Eine Reise (Teil 4)

Heute Morgen weckten mich die Sonnenstrahlen früher, als ich erwartet hatte. Obwohl ich noch reichlich müde war, beschloss ich aufzustehen und mich auf den Heimweg zu machen. Mit etwas Glück bin ich am Freitag zuhause. Zwar nicht wie geplant am Nachmittag, sondern erst am späten Abend zuhause. Nach einem kurzen Frühstück und der Suche nach einer Tankstelle machte ich mich auf den Weg. Anstatt der vermeintlich schnelleren, aber augenfälligeren Strecke über die Autobahn, fahre ich über Landstraßen. Ich komme an endlosen Feldern von Getreide vorbei, das sich im Wind dieses Junitages wie die Wellen auf einem See hin und her wiegt. Je weiter ich nach Südosten komme, desto mehr weichen die Getreidefelder wunderschönen Mohnwiesen. 

In der Mittagssonne schimmern sie von dunkelorange bis blutrot und erinnern in ihrer ganzen Farbpracht an ein Gemälde von Claude Monet. Endlos lang wirkende Kilometer bietet sich mir dieses Schauspiel dar, bis es durch einen Hügel, der sich sanft auf der rechten Seite zu erstrecken beginnt, unterbrochen wird. Für sich betrachtet ist der Hügel nichts Besonderes. Außergewöhnlich wird er dadurch, dass er übersät mit endlosen Reihen von weißen Kreuzen ist. Erst jetzt bemerke ich, durch welche Gegend ich fahre. Die Route, die ich für meinen Heimweg gewählte, führt mich Mitten durch die Schlachtfelder des ersten Weltkriegs. Der Anblick der vielen Kreuze macht mich betroffen. Die wunderschöne Landschaft war im Sommer vor genau hundert Jahren, der schlechteste Platz auf der ganzen Welt, an den man sein konnte. Die Friedlichkeit und die Idylle von heute, war damals der Schauplatz des apokalyptisch Unvorstellbaren. Wenige Kilometer später wiederholt sich das Ganze, nur ist dieser Friedhof ungleich größer. Weiße Kreuze, soweit das Auge reicht, bis zum Horizont. Ich entscheide, mir diesen Friedhof genauer anzusehen und halte an einem Parkplatz direkt am Eingang. Ein schmaler Weg aus weißen Kieselsteinen führt durch die Reihen der Kreuze, vorbei an den Chevaliers, Lefebvres, Jones, Smiths, Müllers und Bauers zu einem Denkmal. Ein paar Meter entfernt von dem Denkmal für den unbekannten Soldat stehen im Halbkreis ein paar leuchtend weiße Bänke. Ich setze mich auf die äußerste Bank und denke in Ruhe darüber nach, was ich hier sehe. Aber nicht die Frage, wie der Krieg hier wohl abgelaufen sein mag ist es, die mich beschäftigt, sondern die Frage, wie viele unerfüllte Träume, Hoffnung, Sehnsüchte und Wünsche hier liegen. Wie viel Zweifel und Angst. Jeder hier hatte ein persönliches Schicksal. Vielleicht eine Freundin, Verlobte oder Frau, der er Briefe schrieb, in der Hoffnung, sie würde auf ihn warten und deren Briefe,in denen sie ihm ihre Liebe versicherte, er sehnsüchtig erwartete. Briefe, die ein kleines Licht an Freude in seine grausame Welt bringen konnten. Aber die, die niemand hatten, der auf sie wartete? Die Zuhause von niemandem vermisst wurden, oder im schlimmsten Fall noch gar nicht wussten, dass niemand mehr auf sie wartet? Was war mit ihren Hoffnungen und Träumen? Mein Blick schweift über die Reihen der Gräber und ich muss an den unvermeidbaren Briefkasten denken, der Zuhause auf mich wartet. Einer der schönsten Gedanken, die man haben kann, wenn man sich nach einer  Reise auf dem Weg nach Hause befindet, ist der Gedanke an den einen besonderen Menschen, der dort wartet. Aber ich denke in diesem Augenblick an einen Briefkasten. Ob einer dieser armen Teufel hier an einen Briefkasten gedacht hatte? Sicher nicht. Sie dachten an die Maries, Claires, Janes, Emilies, Evas und Birgits. Was aber dachten und fühlten diese? Die vielen Frauen, Verlobten und Freundinnen, die Zuhause auf eine Nachricht ihres Geliebten warteten und nicht wussten, wo er genau war, was er fühlte, was wirklich in ihm vor ging. Vor allem aber das, was er in seinen Briefen verschwieg, oder nur zwischen den Zeilen stand. Wurden sie jemals gefragt, nach dem der Wahnsinn angefangen hatte seinen Sommernachtstraum aufzuführen? Hat sich die Welt seit dem geändert? Ein bisschen, nachdem sie ein paar Jahre später durch noch mehr Leid gehen musste. Und wir? Eher nicht. Noch immer sind wir gleichzeitig Opfer und Täter, ich mache da keine Ausnahme. Sicher, ich schreibe über alles was ich erlebe, das ich fühle, das aber mit der Distanz eines Beobachters und dem vermeintlich allmächtigen Wissen immer richtig zu liegen und irre damit oft genug gewaltig.
Fast zwei Stunden  sind mittlerweile vergangen, seit dem ich auf dieser Bank platz genommen habe. Die weißen Kreuze, die gleichzeitig Erinnerung an die Gefallen und Mahnmal für folgende Generationen sind, haben mich zum Nachdenken gebracht. Jeder Traum, jede Hoffnung, jedes Gefühl dieser Männer hier wurde unter einem dieser weißen Kreuze begraben. Ich stehe auf und gehe langsam, nachdenklich geworden über das was ich sah, zu meinem Auto. Als ich am Dienstag losgefahren bin, habe ich mein Handy ausgeschaltet. Niemand weiß, wo ich bin. Mir ist diese Freiheit wichtig, obwohl ich immer genau wissen will, was die Menschen, die mir etwas bedeuten, machen und wo sie waren. Dieser Widerspruch ist mir nie so deutlich geworden, wie hier auf diesem Friedhof, auf dem zigtausende lagen, von den ihre Generäle immer genau wissen wollten, was sie machten. Wo die Frontlinien verliefen, die aber niemals wussten, wo ihre Generäle waren und was diese dachten und fühlten. Aber ich bin kein General, wollte es nie sein. Mir ist es fremd, Menschen zum Zweck des eigenen Ruhm und Erfolg auf unerfüllbare Ziele zu hetzen. Scheiterten sie, so wurden sie einfach durch neue, unverbrauchte Kräfte ersetzt. Solange bis das Ziel zum Ruhm des Generals erreicht war.
Trotz dieser Überlegungen entscheide ich mein Handy, bis ich zuhause bin ausgeschaltet zu lassen, um diese Stunden mit mir, der Landschaft, der Fahrt und den Gedanken über das Erlebte in Ruhe verbringen zu können. Als ich den Motor starte, erklärt mir die freundliche Dame des Navigationssystems, dass ich um 22:35 zuhause sein werde. Reichlich Zeit, keinen Gedanken mehr an einen Briefkasten zu verschwenden, sondern an die besonderen Menschen zu denken, die mir wichtig sind. Genauso, wie die vielen Soldaten, die hier auf dem Friedhof liegen es im Sommer vor hundert Jahren vermutlich getan hatten.

 

Schreibe einen Kommentar