Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 11 – Ballett

   Wie vereinbart holte mich Sandra am Freitagabend Punkt 19 Uhr ab. Ich hatte Anzug und Krawatte angezogen und kam mir irgendwie verkleidet vor. Als Sandra mich sah, lächelte sie erfreut.
„Der Anzug steht dir gut. Ich verstehe nicht, warum ihr euch immer so schwertut, wenn ihr einen anziehen müsst. Bei Chris ist das genau das gleiche, dabei sieht er so gut darin aus.“ Sandras Schwärmerei für Chris im Anzug war unüberhörbar.
Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schloss die Tür.
„Ein schönes Auto“, eröffnete ich eine belanglose Unterhaltung, nach dem wir auf die Hauptstraße abgebogen waren. „Wie lange hast du das schon?“
„Seit März letzten Jahres“, erwiderte Sandra ohne dabei den Blick von der Straße zu nehmen. „Chris hat mir beim Aussuchen geholfen, weil ich mich mit den ganzen Ausstattungsdetails nicht auskenne. Ich habe nur die Farben ausgewählt, als andere hat Chris ausgesucht.“
„Auch den Motor?“, fragte ich interessiert nach.
„Ja, den auch. Chris meinte, dass der 8 Zylinder nicht nur viel schöner klingen würde, sondern auch viel besser zu mir passen würde.“
„Da hat er Recht“ betätigte ich. „Wobei ich wenig Frauen kenne, die ein 500er Mercedes Coupé fahren.“
Sandra lächelte verlegen.
„Ich weiß nicht so recht. Mir ist das Auto fast schon zu schnell. Der kleinere Motor hätte sicher auch genügt.“
Mir dämmerte etwas. Vor über einem Jahr hatte sich Chris in seinem Tagebuch Gedanken über ein neues Auto gemacht. Ich hatte mich damals gefragt, wie er sich in seinem Zustand mit einer derartigen Frage beschäftigen konnte. In diesen Einträgen ging es aber nicht um sein neues Auto, wie ich fälschlicherweise angenommen hatte, sondern um Sandras.

   Als Sandra ihren Mantel an der Garderobe der Oper abgab und ich sie in ihrem Abendkleid sah, war ich überwältigt. Falls es so etwas gibt, dann stand sie gerade vor mir. Die perfekte Frau. Ich musste tief in der Mottenkiste längst in Vergessenheit geratener Worte graben um beschreiben zu können, was ich sah. Anmut und Grazie kamen als einzige in Frage. Stolz wie selten zuvor in meinem Leben war ich an diesem Abend nur zu gerne die Begleitung dieser hinreißenden Frau. Jeder neidische Blick der Männer auf diese wunderbare Frau an meiner Seite war eine reine Wohltat.
„Was schauen wir eigentlich an?“, fragte ich Sandra, während wir durch das Foyer gingen. „Giselle. Ein romantisches Ballett. Ich liebe diese Art Ballett. Für zwei Stunden kann ich dabei alles vergessen und davon träumen was ich mir wünsche. Deshalb wäre ich so gerne mit Chris hierher gegangen.“
Diese beiden Sätze Sandras räumten meinen letzten übriggebliebenen Zweifel aus. Diese Traumfrau liebt Chris. Was für ein Glückspilz dachte ich, bevor mir wieder bewusst wurde, dass Chris und Glück zwei Dinge waren, die sich seit geraumer Zeit nur bedingt mochten. Auch Sandra gegenüber war dieser, möglicherweise ein wenig durch Neid auf Chris geborener Gedanke unangebracht. Seit Irina und Chris wieder ein Paar waren, war für sie ihr Glück in noch weitere Ferne gerückt. Wir nahmen unsere Plätze ein und Sandra erzählte mir kurz, wovon Giselle handelte. Irgendwie passte die Handlung des Balletts zu dem, was ich hier gerade miterlebte. Es dauerte nicht lange, bis auch ich von dem Ballett in den Bann gezogen wurde. Ich musste anerkennen, dass ich mir bislang eine falsche Vorstellung davon gemacht hatte und es als unsinnige Herumtänzelei verspottet hatte. Es war nicht nur Tanz, der perfekt zu den Klängen der Musik choreographiert war, es war viel mehr. Der vollendete Ausdruck eines großen Gefühls, das auch ich empfand. Das wundervollste dabei war Sandras Gesichtsausdruck. Immer wieder sah ich kurz zu ihr hinüber. Sie schien ganz von Tanz und Musik gefangen zu sein. Ich war mir sicher, dass sie tief in sich davon träumte, dass ihre Liebe Chris eines Tages genauso retten würde, wie die Giselles am Ende des Balletts Albrecht rettete. Als die Aufführung zu Ende und der Applaus verebbt waren, sah Sandra mit leuchtenden Augen zu mir.
„Und, wie hat es dir gefallen?“
Ich versuchte meine positive Ãœberraschung in ebenso positive Worte zu kleiden.
„Sehr gut. Ich muss zugeben, dass ich mir bis heute Abend immer falsche Vorstellungen gemacht hatte. Aber es ist wirklich ein beeindruckendes Erlebnis. Vielen Dank, dass du mich mitgenommen hast.“
Jetzt strahlten Sandras Augen noch mehr.
„Sollen wir noch eine Kleinigkeit Essen gehen? Ich habe jetzt ein wenig Hunger. Du auch?“ „Gerne“, erwiderte Sandra. „Ein klein bisschen Hunger habe ich auch.“
Nahe der Oper befand sich ein Restaurant, dessen Küche bis 24 Uhr geöffnet hat und in dem man mit Abendkleid und Anzug, im Gegensatz zu den anderen Restaurants der Innenstadt, nicht über Gebühr auffiel. Anders als bei unseren vorangegangenen Treffen unterhielten wir uns an diesem Abend nicht über Chris und alles was ihn betraf, sondern Sandra erzählte mir von den vielen Ballettaufführungen, die sie schon gesehen hatte.
„Nicht, dass du denkst ich gehe nur ins Ballett. Mit meinen Eltern war ich bei einem der letzten Konzerte von Frank Sinatra. Ich liebe Jazz. Aber nicht nur. Ich war auch schon bei Rockkonzerten“, schloss Sandra ihre Ausführungen zum Thema Ballett.
Ich war halbwegs verblüfft. Sandra und Rockkonzerte, das passte auf den ersten Blick gar nicht zusammen.
„Jetzt bist du erstaunt“, sagte Sandra schmunzelnd. „Das hast du mir nicht zugetraut, oder?“ „Wenn ich ehrlich bin, nein. Bei welchen Konzerten warst du denn?“
„Zum Beispiel bei Bruce Springsteen.“
In der Ãœberzeugung, dass dies nicht unbedingt Sandras bevorzugte Musikrichtung war, wollte ich von ihr wissen, wie es dazu gekommen war.
„Ich war mit Chris dort. Mit wem denn sonst? Wir waren auch noch auf anderen Konzerten gemeinsam und es gibt noch einige zu denen wir gerne gehen würden. Aber dafür wird uns wohl keine Zeit mehr bleiben“, fügte sie schmerzlich an.
Einen Moment lang hielt sie inne, bevor sie weitererzählte.
„Auch, wenn du es dir nicht vorstellen kannst, ich besitze durchaus für derartige Veranstaltungen angemessene Kleidung, die ich im Übrigen gerne trage.“
Sandra in ausgewaschenen Jeans, T-Shirt, Boots und Lederjacke? Obwohl sie sicher darin ebenso umwerfend aussah wie in ihrer Abendrobe, war das ein kaum vorstellbarer Gedanke.
„Habe ich deine Vorurteile zerstört?“, fragte mich Sandra schelmisch grinsend.
Ich atmete tief durch. Sandra war eine Wundertüte mit tausend positiven Überraschungen.
„Ja, das hast du. Ich hätte nicht gedacht, eine Frau wie dich auf einem Rockkonzert zu finden.“ „Und warum nicht?“, hakte Sandra nach.
„Naja, bislang habe ich dich nur in teurer und eleganter Kleidung gesehen. Du trägst einen Ring im Wert einer Wohnung und eine Patek Philippe. Fährst ein teures Auto, hast sicher eine riesige Wohnung und gehst bevorzugt ins Ballett. Alles in allem stimmig, wenn auch klischeehaft.“
„Soso“, entgegnete Sandra sichtlich vergnügt über mein Bild von ihr. „Ich bin nach deiner Meinung also ein Luxusgeschöpf aus einer anderen Welt?“
„Nein“, widersprach ich vehement. „Du bist einfach in jeder Hinsicht ungewöhnlich und deshalb so schwer einzuordnen.“
Sandra sah mich gedankenvoll an.
„Ich bin nicht ungewöhnlich. Ich bin eine Frau wie jede andere. Eine mit Träumen, Hoffnungen und Sehnsüchten, mit Werten und Idealen.“
Sandra nahm ihr Glas und trank einen Schluck ihres Orangensafts. Sie hielt das Glas noch in der Hand, als sie sagte:
„Darf ich dich etwas Privates fragen?“
„Gerne, nur zu.“
„Wir kennen uns jetzt vier Monate, aber du hast noch nie von einer Frau gesprochen. Gibt es keine in deinem Leben? Das kann ich mir nicht vorstellen.“
Sie stellte ihr Glas auf dem Tisch ab und schaute mich erwartungsvoll an. Ohne es zu wissen, hatte sie ein Thema angeschnitten, das seit Herbst nicht zu meinen liebsten gehörte. Dennoch wollte ich ihr die Frage beantworten.
„Ja, es gibt jemand. Sie heißt Geraldine. Allerdings haben wir seit über einem halben Jahr keinen Kontakt mehr.“
„Ein schöner Name“. Sandra nickte anerkennend. „Was ist passiert, dass ihr nicht mehr miteinander redet?“
„Das ist eine lange Geschichte.“
„Möchtest du sie mir erzählen?“
Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich begann ihr in einer stark komprimierten Fassung von Geraldine und mir zu berichten. Als ich fertig war sah mich Sandra entgeistert an und sagte mit ironischem Unterton:
„Das hast du wirklich gut gemacht. Was gedenkst du jetzt zu tun? Die Sache einfach einschlafen zu lassen, wie es fast alle Männer tun, weil es der Weg des geringsten Widerstands ist?“
„Nein!“, erwiderte ich empört. „Sie ist die Liebe meines Lebens. Ich werde sie nicht aufgeben!“ Sandra hatte mich aus der Reserve gelockt und ich brauchte einen Moment, um mich wieder zu sammeln.
„Geraldine ist eine große Romantikerin. Ich habe lange nicht verstanden, was sie mir mit ihrem Geburtstagsgeschenk sagen wollte. Für mich war es die Erstausgabe eines Buchs und ich sammle Erstausgaben. Ich maß diesem Buch keine weitere Bedeutung zu. Heute tue ich das.“
„Du willst doch damit nicht sagen, dass du für sie ein Buch schreibst?“, entfuhr es Sandra, deren Augen weit geöffnet waren.
„Doch, genau das will ich damit sagen.“

   Der Ausdruck in Sandras Gesicht war jetzt schwer zu beschreiben. Am treffendsten war eine Mischung aus Hochachtung und Überraschung, gepaart mit einer winzigen Spur Neid. Selbst Sandra schien von dieser Idee überwältigt, wenngleich sie auch irgendwie bedrückt wirkte. „Obwohl das ein sehr schönes Buch ist, das ich nebenbei gesagt sehr schätze, ist es am Ende ein sehr trauriges, sogar tragisches Buch. Juri stirbt, Lara erfährt nie, was wirklich passiert war und selbst seinem Bruder Jevgraf bleibt nur die Rolle des schmerzlichen Berichterstatters. Aber vielleicht müssen alle wirklich großen Liebesgeschichten ein trauriges Ende finden.“
Sandras Anspielung war nicht zu überhören und ich versuchte zu verhindern, dass sie an diesem schönen Abend doch mit der Realität ihres Lebens konfrontiert wurde. Falls mir das überhaupt gelingen konnte.
„Aber doch nicht sämtliche großen Liebesgeschichten“, widersprach ich. „Denk zum Beispiel an „Pretty Woman“.
Etwas Besseres fiel mir in diesem Augenblick nicht ein und ich bekam umgehend die Quittung dafür. Sandra schaute mich verständnislos an.
„Das ist Hollywood. Ich spreche von Literatur, die das wahre Leben beobachtet hat und nicht von Kitsch. Hoffentlich hat dein Buch ein Happyend.“
„Ja, das hat es. Aber es ist nicht einfach einen Liebesroman zu schreiben. Was schreibt man über Glück?“
Sandra unterbrach mich.
„Dieser Satz stammt nicht von dir. Er ist aus Graham Greenes „Das Ende einer Affäre“. Dort hat er auch geschrieben, es gebe Plätze im Herzen der Menschen, von deren Existenz wir erst erfahren, wenn das Leid sie uns zeige. Im Übrigen eine weitere tragische Liebesgeschichte.“ „Ich weiß, dass Graham Greene diese Zeile geschrieben hatte und er hat Recht“, stellte ich klar. „Ich wollte damit auch nicht sagen, dass dieses Geburtstagsgeschenk die Blaupause für mein Buch darstellt. Geraldine geht es um die Lara Gedichte im Anhang und ihrem Wunsch, dass eines Tages jemand für sie ein solches schreibt. Ein ganzes Buch erwartet sie sicher nicht.“ Sandra nickte zustimmend bevor sie mit ernster Stimme sagte:
„Keine Frau würde das erwarten. Es ist zu außergewöhnlich. Allein ein Gedicht zu bekommen, wohlgemerkt selbst geschrieben und keine einfallslosen Kinderreime, ist schon ungewöhnlich genug. Ich kenne jedenfalls keine Frau, die eines bekommen hat und keine, die sich darüber nicht freuen würde. Mich eingeschlossen. Aber ich kenne auch keinen Mann, der so etwas könnte.“
Sandra war also in gewisser Weise auch eine Lara. Mehr aber leider eine Tonja, deren Juri für eine andere Lara Gedichte schrieb. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie es in Sandra aussehen würde, wenn sie erfahren müsste, dass ihr Chris für Irina seit Jahren Gedichte und Kurzgeschichten schrieb. Wieder waren wir kurz vor diesem Punkt, den ich vermeiden wollte. Scherzend sagte ich zu Sandra:
„Du solltest mal ein Gedicht von mir lesen. Dagegen sind Kinderreime große Kunst. Ich kann das, wie fast jeder Mann, nämlich auch nicht.“
Das Lächeln in Sandras Gesicht zeigte mir, dass sie sich über mich amüsierte und ihre Gedanken nicht mehr den Gedichten galten.
„Wie lange schreibt man an einem Buch und wie weit bist du?“
Da ich nicht zugeben konnte, mich mit fremden Federn geschmückt zu haben, gab ich Sandra, heuchelnd den Autor vorgebend, eine ausweichende Antwort.
„Ein paar Monate schon, vielleicht sogar ein Jahr. Wobei das von vielen Faktoren abhängig ist. Es gibt Tage an denen jede Zeile ein Kampf ist. An anderen läuft es wunderbar. Je nachdem wie frei der Kopf ist und wie gut es gelingt, die Ideen umzusetzen. Außerdem ist es nicht immer einfach, das was man sagen will in eine Handlung zu packen, die nicht zu eindeutig oder zu flach, gleichzeitig aber nicht zu missverständlich ist. Bis wann es fertig wird kann ich dir nicht genau sagen, aber ich hoffe in den nächsten 2 bis 3 Wochen.“
Ich musste Sandra offensichtlich beeindruckt haben als sie sagte:
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Männer gibt, die einen derartigen Aufwand betreiben würden, um eine Frau für sich zu gewinnen. Ich jedenfalls kenne keinen. Du musst sie wirklich sehr lieben.“
Sie machte eine kurze Pause und schaute mich dabei merkwürdig an.
„Du bist genauso ungewöhnlich, wie Chris. Ich hoffe für dich, dass deine Geraldine zu schätzen weiß, was sie an dir hat. Solche Männer wie ihr sind sehr selten und einen davon zu finden fast unmöglich. Hat Frau einen gefunden, sollte sie alles tun, um ihn nicht wieder zu verlieren. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede.“
Ein weiterer eindeutiger Satz, der belegte was sie für Chris empfand und dass es unmöglich war ihn auch nur für eine Sekunde aus ihren Gedanken zu vertreiben. Sandra schaute auf ihre Uhr, bevor sie den letzten Schluck ihres Orangensafts trank.
„Eine Frage hätte ich noch.“
„Was möchtest du noch wissen?“, erwiderte ich gespannt auf ihre Frage.
„Streng genommen sind es mehrere Fragen“, lächelte Sandra verlegen. „Darf ich dein Buch auch lesen, wenn es fertig ist? Oder bleibt es einzig und alleine Geraldine vorbehalten? Ich würde das durchaus verstehen. Wenn es nicht nur für Geraldines Augen bestimmt ist, wirst du es dann veröffentlichen?“
Ich war unsicher und musste kurz überlegen. Über die Frage, ob jemand anderes als Geraldine dieses Buch jemals zu lesen bekommen würde, hatte ich mir bisher keine Gedanken gemacht. Bislang wollte ich nur, dass Geraldine dieses Buch endlich bekommt. Zudem schrieb es Chris und nicht ich. Genau genommen lagen die Urheberrechte also bei ihm. Was die Sache auch nicht gerade vereinfachte. Ich versuchte es mit einer diplomatischen Antwort.
„Zuerst werde ich es Geraldine lesen lassen und daraufhin eine Zeit abwarten, was passiert. Möglicherweise gefällt es ihr gar nicht, oder es bedeutet ihr schlicht nichts. Vielleicht möchte sie auch nicht, dass ich es veröffentliche. Unter der Bedingung, dass es ihr gefällt kann ich mir danach durchaus vorstellen es zu veröffentlichen. Du bekommst es natürlich vorher.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihr nicht gefällt, oder noch schlimmer ihr nichts bedeutet“, schränkte Sandra meine Bedenken ein. „An ihrer Stelle wäre ich unglaublich Stolz, wenn ein Buch, das ausschließlich für mich geschrieben worden war, veröffentlicht werden würde. Jeder könnte lesen, was mein Mann für mich geschrieben hatte. Ich freue mich für sie und auf dein Buch.“ Mit diesem Satz beendeten wir das Gespräch. Als mich Sandra zuhause absetzte bedankte ich mich noch einmal für den großartigen Abend und wünschte ihr eine gute Nacht. Insgeheim aber die Kraft durchzustehen, was nach meiner Erkenntnis der der letzten Tage besonders auf sie zukommen würde.

   Das rasselnde Geräusch des Häckslers meines Nachbarn holte mich am nächsten Morgen unsanft aus dem Bett. Durch die Spalten der Rollladen schien die Sonne in mein Schlafzimmer. Müde rieb ich mir die Augen. Der Blick auf meinen Wecker verriet mir, dass es bereits kurz nach 11 Uhr war und damit Zeit aufzustehen. Nach einer Dusche, zwei Tassen Kaffee und einem kurzen Blick auf die Nachrichten beschloss ich diesen schönen Frühlingstag für eine Ausfahrt mit dem Challenger, den ich letztes Jahr extrem wenig bewegt hatte, zu nutzen. Auf dem Weg in die Garage dachte ich an Chris. Sicher würde er sich freuen, wenn ich ihn mitnehmen würde. Ich kramte mein Handy aus meiner Jacke und rief ihn an. Doch Chris hatte für diesen Tag bereits andere Pläne. Er war zu einem Gartenmarkt gefahren, um sich Pflanzen für seinen Balkon zu kaufen, den er am Nachmittag für das Frühjahr herrichten wollte. Etwas enttäuscht machte ich mich alleine auf den Weg. Ich fuhr anfangs etwas ziellos durch die Gegend, bis ich auf die Idee kam eine ausgedehnte Tour durch eines der nahegelegenen Mittelgebirge zu machen. Dort gab es wunderschöne Landstraßen mit herrlichen Aussichten und wenig Verkehr. Drei Stunden fuhr ich Richtung Süden, bevor ich an einem Stausee anhielt, um etwas zu Essen und einen Spaziergang entlang des Ufers zu machen. Zu meinem Bedauern musste ich auf dem Heimweg das Verdeck des Dodge schließen. Ende März wurde es gegen Abend doch noch empfindlich kühl. Unterbrochen durch den unvermeidlichen Tankstopp war ich gegen 21 Uhr wieder zuhause. Es war ein erholsamer Tag gewesen, an dem ich mich so gut wie gar nicht mit den Ereignissen der letzten Wochen beschäftigt hatte und dabei wollte ich es für heute auch belassen. Mit einer Flasche Wein und einer Zigarre setzte ich mich gemütlich vor meinen Fernseher und schaute drei Folgen meiner aktuellen Lieblingsserie, bevor ich kurz nach Mitternacht zu Bett ging.

   Am Sonntagmorgen wurde ich vom Anruf eines alten Kollegen überrascht. Wie auch ich war er vor ein paar Jahren bei der Firma ausgestiegen und hatte sich mit einem Security Service für Prominente, oder solche die es gerne sein wollten, erfolgreich selbständig gemacht. Durch eine Terminänderung seines aktuellen Kunden, dessen Namen er mir selbstverständlich nicht verriet, hatte er unerwartet einen Tag Zeit. Wir verabredeten uns für den Nachmittag auf einen Kaffee in seinem Hotel. Von mir nicht unerwartet blieb es nicht bei einem Kaffee, sondern es schloss sich ein Abendessen an. Da wir uns ein paar Jahre nicht gesehen hatten, gab es viel zu erzählen. Im Laufe der Jahre hatte er nicht nur seine Firma aufgebaut, sondern auch geheiratet und war zweifacher Vater geworden. Voller Stolz zeigte er mir Bilder seiner Frau und seiner Kinder. Als er seine Brieftasche wieder in die Innentasche seines Jacketts zurücksteckte, bemerkte ich, dass er ein Schulterhalfter trug.
„Immer noch die alte Browning?“, fragte ich ihn auf seine Vorliebe für die alte 9 mm Armee Pistole anspielend.
„Nein“, erwiderte er schmunzelnd. „Ich bin notgedrungen modern geworden und habe jetzt eine Glock 21, wie fast alle. Bei dir war das ja nie so eindeutig.“
Ich musste lachen.
„Stimmt, war es nie.“
Zum Ärger der Waffenmeisterei hatte ich die Marotte ständig meine Waffen zu wechseln. Von der SIG zur Beretta, über die Walther weiter zur Smith & Wesson, bis zur Glock und schließlich wieder zurück zur SIG.
„Du hattest die Waffenmeister damals beinahe in den Wahnsinn getrieben. Jeden Monat eine andere. Warum eigentlich?“
„Keine hat mir so wirklich gepasst. Die eine war mir zu schwer, die andere zu ungenau und so weiter. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden.“
„Wie mit deinen Frauen“, erwiderte mein alter Kollege lachend. „Hat sich das wenigstens geändert? In deinem Alter sollte man langsam sesshaft werden.“
Die Frage war mir etwas unangenehm und ich versuchte sie ausweichend zu beantworten.
„Ja, es gibt jemand. Wie ich mich am Ende auch für die P226 entschieden hatte. Aber die Dame will zurzeit nicht so, wie ich will. Du weißt ja, Frauen. Die versteht keiner.“
Mein alter Kollege nickte beinahe unmerklich.
„Und wer ist deine P226 geworden? Kenne ich sie?“
Mir stockte kurz der Atem. Natürlich kannte er Geraldine und hatte große Teile unserer Beziehungen, oder Beziehungsversuche, über den Flurfunk mitbekommen. Mit der Anspielung auf meine erste und letzte Pistole hatte er ohne es zu wissen in gewisser Weise den Nagel sogar auf den Kopf getroffen.
„Ich glaube nicht, dass du sie kennst“, antwortete ich der Wahrheit ausweichend.
Auf dem Weg nach Hause musste ich noch einmal an den Vergleich mit meiner finalen Entscheidung für meine Dienstwaffe denken. So gesehen war Geraldine wirklich meine P226. Zuerst gehabt, wieder weggelegt, andere ausprobiert und am Ende doch zu ihr zurückgekehrt. Vergnügt über diesen zugegeben treffenden Vergleich und der Tatsache, dass jetzt nicht nur Chris mit GT 500 einen Codenamen für eine Frau hatte, sondern auch ich, stellte ich mein Auto in der Garage ab. Davon musste ich Chris unbedingt irgendwann erzählen.

   Die neue Woche begann mit Hausarbeit. Staubsaugen, abstauben, Betten beziehen, Küche und Bad putzen zählten nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Deshalb schob ich sie gerne solange es vertretbar war vor mir her. Öfters hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt, mir eine Haushaltshilfe anzustellen. Doch die Vorstellung eine fremde Person in meinem Haus zu haben gefiel mir noch viel weniger als das Putzen. Fünf Stunden später war wieder alles sauber und aufgeräumt. Nur eine größere Menge leerer Flaschen, die ich zum Altglas Container bringen sollte, stand noch in der Küche herum. Ich räumte die Flaschen in meinen großen Einkaufskorb und machte mich auf den Weg. Es war zwar nicht mehr ganz so warm wie am Wochenende, aber immerhin sonnig und trocken. Auf dem Rückweg traf ich meinen Nachbarn, der damit beschäftigt war sein Auto und das seiner Frau innen zu putzen. Wir unterhielten uns eine Zeit über das Reinigen von Autos, bevor ich zurück nach Hause ging. Im Flur angekommen, bemerkte ich, dass ich mein Handy auf der Kommode liegenlassen hatte. Die blau blinkende LED wies mich darauf hin, dass ich entweder angerufen worden war, oder neue Nachrichten eingetroffen waren. Ich tippte zweimal kurz auf das Display, um nachzusehen. Fünf Anrufe in Abwesenheit und zwei neue Nachrichten. Alle von Sandra. Das konnte nichts Gutes bedeuten. In ihrer letzten Nachricht stand: Bitte Rückruf! Umgehend! Ich hatte die kurze Nachricht gerade gelesen, als mein Handy erneut klingelte, wieder Sandra. Kaum hatte ich mich gemeldet, sagte sie schon:
„Weißt du wo Chris ist? Sein Handy ist ausgeschaltet und an sein Festnetz geht er auch nicht und das seit Samstagnachmittag.“
Wirklich überrascht war ich nicht. Ich konnte mir durchaus einen Grund vorstellen, warum Chris sein Handy am Wochenende ausgeschaltet hatte. Er hatte das Wochenende zusammen mit Irina verbracht. Aus demselben Grund ging er auch nicht an sein Festnetz Telefon. Ich versuchte Sandra zu beruhigen, ohne sie mit der Nase darauf zu stoßen, dass Irina vermutlich das ganze Wochenende bei Chris gewesen war.
„Das ist doch nichts Ungewöhnliches bei Chris. Über Silvester hatte er es auch aus, da er vergessen hatte es zu laden, wie er mir an Neujahr erzählte. Ich würde mir keine“.
Sandra fiel mir unsanft ins Wort.
„Was redest du da? Ich habe mit Chris an Silvester um Mitternacht telefoniert. Kurz bevor deine SMS eintraf.“
Jetzt war ich etwas durcheinander. Meine SMS an Silvester wurde nicht übertragen, weil er sein Handy angeblich ausgegangen war. Sandra hatte aber mit ihm telefoniert.
„Bist du sicher, dass du auf dem Handy angerufen hast?“
„Ja, ich bin mir absolut sicher. Was denkst du denn von mir?“
Sandra klang gereizt. Es folgte ein kurzes Schweigen.
„Ich würde mir keine Sorgen machen. Chris hat sein Handy doch öfters aus“, versuchte ich sie zu beschwichtigen.
„Chris hat sein Handy nie aus!“, erwiderte Sandra überzeugt. „Ich kann ihn immer erreichen, außer während seinen Untersuchen natürlich. Da hat er es aus.“
Langsam kam Licht ins Dunkel. Ich stellte Sandra eine gezielte Frage.
„Hast du ihn letztes Jahr an seinem Geburtstag erreicht?“
„Ja natürlich. Ich hatte ihn sogar zweimal angerufen, weil es abends etwas später bei mir wurde. Was soll diese Frage?“
Sandra schien verwirrt.
„Ganz einfach, ich glaube wir haben verschiedene Nummern.“
Ich nannte Sandra die Handynummer, die ich von Chris hatte.
„Das ist sein Geschäftshandy. Das hat er häufig aus. Mich hatte das oft geärgert, wenn ich ihn nicht erreichen konnte“, erwiderte Sandra. „Deshalb habe ich ihn letzten Sommer mehr oder weniger dazu gezwungen sich eine weitere Nummer zuzulegen. Aus diesem Grund mache ich mir ja Sorgen.“
Ich erinnerte mich wieder an den Abend im November, als wir vor meinem Kamin saßen und er Sandras SMS beantwortete. Es war ein anderes Handy als jenes, dass ich sonst bei ihm gesehen hatte. Damals machte ich mir keine Gedanken. In Zeiten von Multi-Sim Karten ist es nicht unüblich verschiedene Geräte zu benutzen. Darauf, dass es auch eine andere Nummer hat, wäre ich nicht gekommen.
„Ich kann bei ihm vorbeigehen, wenn du möchtest?“, bot ich Sandra meine Hilfe an.
Sie zögerte.
„Darf ich darauf zurückkommen, wenn ich bis heute Abend nichts von ihm gehört habe?“ „Selbstverständlich darfst du das“, versicherte ich Sandra. „Mach dir keine Sorgen. Es wird ihm schon nichts passiert sein.“
„Das hoffe ich inständig,“ sagte sie und klang bei dabei immer noch besorgt. „Ich melde mich, sobald ich von Chris höre. Bis später.“
Sandra hatte aufgelegt.
Eine weitere, höchst interessante Neuigkeit. Chris hatte zwei Handynummern und eine Nummer davon schien nur Sandra zu haben. Unter Umständen vielleicht noch zwei, drei ganz enge Freunde. Deshalb war Chris letzten Herbst so gelassen, als ich gesagt hatte, Irina hätte ihn auch anrufen können. Irina hatte diese Nummer damals nicht und ich bezweifelte, dass sie diese Nummer jetzt hatte. Ich ging in meine Küche, räumte den Korb auf, machte mir eine Zigarette an und sah aus dem Fenster. Die Magnolie im Garten meines Nachbarn hatte angefangen zu blühen. In ihrer Blütezeit sind sie wunderschöne Bäume. Dass ich seit Samstag nichts von Chris gehört hatte empfand ich nicht als ungewöhnlich und stellte für mich kein Anlass zur Sorge dar. Ich wusste, dass Chris am Samstagmorgen in einem Gartenmarkt Blumen kaufen war und sich anschließend um seinen Balkon kümmern wollte. Zudem ließen seine jüngsten Tagebucheinträge und E-Mails, die ich gelesen hatte darauf schließen, dass alles zumindest einigermaßen in Ordnung war. Selbst die Differenzen der letzten Woche mit Irina schienen ausgeräumt. Trotzdem hatte mich Sandra nervös gemacht. Mittlerweile war es 10 Minuten nach 17 Uhr. Um diese Zeit war Chris meist mit Mable im Park spazieren. Ohne lange zu zögern machte ich mich auf den Weg. Auf halben Weg zu dem toten Baum, sah ich in einiger Entfernung Mable mit einem weißen und einem braunen Hund spielen. Demzufolge musste mit Chris alles in Ordnung sein. Da ich nicht wollte, dass er meinen Kontrollgang bemerkte, drehte ich sofort wieder um und kehrte beruhigt nach Hause zurück. Mit Sicherheit gab es einen ganz banalen Grund dafür, dass Chris dieses Handy ausgeschaltet hatte. Jedenfalls waren Sandras Sorgen augenscheinlich unbegründet. Er war wie jeden Nachmittag, mit Mable im Park spazieren. Mitten in den Vorbereitungen zu meinem Abendessen, traf eine SMS von Sandra ein. Erleichtert las ich, dass sich Chris bei ihr gemeldet hatte und alles in Ordnung sei. Nach dieser guten Nachricht widmete ich mich wieder meinem Abendessen, Bärlauch-Rösti mit Schinken. Berücksichtigte man den Arbeitsaufwand kein Essen, dessen Zubereitung sich für nur eine Person lohnt. Trotzdem war es eines der besten Gerichte mit Bärlauch und dafür nahm ich diesen Aufwand gerne in Kauf. Reichlich satt setzte ich mich anschließend vor meinen Fernseher und zappte durch eine Online-Videothek, bis ich bei „Die barfüßige Gräfin“ hängenblieb. Ein großartiger Film, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte.

   Die in mein Schlafzimmer einfallenden Sonnenstrahlen eines herrlichen Frühlingsmorgens hatten mich heute früher als sonst geweckt. Während ich meinen Kaffee trank begutachte durch die Terrassentüre meinen Garten. Durch den nahezu ausgebliebenen Winter und der seit Tagen herrschenden Wärme war die Natur wesentlich weiter als üblich. Seit Freitag hatte ich nicht mehr in Chris Tagebuch gelesen und es wurde Zeit nachzusehen, ob sich seine Entscheidung für diese Behandlung gefestigt hatte. Ich ging in mein Arbeitszimmer und startete meinen Computer. Einige Sekunden später war ich mit Chris PC verbunden und öffnete das Verzeichnis mit seinem Tagebuch. Sein Eintrag vom Samstag verschlug mir die Sprache. In der ersten Zeile hatte er geschrieben, dass Irina am Nachmittag die Beziehung per E-Mail beendet hatte. Ich musste unbedingt diese E-Mail lesen bevor ich weiterlas.

„Das geht so irgendwie alles nicht. Für mich, mit mir. Ich kreisle 24 Stunden im Kopf, bin tatsächlich nur noch das personifizierte schlechte Gewissen und gehe daran ein. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht genug um Dich kümmere. Weil ich keine Luft habe zum Atmen und genervt davon bin, dass ich immer denke, ich muss mich kümmern. Schlechtes Gewissen, weil ich so ein unmöglicher Mensch bin. Schlechtes Gewissen, wenn ich überfordert bin, den Druck aus allen Seiten nicht ertrage, mir selber noch Druck mache und mich gleichzeitig vehement dagegen wehre. Ein schlechtes Gewissen, weil ich das Bedürfnis habe, nur gesunde und sorgenfreie Menschen um mich zu haben. Ein schlechtes Gewissen, weil ich genervt bin, wenn es Dir nicht gut geht, Du müde bist und eben nicht alles so ist wie ich es will. Ein schlechtes Gewissen, wenn Du mies drauf bist und mich das unendlich nervt. Enttäuschung, weil ich das alles anders wollte.

Ich möchte einfach nur EIN schlechtes Gewissen haben. Das, dass ich ein Monster bin. Gib mir ein paar Wochen Auszeit, ich will so gern mein Leben wieder (Geschäftsnormalität, Familie, Freunde, oberflächlichen Spaß) um daraus Kraft für mich zu ziehen. Im Moment hab ich sie nicht. Und zwischen Genervtheit, Depression und Müdigkeit ist kein Platz mehr für dich.

Ich dachte Liebe reicht, aber ich kann weder mit Dir noch ohne Dich. Das nervt am meisten. Wenn Du weg bist vermisse ich Dich, wenn Du dann zickig bist am Telefon oder ich bei Dir bin, bin ich wieder endlos genervt, weil es nicht so ist wie ich es will und brauche. Ich liebe Dich, das steht nicht zur Debatte. Aber ich kann und will so nicht Leben. Und ich bin zu müde um meinen Kopf beim Dauerkreiseln zu ertragen.

Gib mir die Luft und die Zeit.

Und verzeih mir irgendwann, dass ich so bin.“

Ich traute meinen Augen nicht. Was ich gerade gelesen hatte, entsetzte mich zutiefst. Zog man ihre beschönigenden Beschreibungen ab, blieb als Kernaussage übrig, dass ihr Job, Familie, Freunde und Spaß wichtiger waren als Chris. Besonders unangenehm fiel mir zuerst die Reihenfolge ihrer Aufzählung auf und die Tatsache, dass sie Chris mit dieser Formulierung explizit als Freund ausschloss. Ausnehmend missfiel mir aber, dass Irina nur von dem was sie wollte und brauchte schrieb, aber keinen Gedanken daran verschwendete, wie es Chris ging, was er brauchte und wollte. Ein zutiefst ich bezogen Haltung. Ich atmete tief durch und ließ mich in meinen Sessel zurückfallen. Beinahe regungslos verharrte ich einige Minuten und versuchte mich zu sammeln. Allein der Versuch mir vorzustellen, wie sich Chris beim Lesen dieser E-Mail gefühlt haben musste, sprengte die Grenzen meiner Phantasie. Musste die Grenzen der Phantasie jedes normalen Menschen sprengen. In mir breitete sich ein Gefühl aus, das mit Verachtung nicht annähernd beschrieben werden konnte. Verstärkt wurde es noch dadurch, dass Irina nicht einmal die Größe und den Anstand hatte Chris ihre Entscheidung persönlich von Angesicht zu Angesicht mitzuteilen, sondern sich feige hinter einer E-Mail versteckte. Im Grunde war Irina also der Typ Mensch, den niemand in seiner Nähe haben wollte, wenn er dessen wahres Gesicht kannte. Egoistisch, selbstsüchtig, gewissenlos, ohne Moral und Anstand und vor allem eiskalt. Ich war froh, dass Chris sie nie mitgebracht hatte. Sie gehört nicht zu den Menschen, die ich in meinem Haus haben wollte.  Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal innerlich so getobt hatte. Wie konnte sich Chris in ihr nur so getäuscht haben? Wie konnte ich mich so getäuscht haben? Mir ging das nicht in den Kopf. Dafür wurden mir ein paar andere Dinge klarer, wie zum Beispiel warum sie diese Beziehung unbedingt geheim halten wollte. Genauso ergab der Ablauf ihres Geburtstages jetzt einen Sinn. Ich hatte mich damals gewundert, warum sie nur kurz um die Mittagszeit bei Chris war und den Abend dann mit ihrer Familie und ihren Freunden verbracht hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass dies nach damaligen Stand der Dinge ihr letzter Geburtstag mit Chris sein würde war mir das unverständlich. Auch all die anderen ihrer Nicklichkeiten erschienen nun in einem anderen Licht. Sie erinnerten mich an mein eigenes Verhalten, auf das ich heute alles andere als Stolz war. Damals, wenn mir eine Beziehung von Anfang an nicht wichtig gewesen war, es eher ein zu lang geratener One-Night-Stand war, verhielt ich mich nicht unähnlich. Oft genug hatte ich Dinge gesagt und mir darüber wenig Gedanken gemacht wie verletzend sie waren. Aber es gab grundlegende Unterschiede zwischen Irina und mir. Meine Freundinnen erfreuten bester Gesundheit, es gab keine jahrelange Vorgeschichte, vor allem aber habe ich nie von Liebe geheuchelt oder den liebenden Freund gespielt. Über eine halbe Stunde verging, bis ich mich wieder beruhigt hatte und einen klaren Gedanken fassen konnte. Um sicher zu gehen, dass ich die E-Mail nicht falsch verstanden hatte, las ich sie noch ein paar Mal und mit jedem Mal veränderte sie sich dabei. Wie musste man diese E-Mail verstehen? So, wie ich sie zuerst verstanden hatte? Vielleicht lag ihr Schwerpunkt doch auf einem ganz anderen Aspekt? Möglicherweise war Irina einer dieser modernen Manager, denen ihre Karriere und ihre berufliche Reputation weitaus wichtiger waren als der Mensch an ihrer Seite. In anderen Worten, ein paar tausend verkaufte T-Shirts und Pullover waren für sie von größerer Bedeutung als Chris, der einfach nur ein Zeitvertreib für sie war. Auch das war möglich. Ungewöhnlich war auch die Uhrzeit zu der sie die E-Mail geschrieben hatte, Samstagabend kurz nach halb sieben. Nach meinem Wissen verschickten Frauen derlei E-Mails entweder früh am Morgen oder spät in der Nacht. Die Wahl dieser beiden Uhrzeiten hat meist einen einfachen Hintergrund. Es war ein Spieler zu viel auf dem Feld. Doch bei näherer Betrachtung erschien mir diese Uhrzeit gar nicht so ungewöhnlich. Vielleicht war sie im Begriff sich einen netten Abend zu machen und wollte vorher ein Hindernis beseitigen? Ich stand auf und ging in die Küche um mir noch einen Kaffee holen. Auf dem Weg in die Küche dachte weiter über das gerade gelesene nach. Diese E-Mail stand nicht nur in kompletten Widerspruch zu ihrem Verhalten im Januar und den liebevollen Stunden über die Chris geschrieben hatte, sondern auch zu dem, was sie Chris über November und Dezember erzählt hatte. Konnte Chris mit seiner Frage, ob ihre Rückkehr nicht nur eine exzessive Form ihres Helfersyndroms sein war richtiggelegen haben? Das war möglich, erschien mir aber zu extrem. Dafür war sie viel zu weit gegangen. Eine einfache freundschaftliche Beziehung wäre ausreichend gewesen. Ich goss den Rest Kaffee in meine Tasse. Oder gab es noch einen ganz anderen Grund? Ihre Familie und ihre Freunde, die nach Irinas Angaben ihren Exfreund sehr mochten hatten im Hintergrund solange Druck auf sie ausgeübt hat, bis sie schließlich nachgab. War das der Druck von allen Seiten den sie aushalten musste über den sie schrieb? Zu enge Familienbande konnten einen unglaublichen Einfluss haben, dass hatte ich oft genug miterlebt. Ich überlegte weiter. Wenn es nur eine Art eitles Experiment war? Sie lediglich ihren Egoismus befriedigt haben wollte, nur sehen wollte ob Chris sie noch liebte? Dann war unmenschlich noch eine sehr freundliche Umschreibung. Sie musste sich vorher im Klaren darüber sein, welchen Schaden sie hier im Zweifel anrichtete. Ich trank den letzten Schluck Kaffee und starrte aus dem Küchenfenster auf meinen Rhododendron, der angefangen hatte zu blühen. Es gab noch eine denkbare Version. Was wenn Irina einfach mit Chris Krankheit überfordert war und diese, in Kombination mit ihrer gesamten Lebenssituation, sie tatsächlich so überlastete, wie sie geschrieben hatte und sie jetzt in unglücklichen Formulierungen die Konsequenzen zog. Jede dieser Erklärungen war denkbar, aber nur eine, möglichweise die Kombination aus zwei konnte richtig sein und ich war nicht sicher welche. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich mit meiner ersten Interpretation recht hatte. Es war mein erster Eindruck und dieser täuscht selten. Doch selbst wenn ich nicht von diesem überaus negativen ersten Eindruck ausging, verletzte Irina ein paar allgemeingültige Regeln, die man nicht verletzen sollte, wollte man sich weiter als Mensch bezeichnen. Sicher, es gibt Leute denen diese Regeln aus den verschiedensten Gründen egal sind. Die der Ansicht sind, dass Werte und Moralvorstellungen nur dann für sie gelten, wenn sie ihnen nützlich sind. Für mich war es selbstverständlich immer für meine Freunde da zu sein. Sie unter keinen Umständen im Stich zu lassen. Eine Einstellung, deren Wurzeln weit in meine Kindheit zurückreichten und die mit großer Sicherheit durch einen Satz, den mein Vater oft gesagt hatte, geprägt worden war. Niemand wird je zurückgelassen. Dieser Satz, mit all seiner Entschlossenheit und Konsequenz die er zum Ausdruck bringt, hatte mich als Kind tief beeindruckt. Später als ich älter war, so etwa 17, sagte meine Mutter, nach einem der für diesen Abschnitt meines Lebens typischen Auseinandersetzungen mit meinem Vater, in dem es wie so oft um die verschiedenen Auffassungen von richtig und falsch gegangen war etwas zu mir, das ich lange nicht verstanden habe. Ein ethischer Mensch weiß, dass er etwas nicht tun darf, ein moralischer Mensch tut es nicht. Maß man Irina an diesem Satz, dann war sie bestenfalls ein ethischer Mensch mit einer höchst fragwürdigen Auffassung von Liebe und Freundschaft.

   Ich ging zurück an meinen PC, neugierig darauf, wie Chris diese E-Mail verstanden und darauf reagiert hatte. In Erwartung einer ähnlichen Reaktion wie meiner ersten, las ich seinen Eintrag vom Samstag weiter. Mit dem größten Erstaunen stellte ich fest, dass Chris absolut ruhig geblieben war. Keine Spur von Wut oder Zorn auf Irina. Er bemerkte lediglich, dass genau das geschehen war, was er schon seit Wochen erwartet hatte und zeigte sich überhaupt nicht verwundert. Ganz im Gegenteil, er schrieb, dass er hoffe, dass diese Entscheidung Irinas den Weg für die notwendigen Schritte ebnen würde. Zu meinem Leidwesen ging Chris aber weder darauf ein, warum er Irinas Entscheidung erwartet hatte, noch was er mit den notwendigen Schritten gemeint hatte. Seine Aufzeichnungen blieben in Andeutungen stecken, die nur er verstehen konnte. Jetzt war ich gespannt, was Chris auf Irinas E-Mail geantwortet hatte und öffnete erneut seine E-Mails. Die nächste Überraschung stand parat. Anstatt wie zu erwarten gewesen wäre sofort oder spätestens nach ein paar Stunden zu antworten ließ sich Chris bis Montag Zeit und erwiderte dann mit einem Text aus seinem Tagebuch, den ich nur zu gut kannte, den ich lange Zeit nicht verstanden hatte. Als ich letzten Oktober, kurz nach unserem Treffen an seinem Geburtstag zuhause ein letztes Mal die Notizen für mein geplantes Buch über Chris durchgegangen war, war ich an diesem Text hängengeblieben. Er handelt von unserer Persönlichkeit, unseren Erfahrungen, dem Potential, das wir besitzen und den Herausforderungen, den wir uns im Leben stellen müssen. Ein ganz bemerkenswerter, nicht leicht zu verstehender Text. Irinas Reaktion darauf war wie zu erwarten. Sie verstand ihn nicht und bezeichnete ihn als Aneinanderreihung von Allgemeinheiten, deren Sinn sich ihr nicht erschloss. Lapidar bemerkte sie in ihrem letzten Satz noch, dass sie erwartet hatte, dass Chris jetzt verletzt sei. Mich wunderte diese Antwort nicht, die für sich betrachtet eine weitere Frechheit war und nur noch den Nachsatz: „Ist mir aber gleichgültig“, vermissen ließ. Man musste lange und in Ruhe darüber nachdenken, was Chris mit diesen Worten gesagt und vor allem gemeint hatte. Dass Irina diese im Augenblick nicht verstehen wollte war verständlich. Chris Reaktion lag weit außerhalb jeder Norm. Die meisten Menschen hätten auf eine E-Mail, wie sie Irina geschrieben hatte mit Wut, Zorn oder Enttäuschung reagiert, nicht aber Chris. Er gab ihr mit diesem Text einen Hinweis und hoffte Irina würde ihn richtig verstehen. Ich trennte die Verbindung zu Chris Computer und verließ mein Arbeitszimmer. Chris Reaktion musste Irina mit Sicherheit verwirrt haben. Ihre Erwartungshaltung an seine Reaktion war mit Sicherheit eine andere. Mit großer Wahrscheinlichkeit war sie davon ausgegangen, dass Chris sie wütend endgültig aus seinem Leben entfernen würde und sie jetzt wieder frei sein würde zu tun und zu lassen wonach ihr gerade der Sinn stand. Ohne den unnützen und sie hemmenden Ballast eines kranken Partners. Warum Chris das nicht getan war ihr wahrscheinlich genauso unklar, wie mir. Ohne die Motive und Ziele von Chris zu kennen, konnte ich jedoch nur raten, was er mit dieser ungewöhnlichen Antwort bezweckte. Ich musste warten, bis sich Chris in seinem Tagebuch dazu äußerte. Eine unbefriedigende Situation.

   Trotz Chris ruhiger und überlegter Reaktion kochte ich innerlich weiter. Ich musste etwas tun, um mich abzureagieren und auf andere Gedanken zu kommen. Da ich diesen sonnigen Frühlingsnachmittag nicht gänzlich ungenutzt verstreichen lassen wollte, begann ich meine Terrasse zu putzen und die Gartenmöbel auszupacken. Ein Plan, der nicht besonders gut funktionierte, was die Hoffnung auf andere Gedanken anbelangte. Mir ging das Irinas E-Mail nicht aus dem Kopf. Ganz im Gegenteil. Ich erinnerte mich, dass ich letzten Frühling, während ich im Internet über Chris Tumor recherchiert hatte in einem Forum für Angehörige von Krebskranken eine ganz ähnliche Geschichte gelesen hatte. Eine Frau hatte dort geschrieben, dass sie ihren kranken Mann verlassen hatte, weil niemand von ihr verlangen könne, dass sie sich in ihrem Leben einschränkte. In deutlichen Worten hatte sie geschrieben, dass ihr Anspruch auf Spaß am Leben für sie letztlich am Höchsten zu bewerten sei. Sie besaß sogar die Dreistigkeit nicht nur um Verständnis für ihre Entscheidung zu werben, sondern forderte alle anderen mit der Begründung, dass das Leben ohnehin zu kurz sei und man die richtigen Prioritäten setzen müsse, auf ebenso zu handeln. In der Folge prasselte ein seitenlanger Sturm der Entrüstung auf diese Frau nieder, den ich nur zu gut verstehen konnte. Neben den vielen wüsten Beschimpfungen, die zu lesen waren, hatte ein User eine sehr gute Frage gestellt. Er wollte von der Frau wissen, wie sie reagieren würde, wenn ihr Mann sie verlassen würde, weil sie krank geworden war. Eine Antwort war diese Frau damals schuldig geblieben. Vielleicht deshalb, weil ihre Antwort gewesen wäre, dass sie ein solches Verhalten ihres Mannes als inakzeptable Ungeheuerlichkeit betrachtet hätte. Genau diese Frage sollte man jetzt Irina stellen. Wie wäre es, wenn sie krank wäre und Chris sie deshalb verlassen würde. Was würde sie empfinden, wenn sie derartige E-Mail erhalten würde?

   Eine Stunde später war meine Terrasse benutzbar. Ich setzte mich in einen der Stühle und versuchte zur Ruhe zu kommen, was mir wieder nicht gelang. Ich dachte an Sandra. Daran ob sie schon von der Trennung wusste? Nein, das hätte sie mir längst gesagt. Davon war ich überzeugt. Es war sicher nur eine Frage Zeit, bis Chris es ihr sagen würde. Ich fragte mich, wie Sandra reagieren würde. Als verständnisvolle gute Freundin, so wie sie es immer getan hatte oder würde sie jetzt versuchen ihren Status in Chris Leben zu verändern? Immerhin lief ihr langsam die Zeit davon. Da sie nichts von Chris Plänen ahnte, musste sie weiterhin von einem knappen Jahr ausgehen. Eigentlich viel Zeit, nicht aber, wenn man weiß, dass diese begrenzt ist. Dann ist es ziemlich wenig Zeit. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie nach diesem Ereignis in den nächsten Wochen weiter nur den Platz der guten Freundin einnehmen wollte. Sie wollte mehr für Chris sein. Davon war ich seit unserem Abend im Ballett endgültig überzeugt und jetzt war die Gelegenheit für sie gekommen. Bevor ich an diesem Abend zu Bett ging wollte ich wissen, ob sich etwas Neues ereignet hatte. Irinas Antwort auf seine E-Mail stammte von gestern Morgen und bis heute Vormittag hatte Chris nicht darauf reagiert. Es war kurz nach 23:30, als ich die Remote Verbindung zu Chris PC startete. Verwundert stellte ich fest, dass Chris bislang weder die E-Mail beantwortet, noch in sein Tagebuch geschrieben hatte. Dass er diese letzte Nachricht Irinas nicht mehr beantworten wollte, konnte ich mir durchaus vorstellen. Ich fand aber keine Erklärung dafür, warum Chris bislang nichts in sein Tagebuch geschrieben hatte. Üblicherweise schrieb er wenn er alleine war zwischen 22 Uhr und 22:30. In der Hoffnung, dass mit ihm alles in Ordnung war und er lediglich auf seinem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen trennte ich die Verbindung, fuhr meinen PC herunter und ging ins Bett. Das Einschlafen fiel mir an dieser Nacht ungewohnt schwer. Ich lag noch lange wach und dachte viel über Chris und wie er sich jetzt fühlen musste nach. Aber auch über Irina. Selten zuvor in meinem Leben war jemand so rasant in meiner Achtung gestiegen und so abrupt wieder ins bodenlose gefallen wie sie. Noch einmal spielte ich im Kopf alle denkbaren Auslegungen ihrer E-Mail durch und wurde dabei immer unsicherer, wie ich sie verstehen sollte. Aber selbst wenn ich von der besten aller hier denkbaren Varianten ausging blieben Fragen offen. Wie lange sollten ein paar Wochen ihrer Ansicht nach sein? 4 oder 10, vielleicht sogar 20? Unerheblich davon, ob von wieviel Zeit sie ausging, wenn sie Chris wirklich liebte, hatte sie keine zu verschenken. Warum konnte sie nicht einfach schreiben, dass sie eine kurze, klar definierte Zeit braucht, weil sie mit Chris Zustand nicht zurechtkam. Weshalb musste sie schreiben, dass ihr Geschäft, Familie, Freunde und vor allem oberflächlicher Spaß wichtiger waren als Chris? War sie sich schlicht nicht im Klaren darüber, was sie mit diesen Sätzen wirklich gesagt hatte? Das wiederum konnte ich mir kaum vorstellen. Andererseits passten sie zu den vielen Äußerungen der letzten Wochen, die bei mir immer einen fahlen Nachgeschmack hinterlassen hatten. Ich wälzte mich unruhig in meinem Bett von einer Seite zur anderen und konnte keine Ruhe finden. Zu unfassbar war der heutige Tag für mich. Plötzlich schoss mir ein Satz Irinas durch den Kopf, der vor einigen Wochen der Auslöser dafür war, dass Chris ein bestimmtes Medikament absetzte. Wohl doch die falsche Frau. Wie Recht sie damit hatte. Sie ist die falsche Frau für Chris. Jedenfalls in diesem Stadium seines Lebens.

   Dem Beispiel meines Nachbarn folgend, der seinen Rasen am Vormittag gemäht hatte, machte ich mich am späten Nachmittag daran meinen zu mähen. Eine willkommene Abwechslung zu den Gedanken über Irinas E-Mail, die mich in den vergangenen Tagen nicht losgelassen hatte. Ich war gerade fertig, als mein Handy klingelte. Ein Anruf von Chris. Er fragte mich, ob ich heute Zeit hätte, er würde sich gerne mit mir treffen. Wir verabredeten uns für 18:30 zum Abendessen bei mir. Eine ungewöhnliche Zeit für Chris, hatten wir uns doch die letzten Male immer um 19 Uhr oder 19:30 getroffen. Chris hatte mir keinen Grund für das Treffen genannt, aber ich war mir sicher, es hatte mit der Trennung von Irina zu tun. Auf dem Weg in meine Garage, den Rasenmäher aufräumen, klingelte mein Handy erneut. Diesmal war es Sandra. Aufgeregt sagte sie mir, dass Chris sie gerade eben angerufen hatte und er ihr mitgeteilt hatte, dass wir uns heute um 19 Uhr bei mir zum Abendessen treffen. Kurzfristig war ich etwas irritiert. Vor nicht ganz 10 Minuten hatte sich Chris mit mir um 18:30 verabredet und jetzt behauptete Sandra, Chris hätte 19 Uhr zu ihr gesagt. Ich war mir sicher, dass dies kein Versehen von Chris war, sondern er Sandra mit Absicht später bestellt hatte. Möglicherweise wollte er mit mir etwas besprechen, das nicht oder noch nicht für Sandras Ohren bestimmt war. Ich bestätigte Sandra den Termin und fügte hinzu, dass ich mich sehr auf unser gemeinsames Abendessen freute.

   Pünktlich um 18:30 klingelte es an meiner Türe. Ohne zu kontrollieren wer geklingelt hatte, drückte ich auf den Toröffner. Kaum hatte sich das Tor geöffnet sauste Mable so schnell sie konnte Richtung Haustüre und begrüßte mich überschwänglich. Ein paar Augenblicke später hatte auch Chris die Haustüre erreicht. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich eine Vermutung für den Grund dieses Treffens hatte, als wir uns begrüßten. Wir gingen in meine Küche und Chris nahm an der Bar Platz.
„Verrätst du mir den Grund für dieses ungewöhnliche Treffen“, platzte es aus mir heraus.
Chris steckte sich eine Zigarette an und sah mich einfach an. Seit wann rauchte Chris Zigaretten? Ich hatte ihn bislang immer nur Zigarillos rauchen gesehen. Nach einem Zug legte er die Zigarette im Aschenbecher ab und griff in seine Hosentaschen. Er zog einen USB Stick heraus und legte ihn wortlos auf die Bar. Jetzt war mir klar, warum er sich mit mir eine halbe Stunde früher treffen wollte. Es ging um das Buch.
„Sind das die fehlenden Kapitel?“, fragte ich erfreut. Mir fielen ganze Gesteinsmassen vom Herz. Endlich war dieses Buch fertig, auf das ich Monate gewartet hatte.
„Nein“, erwiderte Chris ruhig. „Ich habe nochmal lange über die ganze Handlung und die Personen nachgedacht, weil mich ein paar Dinge störten. Vieles war mir zu undeutlich und in seiner Aussage zu ungenau. Das konnte so nicht bleiben, wenn du wirklich erreichen willst, dass Geraldine über einiges nachdenkt. Keine Sorge, im Kern bleibt die Geschichte erhalten. Ich habe nur ein paar Details verändert. Diese dafür nachthaltig.“
Ich war vollkommen überrascht und ziemlich enttäuscht.
„Was um alles in der Welt hat dich denn dazu gebracht?“
Chris nahm die Zigarette wieder aus dem Aschenbecher und zog daran.
„Bist du nicht zufrieden mit dem Buch oder was ist los?“, wollte ich den mir rätselhaft Grund für die Änderungen erfahren.
Chris atmete tief durch.
„Manchmal ist Diplomatie nicht das richtige Mittel. Freundlich und in aller Höflichkeit um wichtige Themen herumzuschleichen bringt niemand weiter. Manches muss, wenn die Zeit dafür gekommen ist, direkt angesprochen werden. Sonst verfehlst du in aller Freundlichkeit das Ziel.“
Ich unterbrach Chris aufgeregt.
„Was wenn Geraldine das in den falschen Hals bekommt und ausflippt?“
Chris schnippte die Asche seiner Zigarette in den Aschenbecher und schaute mich an.
„Ich kann gerne bei der ursprünglichen Version bleiben, wenn du dich damit wohler fühlst. Aber laß dir gesagt sein, dass Beschwichtigung noch nie zu irgendetwas geführt. Außer das man den Beschwichtigenden irgendwann nicht mehr ernst nimmt. Du willst eine Veränderung? Antworten auf deine Fragen? Dann musst du manchmal den harten Weg gehen. Die Weltgeschichte ist voll von Beispielen dafür. In anderen Worten, es ist deine Entscheidung, ob du lieber Chamberlain oder Churchill sein willst.“
Wieder einmal zog Chris Analogien zur Weltgeschichte. Schon in seinem ersten Brief an Irina vor 2 Jahren als er nach dem richtigen Umgang mit ihren sich widersprechenden E-Mails suchte war mir diese Denkweise, die sich später in seinen Entscheidungsfindungen wiederholte aufgefallen. Was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen, hatte Chris einmal geschrieben.
„Findest du das nicht zu hart?“, fragte ich besorgt.
Chris schüttelte seinen Kopf.
„So schön die Geschichte ist, sie ist ein Traum. Mit der Realität hat sie nichts zu tun. Die Realität ist anders. Traumloser und brutaler“.
Ich verstand nicht ganz, worauf Chris hinaus jetzt wollte. Es war eine schöne Geschichte, die sich so, sieht man von Chris dramaturgischen Kunstgriffen ab, in der Realität zugetragen hatte. Bis auf das Happyend. Aber auch das lag nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung und gerade dazu sollte das Buch beitragen. Chris drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.
„Was willst du mit den Veränderungen erreichen?“
Chris wurde ernst.
„Das ist die falsche Frage. Die richtige Frage lautet, was willst du erreichen?“
„Mein Leben mit Geraldine verbringen. Was denn sonst?“
„Um jeden Preis und zu jeder Bedingung“, kommentierte Chris mit süffisantem Unterton.
„Nein das nicht“, entgegnete ich aufgebracht. „Manches muss sich ändern. So wie es war ist es unerträglich. Es muss angesprochen werden.“
Chris schmunzelte kurz vor sich hin, bis er wieder ernst wurde.
„Genau das mache ich doch.“
„Aber ich kann doch keine Beziehung damit beginnen, dass ich mehr oder weder Bedingungen stelle“, wandte ich ein.
Ein Stoßlaut entwich Chris.
„Eine Beziehung habt ihr schon seit über 21 Jahren. Du meinst eine Partnerschaft. Und es sind keine Bedingungen um das klarzustellen.“
„Das ist das gleiche!“, fiel ich Chris ins Wort.
„Das ist es nicht“, erwiderte Chris ruhig. „Eine Beziehung ist das wechselseitige Verhältnis zweier Objekte zueinander. Deshalb unterhalten Staaten Beziehungen zueinander. Eine Partnerschaft ist etwas Anderes. Das Wort Partner leitet sich vom mittelenglisch „parcener“ ab und bedeutet Teilhabe. Das ist eine andere Qualität. Du willst an Geraldines Leben teilhaben, sie an deinem Teilhaben lassen und nicht nur in einem Verhältnis zu ihr stehen. Nur weil wir die Begriffe in der Umgangssprache synonym verwenden, heißt das doch lange, dass es auch richtig ist. Warum glaubst du wohl, dass es Ehepartner heißt? Wenn du mir nicht glaubst, lies es nach.“
Ich hatte keine Lust mich auf Chris Wortklaubereien einzulassen, da er vermutlich ohnehin Recht hatte. „Von mir aus eben Partnerschaft. Das ändert nichts an dem was ich gesagt habe.“
Chris verzog das Gesicht.
„Es muss in aller Deutlichkeit angesprochen werden, um anschließend eine gemeinsame, für beide gangbare, Lösung finden zu können. Sonst habt ihr am Ende eine Schönwetterbeziehung statt einer Partnerschaft.“
Langsam fing ich innerlich an zu kochen. Chris, der nie ein einziges Wort über Irinas Entgleisungen verloren hatte, geschweige denn mit ihr darüber geredet hätte, ja selbst ihre mehr als fragwürdige E-Mail nicht zum Anlass genommen hatte klare Wort mit Irina zu sprechen, erklärte mir warum es besser sei solche Themen direkt anzusprechen. Was für ein Widerspruch! Ich ließ Chris letzte Bemerkung unbeantwortet und fing an die Küche aufzuräumen. Als ich fertig war lehnte ich mich gegenüber von Chris an die Arbeitsplatte und wir schwiegen uns eine Weile an, bis Chris zur Küchenuhr aufschaute. Es war 2 Minuten vor 19 Uhr.
„Es ist besser du steckst den Stick ein. Sandra wird jeden Augenblick hier sein. Sie muss ihn nicht sehen“, ermahnte mich Chris.
„Du hast Recht“, erwiderte ich, im Bewusstsein, mich gegenüber Sandra am Freitagabend als Autor dieses Buchs ausgegeben zu haben.
Chris steckte sich noch eine Zigarette an, während ich Pfannen und Töpfe aus den Schränken holte.
„Was gibt es denn heute?“, wollte Chris wissen.
„Fisch, Gemüse und Reis“, entgegnete ich knapp. „Deine ad hoc Einladung hat mich etwas unvorbereitet erwischt.“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Chris. „Aber es ging nicht anders.“
Unser Gespräch wurde vom Läuten der Türglocke unterbrochen. Sandra war gekommen. Während Chris an der Bar sitzenblieb und weiter rauchte, ging ich zur Türe. Ein paar Augenblicke später kehrte ich in Begleitung von Sandra zurück in die Küche. Ungewohnt innig umarmte Sandra Chris zur Begrüßung und drückte ihn fest an sich. Sandra nahm neben Chris an der Bar Platz und ich begann zu kochen.
„Was gibt es denn Leckeres?“, wollte Sandra von mir wissen.
„Lotte in Weißweinsoße, Zuckerschotten und Reis. Ich hoffe du magst das?“
Sandra strahlte über das ganze Gesicht.
„Sehr sogar. Ich liebe Fisch.“
Mein improvisiertes Abendessen stieß zu meiner Freude bei Sandra auf Anklang. Bevor ich den Fisch in die Pfanne gab, bat ich Chris den Wein aus dem Kühlschrank zu holen, ihn zu öffnen und ihn zusammen mit den bereitstehenden Gläsern in das Esszimmer zu bringen. Ich hatte für dieses Essen einen Chardonnay ausgewählt, von dem ich hoffte Chris und vor allem Sandra würden ihn mögen.

   Gespannt wartete ich während des Essens darauf, dass Chris uns endlich über den Grund dieses Treffens aufklären würde. Vielmehr Sandra, ich hatte schließlich eine Vermutung, was der Anlass sein könnte. Als wir fast aufgegessen hatten, wandte sich Chris endlich an uns.
„Ihr fragt euch bestimmt nach dem Grund für dieses überraschende gemeinsame Abendessen? In den letzten Monaten lief mein Leben gut organisiert in geordneten Bahnen. Alles hatte sein Rhythmus, sein Tempo, seine unveränderliche Logik. Ich war zufrieden mit mir, der Situation und den Umständen. Stolz darauf wieder fast alles alleine zu können. Wenn ich auch manchmal übertrieben habe. Dank Menschen wie euch fühlte sich mein Leben normal an, sofern dieses Wort hier angebracht ist.“
Chris drehte seinen Kopf in meine Richtung.
„Dank dir habe ich viele tolle Whiskys kennenlernen dürfen, die ich sonst nie hätte probieren dürfen und ich darf mit einer 63er Corvette fahren, wann immer ich will. Wir hatten viele angeregte Gespräche über Autos, das Leben und über Whisky. Dabei hast du mir nie das Gefühl gegeben krank zu sein. Du hast mich immer so genommen, wie ich war.“
Dann richtete sich Chris an Sandra.
„In den letzten Jahren warst du mir die beste Freundin, die ein Mensch sich wünschen kann. Auch wenn mich deine Fürsorge seit letzten Mai manchmal genervt hat, weil sie mir ein wenig übertrieben schien. Es gibt vieles, dass ich dir verdanke, dass ich ohne dich niemals gemacht oder geschafft hätte. Einen derart verlässlichen, aufrichtigen und hilfsbereiten Menschen meinen Freund nennen zu dürfen ist mir eine große Ehre. In den vielen dunklen Stunden warst du immer für mich da und hast mir das Gefühl gegeben, nie alleine zu sein. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, wie schwierig und verschlossen ich oft war.“
Während Chris weiter sprach, beobachtete ich kurz Sandra. Ich konnte gut erkennen, dass ihr vor Rührung Tränen in den Augen standen. Dennoch war eine Anspannung, die sie hinter einem Lächeln zu verbergen versuchte, deutlich zu bemerken.
„Aber ich bin nicht nur hier, um mich bei euch zu bedanken, sondern um euch etwas mitzuteilen. Ich habe euch nicht oder nicht ausführlich genug gesagt, dass meine Prognose bei den letzten Untersuchungen eher verschlechtert hat. Wir reden im günstigsten aller Fälle von Ende des Jahres, maximal Anfang nächsten Jahres. Das wäre für sich betrachtet kein großes Problem. Immerhin lebe ich seit letztem Sommer von Zeit, die mir niemand mehr geben wollte.“
Chris atmete tief und richtete sein Blick auf Sandra.
„Im Dezember erfuhr ich zum ersten Mal von einer neuen alternativen Behandlungsmethode, die ab Juli oder August mit der ersten Gruppe startet und für die die Voruntersuchungen im April stattfinden. Ich habe diesen Termin damals aus verschiedenen Gründen nicht in Betracht gezogen. Einer davon war, dass es damals so aussah als wäre der Start im November mit der zweiten Gruppe für mich immer noch ausreichend und ich nicht wieder den Sommer und Herbst im Krankenhaus verbringen müsste. Zudem ist nicht klar, ob ich überhaupt für diese Testreihe in Frage komme. Deshalb habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Es hätte nur für unnötige Diskussionen gesorgt, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht wollte. Mit der Zeit und unter dem Eindruck der letzten Untersuchungsergebnisse hat sich meine Einstellung geändert. Der Novembertermin wird zu knapp.“
Ich blickte erneut zu Sandra hinüber. Gebannt starrte sie Chris an. Sie schien jedes seiner Worte aufzusaugen.
„Am Ende war es eine logische, weil mathematische Entscheidung“, fuhr Chris fort. „Ohne diese Behandlung habe ich noch 8 oder 9 Monate, vielleicht 10. Mache ich die Behandlung und sie ist nicht erfolgreich, ist es genauso viel Zeit. Ich verliere also, außer ein paar Wochen im Krankenhaus nichts. Ich will ehrlich zu euch sein, die Behandlung ist nicht ohne Risiko, aber die beste aller Optionen.“
Obwohl ich seit geraumer Zeit von seiner Entscheidung wusste, war ich geschockt. Doch längst nicht so wie Sandra. Ihre Mine wirkte versteinert. Sie war weiß geworden wie die sprichwörtlich Wand. Ein paar Sekunden herrschte eine gespenstige Ruhe, bis Sandra das Wort ergriff. Hektisch sagte sie:
„Was ist das für eine Behandlung? Welche Risiken hat sie? Was muss ich darüber wissen? Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?“
In Sandra Stimme klang Verunsicherung und Angst. Ich hatte den Eindruck, sie war kurz davor die Kontrolle über sich zu verlieren. Aber auch ich rang um Fassung. Über eine Entscheidung zu lesen ist eine Sache, sie von Angesicht zu Angesicht mitgeteilt zu bekommen ein ganz andere. Letztlich traf mich Chris Ankündigung genauso unvorbereitet hart, wie Sandra. Chris erklärte uns ausführlich, dass diese Therapie, die in Kliniken im Ausland bei ersten Testreihen schon über 80 Mal erfolgreich angewandt worden war, hier vorläufig freigegeben wird. Die eigentliche Behandlung im Juli oder August beginnen soll und er bis Oktober immer wieder wochenweise weg sein würde. Am Ende schlossen sich zwei Operationen an. Die erste, kleinere und ungefährlichere, voraussichtlich im November, die zweite wesentlich kritischere im Januar des nächste. Jahres.
„Im Anschluss daran muss ich sicher noch zur Reha, die wahrscheinlich bis Ende März dauern wird.“
Allerdings schränkte Chris erneut ein, noch nicht sicher sei, ob er für die Testreihe in Frage kam. Er wiederholte nochmals, dass dazu im Anschluss an seine regelmäßige Untersuchung Mitte April, noch weitere Test und Checks gemacht werden mussten. Mir schossen eine Menge Fragen, die ich Chris gerne gestellt hätte durch den Kopf, aber ich hielt es für angemessen Sandra, die sicher ebenfalls viele Fragen hatte, den Vortritt zu lassen.
„Wie die Chancen?“, fragte Sandra besorgt, nachdem Chris mit seiner Erklärung fertig war und er sich wieder eine Zigarette angesteckt hatte. „Ich mache mir große Sorgen, dass dir etwas passieren könnte.“
„Es gibt keinen Grund sich Sorgen zu machen“, beschwichtigte Chris. „Ohne die Behandlung liegt sie bei null.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage“, fuhr Sandra Chris an. „Ich will eine Zahl von dir hören!“
„Wenn dir eine Zahl hilft, 70 Prozent.“
Chris machte eine kurze Pause.
„Sieh es doch so. Würde ich es nicht versuchen, bliebe auch nicht mehr Zeit. Vielleicht sogar weniger.“
Ich war mir nicht sicher, wie ich Sandras Blick in dieser Sekunde deuten sollten. Hoffnung, Entsetzen, Furcht, Zuversicht, Ungläubigkeit, alles war gleichzeitig zu sehen.
„Und du bist dir sicher, dass das die richtige Entscheidung ist?“, hakte Sandra nach.
„Ich bin mir absolut sicher. Ich habe in den letzten Wochen intensiv darüber nachgedacht. Es gibt nur diese eine Lösung.“
Unruhig wartete auf Sandras Reaktion. Eine Träne lief ihr über die Wange.
„Du weißt, dass ich immer hinter dir stehe und für dich da bin. Ich werde dich das nicht alleine durchmachen lassen. Wenn du dir sicher bist, dass dies der richtige Weg ist, dann bin ich auch dieser Ansicht. Ich werde dich unterstützen, wo immer ich kann.“
Sandra versuchte zu Lächeln, obwohl es ihr in diesem Augenblick bestimmt so schwerfiel, wie selten in ihrem Leben zuvor. Dabei legte sie ihre rechte Hand auf Chris linke und hielt sie zum Zeichen ihrer Verbundenheit sanft fest. Ein wunderschöner Ausdruck der Freundschaft und Nähe in diesen denkwürdigen Minuten. Dann warf sie mir einen auffordernden Blick zu. „Natürlich bin ich auch für dich, ich hoffe du weißt das. Wann immer ich etwas für dich tun kann, sag es einfach. Du weißt, ich habe sehr viel Zeit“, wandte ich mich an Chris, in der Hoffnung Sandras Blick richtig interpretiert zu haben.
„Ich danke euch. Mir ist bewusst, dass es ohne eure Hilfe sehr schwierig werden würde. Es ist schön und beruhigend Freunde wie euch zu haben.“
Chris wirkte erleichtert und gerührt.
„Was hat Irina gesagt? Wie geht sie damit um? Du hast es ihr doch schon gesagt?“
Diese Fragen Sandras kamen für mich völlig unerwartet. Sie konnte sich doch in diesem Moment nicht ernsthaft Gedanken über die Frau machen, die ihre schärfste Konkurrentin war. Gleichzeitig zeigten sie, dass Sandra von der Trennung nichts ahnte.
„Gar nichts“, antwortete Chris beinahe ausdruckslos.
Sandra wirkte geschockt.
„Wieso das?“
„Weil es nicht mehr notwendig sein wird“, hielt Chris entgegen.
„Es ist deine Entscheidung“, sagte Sandra nach ein paar Sekunden. „Selbst, wenn du die allerbesten Gründe hast es ihr zu verschweigen, bin ich dennoch der Ansicht, sie sollte es erfahren.“
Unterstützung einfordernd sah Sandra zu mir herüber. Ich war verunsichert und wusste nicht was ich sagen sollte. Plötzlich zog Chris sein Handy aus seiner Hosentasche, tippte kurz auf den Bildschirm und reichte es Sandra.
„Das hier sollte deine Frage ausreichend beantworten.“
Sandra nahm sein Handy und begann zu lesen. Für mich bestand kein Zweifel, dass es sich um Irinas E-Mail vom Samstag handeln musste. Je weiter sie las, desto mehr verfinsterte sich ihre Mine und Fassungslosigkeit macht sich in ihrem Gesichtsausdruck breit. Wortlos gab Sandra das Telefon Chris zurück. Chris nahm es und gab es sofort an mich weiter. Tatsächlich war es besagte E-Mail. Um nicht den Verdacht zu erwecken, den Inhalt bereits zu kennen, tat ich sie so, als würde ich sie zum ersten Mal lesen. Wie zuvor war ich mir am Ende wieder nicht sicher, wie ich sie verstehen musste. Auch ich gab das Telefon schweigend Chris zurück. Die Stille, die in meinem Esszimmer jetzt herrschte, hatte etwas Unerträgliches. Weder Sandra noch ich waren in der Lage ein Wort zu sagen.
„Das tut mir sehr leid für dich“, sagte Sandra leise nach einer gefühlten Ewigkeit. „Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie es dir gehen muss.“
Sie legte erneut ihre Hand auf die von Chris und sah ihn an. Chris drehte, ohne ein Wort zu sagen, sein Kopf zu Sandra. Ein stummer Moment der Vertrautheit, wie ich ihn zwischen den beiden lange nicht mehr gesehen hatte. Unvermittelt sagte Sandra:
„Und wenn sie es herausfindet was du vorhast? Was machst du dann?“
Sandra unterstrich ihre Fragen mit bohrenden Blicken in Chris Richtung.
„Das werde ich entscheiden, wenn es notwendig werden sollte. Falls es das überhaupt jemals wird und das wird es nicht mehr werden.“
Sandra sah Chris ungläubig an und schüttelte ganz leicht ihren Kopf.
„Weißt du schon, wie genau die nächsten Monate ablaufen werden?!, wechselte Sandra abrupt das Thema wieder zurück auf Chris geplante Behandlung. „Ich muss das unbedingt wissen!“ „Das kann ich dir im Augenblick nicht sagen“, erwiderte Chris. „Wie ich schon sagte, in erster Linie hängt alles von den Untersuchungen im April ab und dann.“
„Aber du wirst nicht das ganze Jahr im Krankenhaus sein?“, fiel Sandra Chris ins Wort.
Chris lächelte.
„Nein, werde ich nicht. Nur immer wieder ein paar Tage, vielleicht eine Woche. Aber das habe ich doch auch schon gesagt.“
Sandra wurde verlegen.
„Verzeih bitte, aber ich bin einfach besorgt um dich. Deshalb musst du mich ganz genau informieren, auch wenn es dir schwerfällt.“
Bei ihrem letzten Satz lächelte Sandra Chris verständnisvoll und hoffend an.
„Beruhige dich doch bitte“, erwiderte Chris mitfühlend. „Ich hatte dir letztes Jahr doch auch alles gesagt, oder nicht?“
„Doch, das hast du. Aber damals war es anders. Es ging nur noch um“, Sandra stockte, „Zeit. Wieviel Zeit noch bleibt. Jetzt gibt es Hoffnung und das ändert alles.“
Sandras Augen funkelten bei ihrem letzten Satz und gaben ihm damit eine zusätzliche Bedeutung. Ob Chris diese Bedeutung ebenfalls bemerkte hatte, vermochte ich nicht zu sagen, denn er beendete dieses Thema.
„Genug jetzt davon. Das wird uns noch das ganze Jahr beschäftigen. Lasst uns lieber über etwas Anderes reden. Was machen deine Rosen? Haben sie den Winter gut überstanden?“
Dieser unvermittelte Themenwechsel verschlug mir beinahe die Sprache.
„Ja, haben sie. Es geht ihnen gut“, stotterte ich mehr, als ich sprach.
„Was für Rosen hast du?“, wollte Sandra wissen. „Du musst wissen, ich liebe englische Rosen. Es sind meine Lieblingsblumen. Hast du auch ganz dunkelrote? Eine Black Baccara vielleicht? Das ist in meinen Augen eine der schönste Rosen.“
„Ja natürlich habe ich eine“, erwiderte ich nicht ohne Stolz und berichtete Sandra und Chris ausführlich über meinen Rosen.

   Kurz vor 23 Uhr sagte Chris:
„Es wird langsam Zeit für mich“ und erhob sich.
Für Mable, die den ganzen Abend auf dem Wohnzimmerteppich geschlafen hatte, das Startzeichen, dass es jetzt nach Hause ging. Ich brachte die drei zur Türe. Als ich sie öffnete bedachte nicht, dass Mable, die Chris noch nicht angeleint hatte, die Gelegenheit sofort nutzen würde für eine Tour durch meinen Garten zu entwischen. Dreimal rief Chris Mable zu sich, diese aber machte keine Anstalten zu kommen. Während Chris ärgerlich Mable in den Garten folgte, um sie anzuleinen, blieben Sandra und ich in der Türe stehen. Als Chris um die Ecke bogen war sagte Sandra mit ernster Stimme leise zu mir:
„Wir müssen dringend reden. Am besten gleich morgen Abend. Wir sollten uns….“ Sie brach ihren Satz abrupt ab, als Chris mit Mable an der Leine wieder aus dem Garten zurückkehrte. Die drei liefen gemeinsam meine Auffahrt hinunter. Am Tor angekommen winkte Sandra zum Abschied und rief mir zu:
„Wir sehen uns.“ Mit ein fast unhörbaren „Morgen“ im Nachklang.
Ich nickte und schloss die Haustüre. Im Vorbeigehen schaltete ich das Licht im Esszimmer aus und setzte mich auf mein Sofa. Ein denkwürdiger Abend, mit weitreichenden Folgen war zu Ende. Folgen die niemand absehen konnte. 70 Prozent hatte Chris hatte gesagt. Diese Zahl geisterte unablässig durch meinen Kopf. Mehr aber noch das Wort Operation. Ich konnte nicht abschätzen, wie hoch das Risiko dabei lag. Allein die Vorstellung einer Operation im Kopf erschauderte mich. Ich griff in meine Hosentasche um mein Feuerzeug herauszuholen. Dabei ertaste ich den USB-Stick mit den geänderten Kapiteln, den ich völlig vergessen hatte. Ich zog beides aus der Tasche, legte den Stick vor mir auf den Tisch und zündete mir eine Zigarette an. Als Chris mir die ersten Kapitel gegeben hatte konnte ich es kaum erwarten sie zu lesen. Auch bei den letzten war das nicht anders gewesen. Heute hatte er mir eine überarbeitete Fassung mit entscheidenden Veränderungen gebracht und ich fand jetzt nicht die Ruhe sie zu lesen. Ich lehnte mich zurück und ließ mir den heutigen Abend nochmals Revue passieren. Chris hatte vieles gesagt. Aber ebenso viel verschwiegen. Die Begründung für seine Entscheidung war gegenüber Sandra rücksichtsvoll. Ich hatte von Chris nichts Anderes erwartet. Dennoch, so plausibel sie auch war und sicher zu einem bestimmten Teil auch seine Entscheidung beeinflusst hatte, es war nicht die ganze Wahrheit. Irina und sein Traum von einem Leben mit ihr war der wahre Grund. Hätte Chris diese Entscheidung zu diesem Zeitpunkt auch ohne die letzten beiden Monate so getroffen? Eine hypothetische Frage, die sich nicht beantworten ließ. Genauso hypothetisch wie die Frage, ob es nicht vernünftiger gewesen, Chris hätte mit Irina schon früher über seine Pläne gesprochen? Aber seit ihrer E-Mail, egal wie sie zu verstehen war, zählte nur noch die Tatsache, die sie damit geschaffen hatte.
Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus, stand auf und löschte das Licht im Wohnzimmer. Auf dem Weg ins Bad kam mir ein Gedanke. Wenn Chris letztes Jahr schon Recht hatte, was Irinas Fähigkeit anbelangte mit seiner Krankheit umzugehen, dann war Irinas E-Mail nichts weiter, als eine späte Bestätigung für ihn und würde seine gelassene Reaktion erklären. Ich erinnerte mich an den Ausdruck Cheerleader, den Chris einmal im Zusammenhang mit Irina gebraucht hatte. Damals war ich mir nicht sicher, wie Chris diesen Ausdruck verstanden haben wollte. Nun war es eindeutig. Während ich mir die Zähne putzte, dachte ich an Sandra und wie sie sich jetzt fühlen musste. Nun bestand Hoffnung, dass Chris wieder gesundwerden könnte. Gleichzeitig war die Konkurrentin fort. Trotz ihrer Sorgen und Ängste vor dem, was in den nächsten Monaten auf sie zu kommen konnte, mussten diese Nachrichten ein Silberstreif an ihrem Horizont sein. Gespannt darauf, was Sandra morgen mit mir besprechen wollte legte ich mich in mein Bett, als ich mich daran erinnerte, was Chris in Anlehnung an Winston Churchill einst über die Beziehung mit Irina geschrieben hatte. Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen. Wie Recht er damals hatte. Nur das wahre Ausmaß konnte er damals sicher nicht erahnen. Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere und konnte nicht einschlafen. Ich dachte wieder an Sandra. Alle meine Gedanken und Wünsche galten ihr. Dieser außergewöhnlichen und wunderschönen Frau. Obwohl Chris Irina seit vielen Jahren liebte und sich das bei vernünftiger Betrachtung wohl nicht ändern würde, das hatte seine Reaktion auf ihre E-Mail gezeigt, wünschte ich mir, dass Sandra am Ende die Glückliche sein wird, deren Träume in Erfüllung gehen werden.

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