hatte die Beziehung an normalen Maßstäben zu messen, die hier keinesfalls passten? Berechtigte Gedanken, die allerdings außer Acht ließen, dass Irina sich mit Sicherheit über Chris Krankheit und den damit verbundenen Symptomen informiert hatte. Wahrscheinlich sogar noch weitergehend, als ich es getan hatte. Schließlich liebte sie Chris. Die Vorstellung, dass Irina dies nicht getan hatte und blauäugig wieder die Beziehung mit Chris aufgenommen hatte lag nach wie vor jenseits der Grenzen meiner Vorstellung. Sicher, sie hatte nicht die Möglichkeit gehabt sich wie Sandra mit seinen Ärzten zu unterhalten, aber im Internet fanden sich mehr als ausreichend Informationen über Chris Krankheit und deren Auswirkungen. Selbst wenn Irina sich nicht vor ihrer Rückkehr informiert hatte, wovon nicht auszugehen war, hatte sie den letzten Wochen reichlich genug Zeit gehabt, das nachzuholen. Spätestens nach Chris erstem Anfall und seiner unzureichenden Erklärung dafür musste sie hellhörig geworden sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Irina mittlerweile nicht sehr genau wusste welche Auswirkungen Chris Krankheit auf sein Leben und auf seinen Alltag hatten.

   Das sich bessernde Wetter ermahnte mich, dass es Zeit wurde mich um die anstehende Konservierung meiner Corvette zu kümmern und mir Gedanken über die Gestaltung meines Gartens für das bevorstehende Frühjahr zu machen. Wiederholt las ich Chris Manuskript und versuchte mir vorzustellen, wie die Geschichte weitergehen könnte. Mehr aber als diese Frage beschäftigte mich, ob Geraldine dieses Buch gefallen wird und sie es trotz der darin geäußerten Kritik so verstehen würde, wie es letztlich gemeint war. Als eine große Liebeserklärung an sie. Ich konnte es langsam kaum mehr erwarten, bis Chris das Buch endlich fertiggestellt hatte. Viel zu sehr vermisste ich Geraldine in meinem Leben und es kam mir vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, seitdem wir das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Längst hatte ich begriffen, dass mir mit Geraldine der andere Teil meines Lebens fehlte. Der Teil auf den ich nicht verzichten konnte und den ich unbedingt wieder in meinem Leben zurückhaben wollte. In einem Anfall mir unbegreiflicher Sentimentalität hatte ich eines Abends die Idee, mir Bilder von Geraldine anzusehen. Eine Idee, die sich in Kombination mit einer Flasche Wein als ausgesprochene Dummheit herausstellen sollte. Je mehr Bilder ich sah und je leere die Flasche wurde, desto mehr überkamen mich Gefühle, die ich jahrelang unter Kontrolle gewähnt hatte. Sein Finale Furioso hatte der Abend schließlich mit ein paar verdrückten Tränen. Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich wegen einer Frau und ganz besonders wegen Geraldine einen solchen Abend verbringen würde, hätte ich ihn zum Arzt geschickt. Ich hatte wegen Geraldine nicht nur mit meinem Grundsatz gebrochen niemals zu sagen „Ich liebe dich“, sondern auch mit dem mir stets am wichtigsten, niemand so nahe an mein Herz zulassen, dass ich Gefahr laufen konnte, leiden zu müssen. Aber bei Geraldine war alles anders. Mit ihr wollte ich mein Leben verbringen, konnte mir sogar vorstellen Pläne für die nächsten Jahre zu machen und wäre glücklich, wenn ihre Sachen in meinem Bad stehen würden. Zu allem Überfluss war ich um dieses Ziel überhaupt noch erreichen zu können auf fremde Hilfe angewiesen. Als ich an diesem Abend mit schwerem Kopf und noch schwererem Herz zu Bett ging, erinnerte ich mich an den Eintrag von Chris in seinem Tagebuch am 21. Januar. Wie konnte Chris nur so leicht über das eine, besondere Thema mit Irina sprechen und dann auch noch darüberschreiben. Hatte ich doch schon Schwierigkeiten damit, dieses Wort nur zu lesen. Aber er redete mit ihr darüber, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Mit einer subtilen Form von Neid auf Chris, ebenso auf Irina und dem Bewusstsein, dass mir ein solches Gespräch mit Geraldine nicht so leichtfallen würde, wie den beiden, schlief ich schließlich ein.

   Wie im Jahr zu vor war Irina auch dieses Jahr Ende Februar eine Woche zu der Messe nach Mailand gefahren. Am Sonntag, dem Vortag ihrer Abreise hatten die beiden um die Mittagszeit einen längeren Spaziergang unternommen. Chris schrieb über diesen Spaziergang, dass Irina zum ersten Mal seit Tagen einen ausgeglichenen Eindruck auf ihn gemacht habe. In Anbetracht der Tatsache, dass auf Irina eine stressige Messewoche wartete, erschien ihm das umso bemerkenswerter. Bedingt durch Irinas Abwesenheit erhoffte ich mir, dass Chris in dieser Woche ausreichend Zeit für das Buch haben würde. Zu meiner Überraschung rief mich Chris am Montagnachmittag an und fragte mich, ob ich ihn bei seinem Spaziergang mit Mable begleiten würde. Eine gute Gelegenheit sich mit Chris über die Fortschritte des Buchs, aber auch über sein Verhalten gegenüber Irina zu unterhalten. Bevor ich eines der beiden Themen anschneiden konnte, trafen wir auf eine junge Frau mit einem Hund. Ohne zu grüßen harschte sie Chris in völlig überzogenem Ton an, er solle in Zukunft mit seiner Tussi und ihrem unerzogenen Köter dem Park fernbleiben. Sie würde schließlich nicht ihr wohnen und sie solle wo anders Spazierengehen. Weiter in aufgebrachtem Ton sagte die junge Frau, dass weder seine Freundin, noch ihr Hund hierher passen würden und auch nicht erwünscht seien. Der Park sei den Hunden dieses Vororts vorbehalten. Doch damit nicht genug, die junge Frau schien sich in Rage zu redet zu haben.
„Wenn du sie noch einmal mitbringst, bist du hier auch nicht mehr erwünscht“, fügte wutentbrannt sie hinzu. „Zudem hat deine Freundin nicht das Niveau von uns und wir wollen sie hier nicht mehr sehen!“
Hoch erhoben Hauptes und offensichtlich zufrieden mit ihrer Maßregelung setzte die junge Frau, ohne sich zu verabschieden, ihren Weg fort. Das musste die Hundehalterin gewesen sein, mit der Irina vor ein paar Tagen aneinandergeraten war. Ich hatte Chris während dieses Monologs genau beobachtet. Wider Erwarten blieb er ganz ruhig und gab der jungen Frau nicht Contra, sondern lief Kopfschüttelnd langsam weiter. Ich ging ein paar Schritte neben Chris her, bevor ich ihn auf das gerade geschehene ansprach.
„Was soll ich dazu sagen?“, erwiderte Chris schulterzuckend.
„Du hättest ihr wenigstens widersprechen können“, wandte ich ein. „Immerhin hat die Frau leicht faschistoide Tendenzen.“
Chris fing an zu lachen und sagte:
„Kennst du einer der wichtigsten Regeln im Leben?“
„Welche meinst du?“, fragte ich neugierig.
„Fang nie mit einem Idioten eine Diskussion an. Er zieht dich auf sein Niveau hinunter und weil er sich dort auskennt, gewinnt er. Außerdem macht es keinen Sinn eine solche Lappalie unnötig aufzubauschen. So oft wird Irina nicht mehr hier sein, dass sich das lohnen würde.“
Obwohl Chris weiterhin ruhig wirkte, hatte ich den Eindruck, dass er sich über die junge Frau und ihre beleidigenden Äußerungen über Irina ärgerte. Eine durchaus nachvollziehbare Reaktion.
„Du hättest Irina verteidigen müssen“, setzte ich unsere Unterhaltung fort.
„Wieso?“, entgegnete Chris fragend. „Gegen so etwas kann sich Irina sehr gut selbst wehren. Dafür braucht sie meine Hilfe wirklich nicht.“
„Aber, wenn Irina davon erfährt, könnte sie den Eindruck haben, dass du ihr nicht beistehst“, wandte ich ein.
„Ich helfe Irina, wenn es notwendig sein sollte, antwortete Chris in sehr bestimmendem Tonfall. „Bei so einer Kindergartenveranstaltung ist das sicher nicht der Fall. Zumal sie davon ohnehin nicht erfahren wird.“
Chris schien über meine Bemerkung verärgert zu sein und ich hielt es für klüger, ihn jetzt weder auf sein Verhalten Irina gegenüber, noch auf das Buch anzusprechen. Diese unerfreuliche Begegnung hatte meine Pläne unerwartet durchkreuzt.

   Dieser Abend neulich hatte mir gezeigt, wie stark meine Gefühle für Geraldine wirklich waren und ich wollte sie nicht mehr länger verdrängen oder kontrollieren müssen. Ich wollte sie endlich leben dürfen. Als ich am Freitagabend in Chris Tagebuch lesen wollte, brachte mich meine Ungeduld auf eine Idee. Chris musste das Buch an seinem Computer schreiben und dort sollten die neuesten Kapitel zu finden sein. Ich durchsuchte den ganzen PC, ohne fündig zu werden. Auch die Suche nach versteckten Dateien brachte mich nicht weiter. Chris musste die Dateien ausgelagert haben, oder sie befanden sich auf seinem Laptop, auf das ich keinen Zugriff hatte. Dafür fand ich etwas Anderes heraus, auf das ich mein Augenmerk in den letzten Wochen nicht gerichtet hatte. Chris schrieb nach wie vor Gedichte und Kurzgeschichten für Irina. Neugierig warf ich einen Blick in diesen Ordner. Bis auf ein paar Unterbrechungen im letzten Spätsommer hatte Chris nie aufgehört für Irina Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben. Zwar waren es im Herbst und Winter deutlich weniger, als früher für ihn üblich, dennoch hatte er weiter für sie geschrieben. Ein weiterer Beleg, dass er nie aufgehört hatte Irina zu lieben. Seit Anfang Februar schrieb Chris wieder vermehrt. Glaubte man, was Chris mir über Gedichte gesagt hatte, so kamen sie aus der Mitte des Herzens. Sie waren ein Spiegel des Gefühls in diesem Augenblick. Ich las mir ein paar seiner neuesten Gedichte für Irina durch und war tief bewegt. Warum gab er Irina diese Gedichte nicht? Eine sich wiederholende Frage. Mit Sicherheit hätten diese Irina wesentlich mehr bedeutet, als eine „Ich liebe dich“ E-Mail, wie sie jeder schreiben konnte. Aber Chris hielt sie unter Verschluss, wie all die anderen die er für sie in den Jahren zuvor geschrieben hatte. Nach dieser erfolglosen Suche wandte ich mich Chris Tagebuch zu, das einen Eintrag bereithielt, den ich so nicht erwartet hatte.

 „… mich strengt das alles viel zu sehr an. Auf kurze Momente in denen ich sehr glücklich mit Irina bin, folgen viele in denen ich sehr traurig bin. Ich kann fast nicht mehr, mir ist alles zu viel. Ob sie jemals umreißen wird wie sehr ich sie liebe und warum ich das alles tue, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich ihr dieses Gefühl gebe? Wir haben zu wenig Zeit und wir verschwenden sie. Es ist ein Rennen gegen die Uhr, das wir vielleicht schon lange verloren haben, sollte ich im April keine positive Nachricht bekomme und selbst dann ist nichts sicher. Tief in mir will ich ihr nicht weiter etwas vorspielen müssen, was so nicht ist. Am liebsten würde ich ihr sagen was los ist und dann einfach das Leben mit ihr genießen und alles andere solange ausblenden. Aber ich sehe keinen anderen Weg. Manchmal vermisse ich den Satz: Herzblatt ich bin immer für dich da. Ich lass dich nie mehr allein. Ich würde ein Königreich für diesen Satz geben, der noch in so weiter Ferne ist. Gerade ist Irina gelandet. Ich bin sehr glücklich, dass sie wieder da ist“

Innerlich aufgewühlt schloss ich das Tagebuch. Offensichtlich hatte Chris jetzt eine Entscheidung für diese Behandlung getroffen und mein erster Gedanke war, dass ich Sandra darüber informieren sollte. Nur wie sollte ich ihr erklären, wie ich zu meinem Wissen gekommen war? Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, als mir auffiel, dass ich jedes Mal, wenn sich bei Chris etwas Wichtiges ereignet hatte, ich zuerst an Sandra und nicht an Irina dachte. Wäre es nicht viel wichtiger Irina zu informieren? Doch das war genauso unmöglich. Das wiederkehrende Gefühl von lähmender Ohnmacht in mir war unbeschreiblich. Ich hatte den Eindruck alles zu wissen und nichts tun zu können.

   Meine Hoffnung, Chris hätte Irinas Abwesenheit genutzt um weiter an dem Buch zu arbeiten und er würde mir zeitnah die nächsten Kapitel geben, hatte sich nicht erfüllt. Seit einem Monat wartete ich nun schon auf die Fortsetzung. Dafür setzte sich eine andere Entwicklung fort. Immer häufiger waren Chris Tagebucheinträge unverständlich. Seit Irinas Rückkehr im Januar schien Chris immer stärker etwas zu beschäftigen, das er in unergründliche Sätze packte. Ein weiteres charakteristisches Beispiel für diese Art von Formulierungen, war seine Aufzeichnung vom 1. März.

„Der heutige Tag hat mir gezeigt, dass dieser Weg, wie alle anderen zuvor geradeaus in eine Sackgasse führt. Die Frage, die sich mir mittlerweile stellt ist, ob nicht mein ganzer Ansatz falsch war? Nicht von Anfang an alles falsch war? Vielleicht sollte ich komplett umdenken. Manchmal sind die Dinge einfach so, wie sie scheinen. Es gibt keine weitere Wahrheit dahinter, weil die längst ausgesprochene die einzige ist.“

Was immer Chris damit gesagt hatte, ich verstand es nicht. Das einzige, was zu erkennen war, dass eine Art Prozess des Umdenkens bei Chris eingesetzt haben musste. Mir war aber weder klar in welche Richtung dieser führte, noch was ihn ausgelöst hatte. Dieser undurchschaubare Prozess setzte sich in den nächsten Tagen weiter fort und wurde erst am 9. März durch einen nicht weniger befremdlichen, dafür klar verständlichen Eintrag unterbrochen. An diesem Abend schrieb Chris einzig über eine SMS von Irina, die er im vollen Wortlaut in sein Tagebuch übernommen hatte. Irina hat Ärger mit ihrer Mutter und wurde von dieser unter Druck gesetzt, weil sie ihre Mutter täglich nur anrief und nicht jeden Tag, wenn sie nicht geschäftlich unterwegs war, ein paar Stunden bei ihr verbrachte, wie es ihre Mutter von ihr erwartete. Ihre Mutter hatte ihr in diesem Zusammenhang vorgeworfen, sie könnte Tod sein und ihre Tochter würde, weil sie sich nicht um sie ausreichend kümmerte, das nicht einmal bemerken. Wieder, wie schon so oft zuvor, kommentierte Chris auch diesen Vorgang nicht. Beinahe so, als wollte er diesen lediglich dokumentieren. Ich fragte mich, welchen Erwartungshorizont diese Frau an ihre Tochter hatte? Übersah sie, dass ihre Tochter mit Mitte 40 ein eigenes Leben hatte, oder wollte sie es gar nicht erst akzeptieren.

 Am Vorabend von Chris monatlicher Untersuchung traf ich mich mit Sandra zu unserem regelmäßigen Abendessen. Mein geplanter Versuch mit ein paar gezielten, clever gestellten Fragen herausfinden, ob Sandra in den letzten Tagen eine Veränderung bei Chris bemerkt hatte wurde durch Sandras knappe Schilderung, dass sie zu Chris nach wie vor nur sehr unregelmäßig Kontakt per SMS hatte überflüssig. Eine Situation mit der Sandra augenscheinlich sehr unglücklich war und dies nur schwer verbergen konnte. Generell war Sandra an diesem Abend anders. Stiller und in sich gekehrter, als ich sie bislang erlebt hatte. Sie sprach wenig und lächelte kaum. Die Fröhlichkeit und Wärme, die Sandra sonst immer ausgestrahlt hatte war kaum noch zu sehen. Irgendetwas, über das sie nicht sprechen wollte, schien sie zu beschäftigen. Ich versuchte mit verschiedenen Themen von Politik über Kochen bis hin zu meiner Corvette ein Gespräch in Gang zu bekommen, doch jeder Ansatz endete im Großen und Ganzen in einem Monolog. Sandra nickte nur hin und wieder und aß ansonsten stumm ihren Lachs. Während des Dessert, Sandra hatte ein Schokoladen Suffle bestellt, brach sie auf einmal ihr Schweigen.
„Du weißt, dass Chris morgen seinen Termin hat?“
Ohne meine Antwort abzuwarten sprach sie weiter.
„Es sind nicht die Ergebnisse, die mir Sorgen bereiten, sondern Chris Umgang mit ihnen. Schon bei seinem letzten Termin war seine Reaktion auf die Ergebnisse mehr als merkwürdig. Es war nicht nur die Tatsache, dass er sie mir erst am nächsten Tag mitgeteilt hat, es war die Art und Weise, wie er es getan hatte. Kalt und emotionslos. Mir fiel das erst am nächsten Tag auf und hat mir Angst gemacht, weil das selbst für seinen Zustand sehr untypisch für ihn ist. Außerdem habe ich den Verdacht, dass Chris mir nicht die Wahrheit gesagt hat, sondern sie für mich geschönt hat. Ich weiß nicht, was er erwartet? Dass alles so bleibt, wie es jetzt ist und die Entwicklung einfach stehen bleibt? Ich hoffe diesmal lässt er mich nicht wieder einen Tag in Ungewissheit warten und lügt mich dann auch noch an. Das wäre unerträglich.“
Es war also Chris monatliche Untersuchung, die Sandra an diesem Abend beschäftigte.
„An deiner Stelle würde ich mir keine unnötigen Sorgen machen“, versuchte ich Sandra zu beruhigen. „Dass Chris dir die Unwahrheit gesagt hat kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Dafür hätte er nicht den geringsten Grund. Du musst dich täuschen. Ich glaube auch nicht, dass es Absicht war, dass er dich erst am nächsten Tag unterrichtet hat. Wer weiß, vielleicht musste er Irina erst alles ausführlich erklären und das hat den ganzen Abend in Anspruch genommen.“ Kaum hatte ich diese Sätze ausgesprochen, von denen ich wusste, dass sie der Wahrheit nicht im Geringsten entsprachen, wurde mir klar, was ich mit ihnen Sandra soeben ins Gesicht gesagt hatte. Irina ist Chris wichtiger als du. Auch wenn dies der Wahrheit entsprach, es war eine grobe und verletzende Unhöflichkeit. Für einen Moment wirkte Sandra fassungslos. Ich musste diesen letzten Satz unbedingt entschärfen.
„Schau“, sagte ich mit ruhiger Stimme, „für Irina war es die erste monatliche Untersuchung, die sie miterlebt hat. Sie hat keinerlei Erfahrung im Umgang damit. Deshalb musste Chris ihr alles erklären. Ich bin davon überzeugt, dass es sicher nicht Chris Absicht war, dass du dich zurückgesetzt fühlst.“
Gespannt wartete ich auf Sandras Reaktion, die mit ihrer Dessertgabel, ohne ihren Blick auf mich zu richten, in ihrem Suffle herumstocherte.
„So wollte ich das nicht verstanden wissen“, sagte sie nach einer Weile in einem Tonfall, der eine Mischung aus Enttäuschung und Traurigkeit war. „Mir ist klar, dass Irina jetzt für Chris die wichtigste Person in seinem Leben ist. Das war sie immer. Trotzdem war es nicht schön von ihm, mich eine Nacht im Ungewissen zu lassen. Ich hatte deshalb in dieser Nacht kein Auge zu gemacht.“
Eine Antwort, die mich dahingehend beruhigte, dass es mir gelungen seine musste Sandras Verdacht, Chris hätte ihr nicht seine wahren Ergebnisse mitgeteilt, ausgeräumt zu haben.
„Das wird Chris bestimmt nicht wieder passieren“, versuchte ich meiner Aussage Nachdruck zu verleihen. „Du bist Chris beste Freundin und wie er mir gesagt hat, einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben. Daran wird auch Irina mit Sicherheit nichts ändern.“
Zum ersten Mal an diesem Abend war so etwas wie Erleichterung in Sandras Gesicht zu erkennen und sie lächelte wieder.

   Zuhause angekommen beschlich mich wieder einmal das Gefühl von Einsamkeit in diesem für mich alleine viel zu großen Haus. In dieser Nacht vermisste ich Geraldine nicht nur als Frau, die ich gerne an meiner Seite hätte, sondern auch als Freundin und Ratgeberin, mit der ich offen über alles reden konnte. Obwohl ich in Sandra, die ich sehr zu schätzen gelernt hatte und die mir ein wertvoller Freund geworden war, eine gute Gesprächspartnerin hatte, bestand weiterhin das Problem, dass ich den Großteil meiner Informationen für mich behalten musste. Ich konnte ihr nicht erklären, wie ich zu ihnen gekommen war. Ohne Geraldine hatte ich niemand, mit dem ich über alles uneingeschränkt reden konnte. Was sie wohl zu allem sagen würde? Ob sie ebenso wie ich der Ansicht wäre, dass Irina und Sandra, ohne voneinander zu wissen, in gewisser Weise im selben Boot saßen, dessen undurchsichtiger Kurs von Chris bestimmt wurde?

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