Der andere Sonntagsausflug

6:36

Noch eine knappe halbe Stunde, bis es beginnt hell zu werden. Die Xeon Lichter und die LED-Liste über der Kabine erleuchten die Straße taghell. Kurve um Kurve wird der Weg steiler, bis er schließlich auf dem Gipfel eines Berges endet. Ich steige aus und schaue mich um. Nach Süden, nach Osten, nach Norden und nach Westen. Ich könnte in jede Richtung fahren. Es ist meine Entscheidung.

2 Zigaretten später fängt es an zu dämmern und ich beobachte einen Raubvogel, der majestätisch durch den Morgenhimmel schwebt.

Zurück im Auto gebe ich “Utopia” in das Navigationssystem ein.
“You’ve already reached  destination” antwortet es nach längerer Suche und klingt dabei irritiert. Ich entscheide mich Richtung Norden zu fahren. Jemand sagte mir: Dort muss es wärmer sein als hier.

8:53

Eine Tankstelle, 160 km weiter nördlich. Ich trinke Kaffee. Nebenbei überfliege ich die letzten Nachrichten, die das Display meines Smartphones füllen. Nichts Wichtiges. Der übliche mediale Durchfall. Ich wische über den kleinen Monitor durch eine Unmenge Apps, die uns das Leben erleichtern sollen und ohne deren Hilfe schon viele Menschen unfähig geworden sind, ihr Leben zu meistern. Wer schreibt endlich die “Leben-App”, damit die Menschen wissen, wie sie leben und entscheiden müssen?

09:12

16-mal hat mein Smartphone gepiept, seit ich die Tankstelle verlassen habe. Ich drücke den Knopf des Fensterhebers. Leise surrend öffnet sich das Seitenfenster, während ich nach meinem Smartphone greife und es hinauswerfe. Zufrieden beobachte ich im Rückspiegel, wie es auf dem Asphalt aufschlägt und in tausend Teile zerbricht.

10:04

Nach 90 Kilometer Landstraße erreiche ich eine Kreuzung.  Ich reduziere das Tempo und lese die Schilder. Links geht es Richtung “Political Correctness”, rechts über “Empathie“ zu “Relationship Benefit Management”. Auf dem Wegweiser geradeaus prangt nur ein großes Fragezeichen.

Kopfschüttelnd trete ich das Gaspedal durch. Sofort schaltet das Getriebe 5 Gänge zurück und der V8 brüllt zornig auf. Der Truck schüttelt sich kurz, bevor er geradeaus losstürmt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.

11:13

Eine lange Spiegelwand taucht am Horizont der rechten Fahrbahnseite auf. Ich verlangsame meine Fahrt und betrachte die Menschen davor, die aufgeregt ihre Spiegelbilder fotografieren. Zerrspiegel stelle ich überrascht fest, als ich den ersten passiere. Die Spiegelbilder geben nicht die Menschen vor ihnen wieder, sondern das, was sie gerne wären.

14:16

Seit 2 Stunden ist mir kein Auto mehr entgegengekommen. Ich erreiche die letzte Kreuzung.

Es geht nur noch in 2 Richtungen weiter. Hippe Kleinstwagen, schicke Cabrios und sündhaft teure Sportwagen biegen links Richtung “Brave New World” ab. Uniforme Mittelklasse Limousinen, vornehmlich in gedecktem schwarz, grau und dunkelblau, nach rechts. “1984“ steht auf dem Wegweiser in diese Richtung. Verstört wirkende Fahrer, zumeist in jungfräulichem weiß gehaltener SUVs, halten den Verkehr auf. Genau wie ihre Autos, die sich ebenfalls nicht entscheiden können was sie sein wollen, zögern sie lange, bevor sie in die eine oder andere Richtung abbiegen.

Ich sperre die Differenziale und gebe Gas. Breche unter entsetzten Blicken der Fahrer in der Schlange hinter mir durch die Wegweiser und fahre geradeaus durch die Wiese. Sekunden später bin ich in einer riesigen Staubwolke verschwunden.

14:47

Ich versuche mein Glück erneut und tippe “Humanity” als Ziel in das Navi ein. Es rechnet kurz, bis es mit einem überraschenden Ergebnis aufwartet:
“About 500 Miles straight ahead off-road. Good luck!”