Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 12 – Schach

Nach einer unruhigen Nacht erwartete mich bereits früh am nächsten Morgen eine Nachricht von Sandra, mit der Bitte um ein Treffen am heutigen Abend. Ich schrieb ihr kurz zurück, Abendessen 19 Uhr bei mir, bevor ich mich mit einer Tasse Kaffee der überarbeiteten Version des Buchs zuwandte. Ich musste unbedingt wissen, was Chris genau geändert hatte. Schon im ersten Kapitel fiel mir auf, dass Chris die Charakterzüge der Figuren sehr viel deutlicher und fein konturierter gezeichnet hatte, ohne sie aber dabei zu eindeutig werden zu lassen oder sie zu überzeichnen. Diese Entwicklung setzte er in den folgenden Kapiteln fort. Einer der Hauptunterschiede zu der ersten Fassung war aber, dass Chris jetzt viele Ereignisse sehr deutlich darstellte. Je weiter ich las, desto klarer wurde mir, was Chris damit gemeint hatte, dass Diplomatie nicht immer sinnvoll sei. Besonders deutlich wurde das bei Geraldines Umgang mit ihrer Gesundheit, den Ereignissen rund um ihren Geburtstag und vor allem bei der Schilderung dieser Gartenparty. Diese Passagen waren mit hohem Tempo in kurzen Sätzen und unmissverständlichen Worten geschrieben. War mir schon bei der ersten Fassung dieser Szenen leicht unwohl, war ich jetzt ernsthaft besorgt, ob diese nicht zu hart geworden waren. Ich war sicher, dass Geraldine alles andere als erfreut über diese ungeschminkte Darstellung dieser Begebenheiten sein wird. Bestimmte Themen durften bei Geraldine, wenn überhaupt, dann nur mit aller größten Vorsicht und an ihren sehr guten Tagen angesprochen werden und dieses Thema war eines davon. Man kann nicht über Rasen gehen, ohne dabei Gras zu zertreten, hatte Chris in diesem Zusammenhang einmal bemerkt. Ein Satz, der mich an einen anderen erinnerte, den mein Vater oft zu mir gesagt hatte.
„Wenn du ein Omelett machen willst mein Sohn, musst du lernen Eier zu zerschlagen.“
Nun war die Schilderung dieser ohne Zweifel für den Verlauf unserer Beziehung wichtigen Geschehnisse zielgerichtet provokant. Aber auch die Figur von der ich sicher war, dass sie mich widerspiegelte, kam nicht ungeschoren davon. Ihre Fehler und Versäumnisse wurden jetzt genauso schonungslos aufgezeigt. Ich legte die Blätter beiseite und fing an darüber nachzudenken, ob ich das so stehen lassen wollte. Einerseits hatte Chris Recht. Diplomatisches um den Kern eines Problems herumschleichen hatte noch nie irgendetwas gelöst. Es gibt heiße Eisen, die niemand anfassen möchte, die aber angefasst werden müssen, soll sich etwas verändern. In seiner neuen Fassung hatte Chris keinen Zweifel daran gelassen, dass dies zwingend war. Vielleicht eine notwendige Klarstellung? Andererseits wurde meine Sorge gewaltig, Geraldine könnte diese Klarstellung gründlich missverstehen und mit einem ihrer berüchtigten Zornausbrüche reagieren, der mit Sicherheit zum endgültigen Bruch zwischen uns führen würde. Ich stand auf und ging ein wenig in meinem Wohnzimmer umher. Hatte Chris nicht gesagt, dass Kritik, wenn sie notwendig war konstruktiv sein sollte und nur in unumgänglichen Ausnahmefällen, wenn es absolut unvermeidbar war, destruktiv sein durfte? War sie hier unvermeidbar? Ich blieb an meiner Terrassentüre stehen, richtete mein Blick in den Himmel und betrachtete die Wolken. Langsam, aber stetig war die Wolkendecke dünner geworden und die Sonne brach immer öfter durch. Gedankenverloren beobachtete ich, wie immer mehr blauer Himmel zum Vorschein kam. Das ideale Wetter um ein bisschen Spazieren zu fahren und dabei in Ruhe nachzudenken. Früher hatte ich so etwas häufiger gemacht, wenn mich etwas beschäftigte. Einfach ziellos durch die Gegend fahren, um in Ruhe nachdenken zu können. Kurzentschlossen schnappte ich mir den Schlüssel der Corvette, mit der ich hier, außer den kurzen Fahrten zu den Werkstätten neulich, noch nicht gefahren war. Vom wummernden Klang ihres 327er Small Block untermalt, der mit seinen 5,3 Litern Hubraum für hierzulande gängige Maßstäbe alles andere als klein war, fuhr ich über die umliegenden Landstraßen. Welche Gründe hatten Chris dazu bewogen, diese Änderungen vorzunehmen? Hatte Geraldine ihm im Herbst etwas erzählt, das er mir gegenüber nicht erwähnt hatte und ihm war diese Information erst jetzt wieder eingefallen? Oder hatte er in letzter Zeit mit Geraldine gesprochen? Ich hatte ihn nie gefragt, ob er seit ihrer Beförderung noch Kontakt zu ihr hatte und von sich aus hatte er nie etwas erwähnt. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr fing eine andere Frage wieder an mich zu beschäftigen. Diese hatte zwar nichts mit Geraldine zu tun, dafür mit dem Thema über gewisse Dinge zu reden. Ich war nach wie vor der Überzeugung, dass Irinas diverse Äußerungen Chris mehr beschäftigen mussten, als er sich selbst gegenüber eingestehen wollte. Wenn es ihm doch so wichtig war, jene Punkte die mich an Geraldine beschäftigten in dem Buch ohne Umschweife derart direkt anzusprechen, warum hatte er dann nicht mit Irina über diese Dinge gesprochen, oder wenigstens in seinem Tagebuch dazu Stellung genommen. Für mich blieb das ein unerklärbarer Widerspruch. Aber wahrscheinlich ging es Chris dabei, wie vielen von uns. Die Probleme anderer stellen sich klarer und verständlicher dar. Lösungen sind einfacher und offensichtlicher. Obgleich mein Eindruck von Chris ein anderer war, schien er doch keine Ausnahme zu sein. Mein Weg führte mich durch ein langgezogenes Tal am Fuße eines Mittelgebirges. Vor etlichen Wochen hatte ich in einem Magazin über Malt Whiskys einen Bericht über dieses Tal gelesen. Zwei der wenigen Brennereien außerhalb Schottlands und Japans, die sich der Herstellung von Single Malt verschrieben hatten, waren hier ansässig. In diesen kleinen Dörfern sollte es nicht schwierig sein, eine der Brennereien zu finden. Ich fuhr einige Straßen ab, bis mir schließlich eine auskunftsfreudige ältere Dame geduldig den Weg erklärte. Zu meinem Leidwesen sprach sie in dem für diese Region typischen breiten Dialekt und ich hatte große Mühe ihrer Erklärung zu folgen. 5 Minuten später erreichte ich den von ihr beschriebenen ehemaligen Bauernhof. Anders als bei den Destillerien in Schottland, deutete von außen nichts auf eine Whisky Destillerie hin. Unter den Augen eines großen braunen Hundes, der Besucher gewöhnt zu sein schien und von mir unbeeindruckt ruhig auf seinem Platz vor den ehemaligen Stallungen liegen blieb, stieg ich aus und schaute mich um. Kurz darauf kam eine Frau aus dem Haupthaus und erkundigte sich, wen oder was ich suchte. Freundlich erklärte sie mir, dass ich hier richtig sei. Dieser Bauernhof war die gesuchte Brennerei. Die freundliche Dame führte mich herum und erklärte mir ausführlich alles, was es über die Brennerei zu wissen gab. Zwei Stunden später machte ich mich mit jeweils zwei Flaschen des hier hergestellten Whiskys im Gepäck auf den Heimweg. Beim Einsteigen in meinen Wagen fiel mein Blick auf die Uhr. Es war 18:20. Mein Ausflug hatte länger gedauert, als ich geplant hatte und nun musste ich mich beeilen, wollte ich Sandra nicht vor meiner Türe warten lassen. Ich war etwa 45 Minuten Fahrzeit von Zuhause entfernt und die Corvette war für die engen Landstraßen hier nicht das richtige Auto um schnell zu fahren. Als ich kurz nach 19 Uhr in meine Straße einbog, parkte Sandras silbergraues Mercedes Coupé bereits vor meinem Haus. Normalerweise machte mir Unpünktlichkeit wenig aus, nicht aber bei Sandra. Bei ihr war es mir unangenehm. Ich drückte auf die Fernbedienung für das elektrische Tor und fuhr langsam meine Einfahrt hoch. Im Rückspiegel sah ich, dass Sandra ausgestiegen war und mir folgte. Ich stellte mein Auto in der Garage ab und lief schnell Richtung Haustüre, vor der inzwischen Sandra stand.
„Entschuldige bitte, dass ich dich warten ließ“, rief ich ihr aus ein paar Metern Entfernung zu. „Kein Problem“, erwiderte Sandra, die nicht ärgerlich über meine Verspätung schien.
Wie gewohnt wollte ich Sandra auch heute mit Handschlag begrüßen, sie aber machte einen Schritt nach vorne und nahm mich in den Arm. Zum ersten Mal umarmte mich Sandra zur Begrüßung. Eine ungewohnte Geste, von der ich mir nicht sicher war, ob sie Vertrautheit oder Anlehnungsbedürfnis signalisierte. Ich bemerkte, dass Sandra sehr müde aussah. Als hätte sie vergangene Nacht kaum geschlafen. Unter ihren leicht erröteten Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Wir gingen in meine Küche und sie nahm an der Bar Platz.
„Ich denke das einfachste und schnellste ist, wir bestellen uns etwas zu Essen. Worauf hättest du Lust?“
Ohne zu zögern antwortete Sandra:
„Ich habe schon lange keine Pizza mehr gegessen. Lass uns Pizza bestellen.“
Ich nahm den Flyer meines bevorzugten Pizza Lieferservice vom Magnetbrett ab und wollte ihn Sandra geben.
„Danke, den brauche ich nicht“, wies sie den Flyer zurück. „Ich möchte eine Pizza mit Salami, Schinken, Peperoni und Oliven, dazu einen kleinen Insalata mista marinati all’olio e all’aceto.“
Ihre Art zu bestellen passte zu Sandra. Während einige Frauen aus einer simplen Pizza Bestellung gerne eine Doktorarbeit machen konnten, wusste Sandra sehr genau, was sie wollte. Ich nahm mein Telefon und gab unsere Bestellung auf. Sandras Pizza und ihr Salat, für mich eine Calzone. Zwanzig Minuten später traf unser Essen ein.
„Was möchtest du trinken?“, fragte ich Sandra, als ich die Teller mit unserem Essen auf der Bar abstellte. Dabei fiel mir auf, dass Sandra ihr Handy direkt vor sich auf die Bar gelegt hatte. Das war sehr ungewöhnlich für sie. Bei ihren früheren Besuchen hatte sie es immer in ihrer Handtasche gelassen. An diesem Abend aber schien sie auf einen Anruf zu warten, den sie unter keinen Umständen verpassen wollte.
„Wenn du hast, einen Orangensaft bitte.“
Mir war schon im Dezember aufgefallen, dass Sandra gerne Orangensaft trinkt. Seitdem hatte ich bei jeder Getränkebestellung eine kleine Kiste der von ihr bevorzugten Marke mitgeordert. Während wir aßen schaute Sandra immer wieder auf ihr Telefon. Der erwartete Anruf musste wirklich überaus wichtig sein. Nachdem wir gegessen und ich die Teller abgeräumt hatte, kam Sandra zum Grund ihres Besuches.
„Glaubst du Chris weiß was er tut und findest du es richtig? Nicht dass du mich falsch verstehst. Ich bin immer der Ansicht gewesen, er sollte jede Behandlung machen die irgendwie erfolgversprechend sein könnte. Mir gefällt aber nicht, dass Chris mich, entschuldige bitte, uns nicht bereits im Dezember oder Januar über diese Möglichkeit informiert hat.“
Sandra machte eine kurze Pause.
„Außerdem habe ich erheblich Zweifel, was seine Gründe anbelangt. Ich bin davon überzeugt, dass es noch einen anderen Grund für seine Entscheidung geben muss. Und dieser Grund kann nur Irina heißen.“
Sandra war, wie ich befürchtet hatte, auf die richtige Spur gekommen.
„Wie kommst du darauf?“ unterbrach ich Sandra. „Irina hat ihn doch verlassen. Weshalb sollte sie dann noch ein Grund sein? Das ist unlogisch.“
Sandra sah mich scharf an. Ein Blick, den ich in dieser Form von ihr noch nicht kannte.
„Weil ich Chris kenne. Sehr gut kenne. Glaub mir, sie hat mehr damit zu tun, als Chris uns gegenüber zugegeben hat und je tun wird. Diese Geschichte ist noch lange nicht beendet. Auch wenn es im Augenblick danach aussieht. Jedenfalls nicht für Chris.“
„Du scheinst dir absolut sicher zu sein?“, wandte ich ein.
„Bin ich“, erwiderte Sandra bestimmend.
Das Sandra mit ihrer Vermutung bezüglich den Beweggründen für Chris Entscheidung Probleme haben musste war mir klar. Die Frage die in ihrem Kopf Kreise zog lautete vermutlich: Warum für sie und nicht für mich? Ich wollte Sandra Mut machen. Entgegen meines Wissens sagte ich:
„Weshalb sich Chris letzten Endes dafür entschieden hat ist doch egal. Die Hauptsache ist, dass er wieder gesund wird und wir noch lange Zeit miteinander verbringen können.“
In der Hoffnung Sandra beruhigen zu können fügte ich noch hinzu:
„Sobald er mit der Behandlung begonnen hat, wird sich ohnehin alles ändern.“
Entgegen meiner Erwartung hellten sich Sandras Gesichtszüge nicht auf. Stattdessen sah sie mich nachdenklich an.
„Natürlich ist die Hauptsache, dass Chris wieder gesund wird. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche. Aber nicht nur die Umstände gefallen mir nicht, sondern auch der Zeitpunkt. Chris ist niemand, der einen Zeitpunkt zufällig wählt, oder sich ihn aufdrängen lässt. Deshalb bin ich überzeugt, dass die Trennung letztlich der Auslöser war. Das Ende der Beziehung und seine Entscheidung für diese Behandlung liegen so eng beieinander, das ist kein Zufall! Ich weiß genau, was sich Chris dabei gedacht hat!“
„Das ist doch Spekulation!“, widersprach ich energisch. „Er wird sich gar nichts ausgedacht haben, sondern sich für diese Lösung entschieden haben, weil es keine andere gibt. Es der einzige logische Weg ist. Aus den Gründen, die er uns genannt hat und keinem anderen. Wie er sagte, eine rein mathematische Überlegung.“
Sandra schüttelte ihren Kopf.
„Du kennst Chris wirklich nicht. Bei ihm hat alles einen Sinn, wenn man ihn auch auf Anhieb nicht gleich versteht. Wie pflegt er zu sagen: Es gibt keine Zufälle. Nur weil die meisten den Sinn nicht sehen oder die Hintergründe nicht kennen, deuten sie Handlungen als Zufall. Wenn diese Methode derart neu ist, warum wartet er dann nicht noch bis zum November? Bis dahin lägen die Ergebnisse des Sommers vor und die Behandlung vor allem aber ihre Erfolgschancen wäre somit bedeutend größer. Nein, es muss jetzt sein!“
Sandra trank einen Schluck Orangensaft und ich steckte mir eine Zigarette an. Ich musste versuchen etwas vom Thema abzulenken.
„Hast du nie geraucht?“
Sandra lachte schallend.
„Oh doch, ziemlich viel sogar. Es gab Zeiten, in denen man mich nicht ohne Zigarette gesehen hat. Aber das hat sich geändert. Falls deine Frage war, ob es mich stört, wenn du rauchst, lautet die Antwort nein. Chris raucht schließlich ebenfalls. Obwohl er es lassen sollte!“
Die Ablenkung war nur von kurzer Dauer.
„Weißt du, was ich mich frage?“, führte Sandra das Thema Chris Entscheidung weiter. „Wenn ich Recht habe, wie stellt er sich vor, dass das mit Irina weitergehen soll? Er kann doch nicht davon ausgehen, dass er bis Februar oder März nächsten Jahres aus Irinas Leben verschwinden und dann einfach wieder zurückkehren kann, als wäre nichts geschehen. Oder glaubst du, dass er jetzt endgültig mit ihr abgeschlossen hat? Das kann ich mir kaum vorstellen.“
Gute und berechtigte Fragen auf die ich keine Antworten hatte. Obwohl mir bewusst war, dass alle Fragen die in Verbindung mit Irina standen für Sandra von größter Wichtigkeit sein mussten, probierte ich das Thema auf einen anderen Aspekt von Chris Entscheidung zu lenken. „Statt uns über diese Frau, die wir nicht mal kennen, die sie sich, vorsichtig ausgedrückt, höchst fragwürdig benommen hat und die uns im Grunde egal sein kann den Kopf zu zerbrechen, sollten wir besser darüber nachdenken, was wir tun können, um Chris in den kommenden Monaten zu unterstützen. Ich meine im Alltag. Einkaufen, Waschen und all solche Sachen, der ganze Haushalt eben. Außerdem muss sich jemand um Mable und seine Katze kümmern. Chris wird unsere Hilfe brauchen. Zunächst aber müssen wir abwarten, ob er für diese Behandlung überhaupt in Frage kommt, bevor wir uns verrückt machen!“
Jetzt lächelte Sandra wieder.
„Du hast Recht. Das wichtigste ist, dass Chris genommen wird. Erst dann können wir die Details besprechen. Wir sollten uns jetzt nicht mit Fragen beschäftigen, die ohnehin nicht mehr von Belang sind. Ich mache mir wie immer viel zu viele Gedanken um diesen Dickkopf.“ Innerlich musste ich über Sandras Versuch Irina zur Belanglosigkeit zu erklären schmunzeln. Irina war für Sandra viel, aber eines mit Sicherheit nicht, Belanglos. Noch bevor ich Sandra fragen konnte, wie sie Irinas E-Mail verstanden hatte, wechselte sie abrupt das Thema. Vielleicht besser so, dachte ich. Es wäre bestimmt der falsche Zeitpunkt gewesen, um mit ihr darüber zu reden.
„Lass uns über etwas Erfreuliches sprechen“, sagte sie, während sie wieder kurz, wie schon häufig den ganzen Abend, auf ihr Telefon blickte. „Wie weit bist du mit deinem Buch? Du sagtest letzten Samstag vielleicht noch zwei oder drei Wochen?“
Sandra schaute mich erwartungsvoll an.
„Ich bin leider nicht viel vorangekommen. Die letzten Kapitel müssen noch überarbeitet werden, dann muss es Korrekturgelesen und gedruckt werden.“
„Weißt du, ich habe am Sonntag bei meiner ersten Runde Golf in diesem Jahr“, Sandra unterbrach ihren Satz. „Ja, ich spiele Golf, sowie Tennis und untermaure damit Vorurteile die Frauen wie mir gemeinhin entgegengebracht werden.“ Dabei grinste sie schelmisch. „Im Ernst, ich habe mich die ganze Runde gefragt, wie ich reagieren würde, wenn jemand für mich ein Buch geschrieben hätte. Ich glaube meine Begeisterung wäre grenzenlos, auch wenn ich es nicht zugeben würde. Frau will es euch Männern schließlich nicht zu einfach machen. Ein wenig Eroberung im Anschluss würde ich schon noch erwarten. Außerdem käme es mir sehr auf die Form an. Diese wäre für mich von grundlegender Bedeutung. Einfach DIN A4 Seiten zusammenheften ist unpersönlich und unangemessen. Es muss ein richtiges Buch sein. Eines zum Anfassen, zum darin Lesen. Um es auf den Nachttisch legen zu können und um eines Tages damit angeben zu können.“
„Was die Form angeht, gebe ich dir voll und ganz Recht“, stimmte ich zu und beschrieb Sandra ausführlich meine Vorstellung, wie das Buch aussehen soll.
„Das freut mich sehr“, entgegnete sie zufrieden. „Nicht nur für dich, sondern ganz besonders für Geraldine. Du bist wirklich ein besonderer Mann. Sie hat großes Glück mit dir. So einen Mann wünsche ich mir auch.“
Sandra atmete tief durch.
„Leider waren die Männer in meinem Leben waren nicht gerade Glücksgriffe und schreiben konnte keiner von ihnen.“
Ein Hauch von Wehmut umgab Sandra jetzt.
„Der eine hat mich mit Geschenken überhäuft und gleichzeitig mit jeder Frau geschlafen, die ihm über den Weg lief. Für einen anderen war ich nicht mehr, als das schmückende Beiwerk seines übergroßen Egos. Der letzte benützte mich als Türöffner für seine Geschäfte und verwechselte meine Familie und mich mit einem Goldesel. Schluss damit! Ich will nicht jammern, mir geht es gut.“
Vorsichtig formuliert eine Schutzbehauptung, wenn man sich den Beginn des Abends ins Gedächtnis rief und offenkundig falsch, was die Fähigkeit des Schreibens der Männer in ihrem Leben anbelangte. Nur davon wird sie vermutlich nie erfahren. Ich überging Sandras Bemerkungen über die bisherigen Männer in ihrem Leben und kam wieder auf das Buch zurück.
„Ich hoffe du hast Recht und Geraldine freut sich wirklich. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich sie vermisse. Ich möchte doch nur mein Leben mit ihr verbringen, sie immer an meiner Seite wissen.“
Kaum hatte ich den Satz zu Ende gesprochen, fragte ich mich, wann ich endlich lernen würde zuerst zu denken und dann zu sprechen. Zu meinem Glück ignorierte Sandra meine missratene Formulierung.
„Du hast mir noch gar nicht erzählt wovon dein Buch handelt. Ich bin neugierig. Willst du mir die Geschichte nicht erzählen?“
Sandra goss sich ein weiteres Glas Orangensaft ein und schaute mich ungeduldig an.
„Ich weiß nicht, ob das so einfach geht“, erwiderte ich. „Es ist eine komplexe Geschichte, bei der man sehr gut aufpassen muss und die viele kleine wichtige Details hat. Zudem muss ich dir erklären, was ich mir dabei gedacht habe, sonst bleibt manches für dich unklar.“
„Dann fang an!“, forderte Sandra mich auf. „Du schaffst das.“
Mit einem schlechten Gefühl im Bauch, weil es nicht meine Ideen waren, berichtete ich ihr ausführlich über den Inhalt des Buchs.
„Eine ausgezeichnete Geschichte mit tollen Ideen“, sagte Sandra berührt, als ich fertig war. „Ich finde es großartig, dass du alles ansprichst, auch negatives. Die meisten, zu denen zähle ich leider auch, würden sich nicht trauen, solche Themen direkt und offen anzusprechen. Das ist sehr mutig von dir, aber auch sehr ehrlich.“
Sandra strich eine Haarsträhne hinter ihr linkes Ohr. Ausnahmsweise trug sie heute ihre Haare offen und nicht wie sonst zusammengebunden. So hatte ich sie zuletzt vor einem Jahr im Supermarkt gesehen. Mit offenen Haaren gefiel mir Sandra noch besser. Sie wirkte so auf eine bezaubernde Art mädchenhaft.
„Wenn ich dir einen Rat geben darf“, fuhr Sandra fort. „Erwarte nicht zu schnell zu viel. Erwarte zuerst gar nichts. Es wird seine Zeit dauern, bis deine Geraldine begriffen hat, wie außergewöhnlich das ist, was du getan hast und sie alles verarbeitet hat. So etwas geht nicht von heute auf morgen. Das kann Monate dauern. Aber irgendwann wird sie es erkennen. Davon bin ich überzeugt.“
Diese Sätze hatte ich schon einmal gehört. Chris sagte mir als wir uns letzten Oktober am toten Baum getroffen hatten genau dasselbe. Es musste etwas Wahres daran sein, wenn sowohl Chris, als auch Sandra dieser Ansicht waren. Sandras Blick richtete sich auf meine Küchenuhr. Es war weit nach Mitternacht. Durch unsere angeregte Unterhaltung, die Sandra und mich wohltuend von Chris und den kommenden Monaten abgelenkt hatte, hatten wir vollständig das Gefühl für Zeit verloren.
„Ich sollte jetzt dringend nach Hause gehen“, sagte Sandra. „Ich muss morgen arbeiten.“
Sie nahm ihr Telefon, das den ganzen Abend stumm geblieben war und stand auf. Während ich sie zur Türe brachte, kehrte unerwartet ihr gewohntes Lächeln wieder in ihr Gesicht zurück. „Weißt du, was meine Mutter immer zu mir gesagt hat als ich noch ein kleines Mädchen war? Wenn du fest an etwas glaubst, wird am Ende alles gut. Ich glaube fest daran, dass am Ende alles gut wird. Es muss so sein!“
Sandra umarmte mich herzlich zum Abschied und ging die Treppe hinunter. Ich blieb in der Türe stehen und sah ihr nach, bis sich das Tor hinter ihr schloss.

   Ich war gerade auf dem Weg unter die Dusche, als mein Telefon klingelte. Um diese Zeit, es war kurz nach 9 Uhr, erwartete ich normalerweise keine Anrufe. Als ich im Flur ankam hatte der Anrufer bereits aufgelegt. Ich sah in der Anrufliste nach, wer mich früh am Morgen angerufen hatte. Es war Chris. Eine sehr untypische Zeit für ihn. In Anbetracht dessen, was letztes Wochenende geschehen war, war ich beunruhigt und rief Chris sofort zurück.
„Guten Morgen du Schlafmütze“, begrüßte mich Chris fröhlich. „Habe ich dich aus dem Bett geholt?“
„Nein, hast du nicht“, erwiderte ich. „Ich habe schon Kaffee getrunken und war auf dem Weg unter die Dusche. Was wolltest du denn?“
„Dich heute Abend zum Essen einladen“, antwortete Chris. „Ich habe Spargel gekauft und würde mich freuen, wenn du heute Abend zu mir kommen würdest. Ich hoffe du magst Spargel?“
Chris Einladung überraschte und freute mich.
„Natürlich mag ich Spargel. Ich bin nur meistens zu faul ihn zu schälen. Wann soll ich bei dir sein?“
„Um 19:30, antwortete Chris.
„In Ordnung, ich freue mich. Was machst du heute?“, wollte ich von Chris wissen.
„Ich bin auf dem Weg in die Firma, muss ein paar Sachen erledigen. Ist alles dringend, wie immer. Du kennst das ja.“
Ich wusste sehr gut, was Chris meinte.
„Ja, das kenne ich nur zu gut. In dem Laden ist immer alles dringend. Dann will ich dich nicht aufhalten. Bis heute Abend.“
Chris erstaunlich gute Laune passte überhaupt nicht zu der momentanen Situation. Sie war genauso ungewöhnlich wie seine Einladung.

   Kurz vor 19:30 machte ich mich zu Fuß auf den Weg zu Chris. Das ging nicht nur schneller und ersparte mir die Parkplatzsuche, ich konnte so auch etwas trinken. Als kleine Überraschung hatte ich eine der Whisky Flaschen mitgenommen, die ich gestern gekauft hatte. Ich war mir sicher, dass Chris diesen nicht kannte und er sich bestimmt darüber freuen wird. Bei Chris zu klingeln war eine neue Erfahrung für mich. Ohne über die Gegensprechanlage nachzufragen wer vor der Türe stand, ertönte der Summer des Türöffners. Ich lief die Treppe hinauf und wurde auf dem zweiten Absatz von einer sich unbändig freuenden Mable begrüßt. Es dauerte einen Moment, bis sich Mable wieder beruhigt hatte und wir gemeinsam in Chris Wohnung gingen.
„Schön dich zu sehen“, begrüßte er mich. „Ich freue mich, dass du hier bist und das auch noch ohne einzubrechen. Muss ein ganz neues Gefühl für dich sein“, fügte Chris süffisant hinzu. „Deshalb kann ich diesmal auch etwas zurücklassen“, erwiderte ich grinsend.
Chris sah mich fragend an. Ich holte die Flasche aus der Tüte und gab sie Chris.
„Ich bin überzeugt, diesen hier kennst du nicht. Ich habe ihn gestern direkt beim Hersteller gekauft.“
Chris strahlte.
„Nein, den kenne ich nicht. Ich hatte nur davon gehört. Vielen Dank! Lass ihn uns nach dem Essen probieren. Ich muss nur noch rasch den Spargel fertigmachen. Wenn du möchtest, kannst du schon im Esszimmer Platz nehmen. Falls Mable dich in Ruhe lässt.“
Chris ging zurück in seine Küche, während ich, gefolgt von Mable, in sein Esszimmer ging. Ohne die Teppichrolle wirkte es größer und alle vier Stühle standen jetzt an ihrem Platz. Als ich mich setzte bemerkte ich, dass die Stühle neu bezogen worden waren. Sie sahen jetzt sehr gut aus.
„Gibt es Spargel mit Sauce Hollandaise, Schinken und Kartoffeln?“, rief ich Chris in der Küche zu.
„Nein, lass dich überraschen“, raunte Chris zurück.
Einen Augenblick später kam Chris mit zwei Tellern in das Esszimmer. Er hatte Spargel in lauwarmer Vinaigrette zubereitet. Als Beilage gab es Gewürzpfannenkuchen. Auf diese Art hatte ich Spargel schon lange nicht mehr gegessen.
„Guten Appetit, ich hoffe dir schmeckt es.“
„Vielen Dank, erwiderte ich.
Der Spargel war hervorragend, ebenso die Pfannkuchen. Ich war von Chris Kochkünsten, die ich ihm in dieser Form nicht zugetraut hatte, angenehm überrascht.
„Spargel gehört zu meinen absoluten Lieblingsessen“, ließ ich Chris zwischen zwei Bissen wissen. „Zu deinen auch?“
„Ich mag Spargel sehr“, beantwortete Chris meine Frage. „Aber mein Lieblingsessen ist Schweizer Wurstsalat mit frischem Weißbrot. Das könnte ich jede Woche einmal essen.“
Wir hatten fast aufgegessen, als Chris zum Grund seiner Einladung kam.
„Du fragst dich sicher nach dem Grund für diese Einladung, oder?“
„Ich nehme an, du wolltest mir dein renoviertes Arbeitszimmer zeigen?“, scherzte ich. „Bevor du fragst, Sandra hat mir davon erzählt.“
„Nein, das eher nicht“, erwiderte Chris mit ernster Miene. „Ich wollte dich um einen Gefallen bitten. Einen großen Gefallen.“
Ich war gespannt, was Chris von mir wollen könnte.
„Mable mag dich wirklich gerne und sie fühlt sich wohl bei dir. Das ist mir in den letzten Monaten aufgefallen. Daher wollte ich dich fragen, ob du dich bitte um sie kümmern würdest, wenn ich ab 14. April vier Tage im Krankenhaus sein werde. Du würdest mir eine große Last nehmen und Mable freut sich bestimmt.“
Chris Ansinnen überraschte mich und ich wusste zunächst nicht, was ich darauf erwidern sollte. „Hattest du sie früher nicht immer zu deinen Nachbarn gebracht?“
„Ja hatte ich. Aber leider sind sie im Dezember weggezogen. Jetzt habe ich nicht allzu viele Möglichkeiten. Ich könnte sie noch zu Martin bringen oder in ein Hundehotel geben. Aber ich bin sicher, Mable wird sich bei dir am Wohlsten fühlen.“
Obwohl mir klar war, dass damit eine große Verantwortung verbunden sein würde, fühlte ich mich geschmeichelt, dass Chris Mable mir anvertrauen wollte.
„Das musst du nicht. Ich nehme sie gerne. Allerdings musst du mir erklären, was ich zu tun habe. Ich hatte noch nie ein Haustier.“
Chris wirkte sichtlich erleichtert.
„Vielen Dank, du tust mir damit einen riesengroßen Gefallen.“
„Was muss ich beachten?“, wollte ich von Chris wissen.
„Nicht viel“, antwortete Chris. „Mable bekommt morgens und abends Futter nach ihrem Spaziergang. Gelegentlich muss sie abends noch raus, wenn sie viel getrunken hat. Sie zeigt dir, wenn sie raus muss. Sie hebt dann die rechte Pfote. Verwechsle das nicht damit, wenn sie die linke Pfote hebt. Dann will sie Beachtung. Es genügt, wenn du sie da nur kurz in den Garten lässt.“
„Nur zweimal am Tag?“ Ich war erstaunt.
„Ich habe sie so trainiert. Mir ist es oft zu anstrengend spät nochmals mit ihr rauszugehen. Ich schaffe das oft nicht. Deshalb bin ich froh, dass Mable, dass nur ganz selten abends raus muss.“
„Klingt einfach“, erwiderte ich. „Das sollte ich hinbekommen.“
„Einen kleinen Haken gibt es“, fügte Chris einschränkend hinzu.
„Und der wäre?“
„Mable ist ein ausgesprochener Frühaufsteher. Sie steht gewöhnlich gegen 6:30 auf. Nicht gerade deine Zeit, soweit ich weiß.“
„Die paar Tage werde ich das überleben“, beruhigte ich Chris. „Gibt es sonst noch etwas, dass ich beachten sollte.“
„Nein, eigentlich nicht. Wenn du nur mit ihr in den Park gehst reicht es, wenn du die Leine mitnimmst. Ansonsten sollte sie an der Leine gehen. Sie jagt furchtbar gerne Katzen nach.“ „Aber du hast doch auch eine Katze? Apropos, wo ist sie eigentlich? Ich habe sie noch gar nicht gesehen.“
Chris lächelte.
„Abby liegt im Wohnzimmer in ihrem Korb und schläft. Sie ist fast 20 und schläft mittlerweile sehr viel. Aber sonst ist sie für ihr Alter noch ausgesprochen fit.“
Als wir mit Essen fertig waren, sagte Chris:
„Bevor wir ins Wohnzimmer gehen, will ich dir noch kurz mein Arbeitszimmer zeigen. Du willst bestimmt wissen, wie es jetzt aussieht?“
„Natürlich will ich das. Sandra hat gesagt, dass das Zimmer schön geworden ist.“
Ich folgte Chris in sein Arbeitszimmer. Sandra hatte Recht gehabt, es war wirklich schön geworden. Besonders der entfernte Regalschrank ließ das Zimmer größer und luftiger wirken. Beim Verlassen des Zimmers fiel mir ein Wand-Tattoo an der Stirnseite des Raumes auf. Es handelte sich, soweit ich wusste, ein Zitat von John Lennon. Chris hatte bemerkt, dass mir die Schrift aufgefallen war.
„Das hat schon für interessante Reaktionen gesorgt“, bedeutete Chris.
Ich sah ihn erwartungsvoll an.
„Sandra hatte mich gefragt, warum ich ausgerechnet dieses ausgewählt hatte, als sie es zum ersten Mal sah. Dann hat sie mich ganz eigenartig angelächelt. Ich glaube, sie wusste sehr genau warumich dieses Zitat gewählt hatte. Noch interessanter war Irinas Reaktion, als sie es zum ersten Mal sah.“
„Wie hat sie denn reagiert?“, erkundigte ich mich.
„Kennst du das, wenn zwei Menschen unabhängig voneinander dasselbe denken? Als Irina am ersten Abend im Januar an dem sie hier war das Wand Tattoo bemerkte, sagte sie zu mir, dass sie in den Wochen zuvor öfter an dieses Zitat gedacht hatte. Da ich es erst zwei Tage vor Weihnachten angebracht hatte, fand ich das sehr ungewöhnlich. Wir dachten beide dasselbe.“ „Und das hat dich überrascht?“
„Wenn ich ehrlich bin nicht“, entgegnete Chris. „Ich kann dir zwar nicht sagen warum, aber ich war nicht überrascht.“
Wir verließen das Arbeitszimmer und gingen in sein Wohnzimmer. Zuerst begutachtete ich Chris Whisky Sammlung, die merklich zugenommen hatte. Sie hatte sich mehr als verdoppelt. Besonders stach mir dabei eine Flasche Bowmore Mariner 15 Years mit dem sogenannten Clear Label ins Auge. Eine mittlerweile seltene und bei Sammlern gesuchte Flasche.
„Woher hast du denn den Bowmore? So einen suche ich schon seit 4 Jahren.“
„Den habe ich von Sandra zum Geburtstag bekommen. Sie weiß immer sehr genau, worüber ich mich freue“, antwortete Chris zufrieden, während wir auf dem Sofa platznahmen.
„Wieso hast du eigentlich zwei Fernseher, so nahe beieinander? Einen im Esszimmer und einen im Wohnzimmer. Ich verstehe den Sinn nicht.“
„Das zeige ich dir gerne“, befriedigte Chris meine Neugier. „Beide arbeiten als Monitor für ein Computersystem. Je nachdem wo ich mich aufhalte benutze ich den einen oder den anderen. In meinem Schlafzimmer ist noch einer. Aber das weißt du ja.“
Chris spielte schon wieder auf meine Besuche im Frühjahr des letzten Jahres an. Er nahm eine Fernbedienung und startete ein Gerät, das sich erst auf den zweiten Blick als Computer zu erkennen gab. Kurz darauf erschien auf dem Fernseher, den der Computer als Monitor benutzte, ein optisch ansprechendes Auswahlmenü.
„Das ist mein Mediacenter“, verkündete Chris stolz. „Damit kann ich Fernsehen, Musik hören, Filme und Serien schauen. Soll ich dir zeigen, wie es funktioniert?“
Ich war hoch interessiert.
„Auf jeden Fall!“, beantwortete ich seine Frage.
Zuerst zeigte mir Chris die Fernsehfunktion, die mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet war.
„Damit kann ich Serien und Filme aufnehmen und es erkennt von alleine, welche Aufnahmen schon vorhanden sind. So gibt es keine doppelten Aufnahmen. Natürlich kann es auch Timeshift. Ich kann das Fernsehen bis zu 2 Stunden anhalten.“
Und was machst du mit den ganzen Aufnahmen?“, unterbrach ich Chris Erklärung.
„Zuerst befreie ich sie von der Werbung. Dann lege ich sie auf meinem Server ab.“
Chris wechselte vom Fernsehmenü in das Filmmenü.
„Hier siehst du alle Filme, die ich habe. Mit Kinoplakat, wer mitgespielt hat und einem kurzen Abriss der Handlung. Man kann nach Genre oder Jahr sortieren und natürlich nach Schauspieler. Aber das ist noch lange nicht alles.“
Chris drückte eine Taste der Fernbedienung und wechselte in das Serienmenü.
„Das sind alle Serien, die ich habe. Untergliedert nach Staffeln und Episoden.“
Chris war sichtlich stolz auf seine mit 154 Serien äußerst umfangreiche Sammlung. Er hatte nicht nur aktuelle Serien, sondern auch Klassiker wie M.A.S.H. und Magnum und einige, wie Sex and the City die nicht so recht in einen Männerhaushalt passten. Ich wollte von Chris wissen, warum er diese Serie hatte.
„Die wollte eine Exfreundin von mir unbedingt haben. Natürlich habe ich sie ihr aufgenommen und ganz ehrlich, so schlecht ist sie gar nicht. Manchmal erklärt sie ganz gut wie Frauen ticken“, sagte er augenzwinkernd. „Du weißt doch, Aufklärung ist alles.“
Ich musste kurz lachen. Das hatten sich die Drehbuchautoren so sicher nicht gedacht.
„Wann willst du denn das alles anschauen“, fragte ich ungläubig.
„Ich sehe mir jeden Abend zwei Folgen einer Serie an. Demzufolge bin ich in etwa 8 Jahren fertig. Zurzeit schaue ich Blue Bloods. Eine tolle Serie, solltest du unbedingt gesehen haben. Sie handelt von einer Polizistenfamilie in New York. Mit Tom Selleck und Donny Wahlberg in den Hauptrollen.“
Eigenartig dachte ich. Chris sprach über die Zeit, die er benötigte um alle Serien anzuschauen mit der Selbstverständlichkeit eines kerngesunden Menschen. Mir drängte sich die Frage auf, ob Chris nicht nur Sandra, Irina und mir in den letzten Monaten etwas vorgespielt hatte, sondern auch sich selbst. Oder verweigerte er sich nur den Blick auf die Tatsachen um Ruhe finden zu können?
„Jetzt zeige ich dir noch die anderen Module.“
Chris wechselte zum Musikmodul.
„Ich habe alle meine CDs auf Festplatte und hier kann ich auswählen, was ich hören möchte. Sortiert nach Interpret und Alben. Natürlich kann es auch die Songtexte anzeigen.“
Natürlich kann es das, dachte ich. Dieses Wundergerät konnte scheinbar alles.
„Dann gibt es noch ein Modul für Musikvideos,“ fuhr Chris fort. „Wenn du so willst habe ich mein eigenes MTV. Ich bin eben ein Kind der 80er und 90er.“
„Wie viele Videos hast du?“
„Etwa 2500. Die meisten aufgenommen und ein paar gekaufte.“
Dann demonstrierte mir Chris noch ein paar weitere Funktionen, wie die Wettervorhersage und den Newsreader. Ganz zum Schluss zeigte er mir das Fotomodul, dessen Struktur mir nur zu gut bekannt war. Die Fotos waren in der Hauptsache nach Jahren sortiert. Nur Irina, Eleonore, Sabrina und Maria hatten ihre eigenen Ordner.
„Warum hast du nur die vier in getrennten Ordnern? Das waren doch nicht alle deine Freundinnen, oder?“
„Nein“, antwortete Chris ruhig. „Es gab noch zwei, drei andere.“
„Und von denen hast du keine Fotos?“, hakte ich wissbegierig nach.
„Die waren vor der Erfindung der Digitalkamera“, entgegnete Chris.
Mit dieser Antwort wollte ich mich nicht zufriedengeben.
„Du hast mir erzählt, du hättest Sandra am Geburtstag deiner damaligen Freundin kennengelernt. Da es Irina nicht sein kann, muss es eine von den anderen drei sein, stimmt’s?“ „Wie kommst du darauf?“
Chris sah mich fragend an.
„Ganz einfach. Es stehen nur drei Namen zur Auswahl. Irina scheitet aus und so wie du dich neulich geäußert hast, muss es Eleonore sein.“, erläuterte ich entgegen meinem Wissen.
Chris schüttelte lachend seinen Kopf.
„Nur gut, dass du keine Krimis schreibst. Deine Kombinationsgabe ist miserabel. Sabrina, Eleonore und Maria, in dieser Reihenfolge, waren in den 90ern.“
„Wir haben jetzt 2014“, wandte ich ein.
„Da fehlen ein paar Jahre. Sag nicht, dass du in dieser Zeit Single warst?“
Chris atmete tief durch.
„Nein war ich nicht.“
„Und wo sind die Fotos von diesen Frauen? In den anderen Ordnern?“
„Nein. Es gibt keine Fotos von ihnen. Besser gesagt nicht mehr. Ich habe sie gelöscht.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu:
„Ich habe auch alles andere von ihnen entsorgt. Geschenke, E-Mails und so weiter. Einfach alles. Ich will an diese Frauen nicht mehr erinnert werden!“
Sein Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass es besser war nicht nach den Gründen dafür zu fragen. Gleichzeitig hatte er, ohne es zu wissen, eine alte Vermutung von mir bestätigt. Chris hatte mit diesem Vorgehen Teile seiner Vergangenheit für sich korrigiert an die er sich nicht mehr erinnern wollte. Viele Gründe, die ein solches Verhalten auslösen konnten gab es nicht und Sandra hatte mir neulich zumindest für einen Fall die Bestätigung dafür geliefert. Legte man dieses Muster zugrunde, könnte es durchaus möglich sein, dass der Ordner Irina ebenfalls bald verschwinden könnte.
„Darf ich die Fotos der vier sehen?“, versuchte ich abzulenken. „Natürlich nur, wenn sie nicht zu Privat sind.“
Chris schmunzelte.
„Solche Fotos habe ich nicht. Die, die ich habe, kannst du gerne anschauen. Sie sind alle jugendfrei.“
Er nahm die Fernbedienung, navigierte auf den Ordner mit der Bezeichnung Eleonore und öffnete ein Foto. Ich betrachtete die junge Frau und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich das Foto bereits kannte.
„Ausnehmend hübsch“, stellte ich anerkennend fest.
„Und ausnehmend schwierig. Wie ein GT 500 eben ist.“, fügte Chris grinsend hinzu.
Er schloss das Foto, öffnete Sabrinas Ordner und klickte auf ein Foto.
„Ich weiß, was du gleich sagen wirst“, wandte sich Chris mir zu.
„Was will ich denn sagen?“
„Dass sie Sandra verdammt ähnlichsieht, richtig?“
„Stimmt“, antwortete ich und nickte zur Bestätigung leicht mit dem Kopf. „Die beiden könnten wirklich Schwestern sein.“
Chris wusste genau, was mir vor Wochen, als ich mir diese Fotos auf meinem PC angeschaut hatte, bereits aufgefallen war.
„Sandra ist größer und ihr Gesicht ist schmaler, führte Chris die Unterschiede zwischen den beiden aus. „Auf den Fotos sieht man das nicht richtig. Sabrina ist eine phantastische Frau. Du müsstest sie heute einmal sehen. Du wärst begeistert.“
Dann öffnete er ein Foto von Maria.
„Sie ist ein ganz anderer Typ Frau“, sagte Chris und schaute mich dabei an. „Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, wenn du so willst. Aber sie sieht nicht nur toll aus, sie ist auch ein wahnsinnig lieber und warmherziger Mensch. Ich mag sie bis heute sehr, sehr gerne.“
Er schloss das Foto mit der Fernbedienung und öffnete den Ordner Irina, in dem sich eine Unmenge Fotos befand.
„Wie kommt es, dass du so viele Fotos von ihr hast“, fragte ich heuchelnd wissend um die tatsächliche Anzahl.
„Ganz zu Anfang unserer Beziehung, ich glaube es war an unserem ersten gemeinsamen Wochenende, brachte sie eine CD und zwei USB-Sticks mit Fotos mit zu mir. Wir haben uns den ganzen Abend diese Fotos angeschaut und sie hat mir erzählt, wo sie aufgenommen worden waren. Als sie am nächsten Morgen wieder ging hat sie die CD und die Sticks hiergelassen.“ „Und sie hat nie wieder danach gefragt“, wollte ich interessiert wissen.
„Nein, hat sie nicht“, erwiderte Chris gleichmütig. „Hat mich auch gewundert. Mir kam es so vor, als wollte sie unbedingt, dass ich diese Bilder von ihr habe. Irgendwann habe ich sie auf den Server kopiert und da liegen sie nun.“
Chris machte ein nachdenkliches Gesicht und öffnete ein Foto von Irina. Es war ein wunderschönes Foto einer attraktiven Frau. Ich sah zu Chris hinüber, bevor ich dieses Foto kommentieren wollte. Er wirkte abwesend, fast verträumt.
„Sie sieht gut aus“, sagte ich nach einem Moment.
Chris lächelte.
„Ja, das tut sie. Und nicht nur das“, fügte er leise hinzu.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, beendete er das Foto-Menü.
„Hat Irina auch Fotos von dir bekommen?“
„Nein, hat sie nicht“, antwortete Chris bestimmt. „Von mir gibt es kaum Fotos.“
„Du willst damit sagen, Irina hat kein einziges Foto von dir?“
Chris zögerte kurz.
„Soweit ich weiß nicht. Ganz sicher bin ich mir aber nicht.“
„Gibt es wenigstens ein Foto auf denen ihr gemeinsam zu sehen seid?“
Chris überlegte kurz.
„Nein, mit Sicherheit nicht. Wieso willst du das wissen?“
„Reine Neugier, ohne besonderen Grund“, antwortete ich.
Obwohl ich es auch nicht besonders schätzte fotografiert zu werden, hatte Geraldine doch einige Fotos von mir und es gab viele, auf denen wir gemeinsam zu sehen waren. Ich fand es nicht nur äußerst ungewöhnlich, dass Irina kein Foto von Chris haben sollte, sondern auch, dass aus den vergangenen 3 Jahren kein einziges Foto existieren sollte, auf dem beide gemeinsam waren.
„Gibt es eigentlich Bilder von Sandra und dir
„Ja. Sandra fotografiert sehr gerne. Überall wo wir waren hat sie Fotos von uns gemacht. Sie muss eine Unmenge Fotos haben.“
„Und du hast kein einziges hier? Streng genommen eine überflüssige Frage, da ich mir seine Antwort denken konnte.
Chris überging meine Frage komplett, startete das Modul für Musikvideos und erklärte mir nebenbei, wie das System arbeitete.
Das Programm spielt jetzt zufällig Videos ab. Ohne lästige Werbeunterbrechungen. Wenn uns eines nicht gefällt, kann ich einfach auf weiter drücken und es sucht sich das nächste. Ich hoffe, du magst Musikvideos?“
„Tue ich“, erwiderte ich, in der Vorfreude einige alte, beinahe vergessene Videos wiederzusehen. In der Zwischenzeit war Mable von ihrer Decke aufgestanden und hatte sich zwischen Chris Beine und den Wohnzimmertisch gequetscht, während seine Katze nach wie vor in ihrem Korb schlief. Wir schauten uns einige Videos an und unterhielten uns über sie. Als das System begann „Bed of Roses“ von „Bon Jovi“ abzuspielen, wollte Chris zur Fernbedienung greifen.
„Wieso willst du das nicht laufen lassen? Ist doch ein schönes Lied und ein gutes Video ist es auch.“
„Ich kann es nicht mehr hören“, sagte Chris leise. „Es erinnert mich an Eleonore. Sie und das Lied sind in meinem Kopf untrennbar miteinander verbunden.“
„Ja, so etwas kenne ich“, entgegnete ich. „Es gibt einige Lieder, bei denen geht es mir genauso.“
„Zum Beispiel, wollte Chris wissen. „Song instead of a kiss“ ist eines. Kennst du es?“
„Natürlich kenne ich es“, erwiderte Chris beinahe empört.
„Oder „November Rain“. Das ist auch so eines,“ fuhr ich fort.
„Erinnert mich auch immer an Geraldine.“
Chris musste lachen.
„Bei mir ist es mit Sabrina verbunden. Ich glaube es gibt kaum jemand, bei dem dieses Lied nicht mit einer Erinnerung verbunden ist. Wir haben bei diesem Lied in einer regnerischen und kalten Novembernacht… . Lassen wir das besser. Gehört nicht hier her.“
„Gibt es auch eines, das mit Irina verbunden ist, außer diesem einen von letztem Frühling?“ „Natürlich, einige sogar,“ erklärte Chris. „Einige von Huey Lewis und Bruce Hornsby. „Layla“ von Eric Clapton, die Originalfassung natürlich, vor allem aber „Shadows of Love“ von WAX.
„Wie kam es zu Layla? Das ist doch aus den 70ern.“
Chris nickte zustimmend.
„Es war auf der Musikkassette, die ich zu der Zeit im Auto hatte. Ich hörte dieses Lied immer, wenn ich zu ihr fuhr. Seitdem sind Layla und Irina in meinem Kopf eins.“
„Das andere, „Shadows of Love“ sagt mir nichts, genauso wie der Name der Band. Worum ist das Lied für dich mit Irina verbunden?“
„WAX ist ein Ableger von 10CC. 10CC kennst du doch, oder?“
„Natürlich kenne ich 10CC!“
Chris fuhr mit seiner Erklärung fort.
„An dem Abend, an dem wir das erste Mal…“
Chris verstummte.
„Du weißt was ich meine. Ich hatte die Kassette aus meine Auto mit zu ihr gebracht und dieses lief genau in diesem Moment.“
Ich betrachtete Chris genau. Die Erinnerung an diesen Abend schien in diesem Augenblick sehr präsent in ihm zu sein.
„Weiß Irina davon?“
Chris schmunzelte.
„Nein, weiß sie nicht. An solche Dinge erinnert sie sich nicht. Warum sollte sie auch?“
„Das sind alles Lieder aus eurer ersten Beziehung. Gibt es nicht noch welche aus den letzten Jahren?
Wieder einmal war meine Neugier mit mir durchgegangen, doch Chris beantwortete meine Frage ohne zu zögern.
„Natürlich, was denkst du denn? Viele und am Ende doch nur ein einziges. Das, von dem du vorher gesprochen hast. Dieses Lied ist für mich Irina und wird es neben den beiden anderen immer sein.“
Bei diesen Worten wirkte Chris eigentümlich abwesend.
„Wie wäre es, wenn wir jetzt den Whisky probieren?“, schlug Chris vor und beendete damit dieses Thema.
„Gerne, darauf freue ich mich schon den ganzen Abend.“
„Ich hole uns Gläser, falls ich hier rauskomme“, sagte er und amüsierte sich dabei sichtlich über Mable. Chris versuchte aufzustehen, ohne dabei Mable zu berühren.
Neugierig von Mable beobachtet, ging er in sein Esszimmer, holte zwei Gläser aus dem Sideboard, dann weiter in den Flur, nahm die Flasche, die er auf der Kommode abgestellt hatte und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er öffnete die Flasche und goss den Whisky in unsere Gläser. Wir rochen beide ausgiebig über dem Glas, bevor wir den ersten Schluck tranken.
„Dieser Whisky ist wirklich hervorragend.“
Chris war ebenso begeistert wie ich.
„Wirklich gut“, schwärmte er. „Ich wusste gar nicht, dass in unserer Nähe so wunderbarer Whisky hergestellt wird. Vielen Dank nochmal für die Flasche.“
„Nichts zu danken“, erwiderte ich. „Habe ich gerne gemacht.“

   Wir sahen uns weiter Videos an und amüsierten uns köstlich über die Frisuren und Kleider der 80er. Es war wie eine Reise in unsere Jugend. Nebenbei ließ ich meinen Blick durch Chris Wohnzimmer schweifen. Viel hatte sich nicht verändert seit meinem letzten Besuch. Seine Pflanzen, vor allem die Orchideen, waren deutlich gewachsen. Während ich anfing die Pflanzen zu zählen, fiel mir ein Schachbrett in einem der Regale auf. Es war aus Glas, genau wie die Figuren. Die Anordnung der Figuren ließ auf eine unbeendete Partie schließen. Wie ich richtig vermutet hatte, spielte Chris also Schach.
„Mit wem spielst du Schach?“
„Ich habe mit meinem Nachbarn gespielt. Das ist der Stand der letzten Partie“, antwortete Chris ohne seine Aufmerksamkeit vom Fernseher abzuwenden und fügte beiläufig hinzu: „Er ist in vier Zügen matt.“
„Darf ich mir das genauer ansehen?“
„Nur zu“, sagte Chris. „Du kannst es herholen.“
Ich stand auf, ging zu dem Regal, nahm das Schachspiel heraus und stellte es auf dem Wohnzimmertisch vor mir ab. Nachdem ich mir die Aufstellung der Figuren genau angesehen hatte, ging ich im Kopf die taktischen Möglichkeiten durch.
„Schwarz könnte den Läufer auf C5 ziehen, dann wäre er in einer guten offensiven Position“, analysierte ich laut.
Chris lächelte überlegen.
„Wenn er diesen Zug wählt ist seine Dame schutzlos und fällt dem Springer zum Opfer. Danach muss er den Läufer zurückziehen um seinen König zu schützen. Macht er das schlägt der weiße Läufer den letzten schwarzen Turm und sein König steht im Schach. Er muss ihn zurückziehen, verliert damit seinen Läufer und der schwarze König ist schutzlos. Es nutzt schwarz auch nichts, statt mit dem Läufer fortzufahren, den Turm zu bewegen. Es ändert nur den Ablauf, nicht das Ergebnis.“
Während Chris sich wieder dem Fernseher zuwandte, spielte ich alle denkbaren Varianten durch. Egal, welchen Zug schwarz als nächstes machte, das Ergebnis änderte sich nicht. Chris, der aus dem Augenwinkel meine Züge beobachtet haben musste, sagte plötzlich:
„Wenn du auch spielst, sollten wir mal eine Partie spielen.“
Erfreut nahm ich seine Einladung an.
„Das sollten wie unbedingt. Ich suche schon länger einen geeigneten Partner.“
„Das kenne ich“, erwiderte Chris zustimmend. „Gute Schachspieler sind schwer zu finden.“
Ich hatte also mit meiner Vermutung richtiggelegen. Chris spielte Schach. Zufrieden, dass ich mit dieser Einschätzung Recht hatte, lehnte ich mich zurück. Ich hatte das Gefühl, jetzt war ein guter Zeitpunkt gekommen Chris ein paar Fragen zu stellen, deren Antworten auch aus den Einträge in seinem Tagebuch nicht hervorgingen.
„Ich wollte dich gestern nicht danach fragen. Hauptsächlich wegen Sandra.“
Ich beobachtete Chris Reaktion, bevor ich weitersprach. Er blieb ganz ruhig, fast so, als hätte er diese Frage erwartet.
„Als du uns vorgestern von der Behandlung erzählt hast, war die Begründung für deine Entscheidung nachvollziehbar und logisch. Allerdings habe ich das Gefühl, dass es nicht der einzige Grund ist.“
„Wie kommst du darauf?“
„Durch meine miserable Kombinationsgabe“, stichelte ich. „Im Ernst, ich glaube deine Entscheidung hat mehr mit Irina zu tun als alles andere.“
„Wieso sollte sie das? Sie hat die Sache beendet. Es wäre also nicht nur unlogisch, sondern auch blödsinnig.“
„Das kaufe ich dir nicht ab“, wandte ich ein.
„Und wenn es so wäre?“, entgegnete Chris gelassen.
„Dann solltest du ehrlich sein. Jedenfalls mir gegenüber.“
Chris sah mich lange an, bevor er leise sagte:
„Du hast Recht. Natürlich geht es um sie. Es ging nie um etwas Anderes. Trotzdem, was ich gestern sagte entspricht ebenfalls der Wahrheit.“
„Aber höchstens der halben“, wandte ich ein. „Warum soll Sandra das nicht erfahren? Glaubst du nicht, dass sie sich das denken kann? Sandra ist nicht dumm. Unterschätze sie nicht!“
„Ich würde Sandra niemals unterschätzen“, erwiderte Chris entschlossen. „Mir ist auch klar, dass sie sich denken wird, dass es mit Irina zu tun haben muss. Dennoch muss ich ihr das nicht unverblümt auf die Nase binden.“
„Wieso? Ich denke ihr seid nur Freunde?“
Chris atmete tief durch.
„Sind wir auch. Trotzdem habe ich das Gefühl, es wäre nicht richtig.“
Es war nicht zum ersten Mal, dass ich den Eindruck hatte, Chris hielt von Sandra gewisse Dinge fern, wenn sie Irina betrafen. Mir war das schon im Januar aufgefallen, als Chris mehrere Tage gebraucht hatte, um Sandra von seiner erneuten Beziehung mit Irina zu erzählen. War es nur die Erfahrung aus jener Nacht in Frankreich oder hatte er insgeheim doch den gleichen Verdacht wie ich? Ich entschied ihn nicht weiter nach seinen Beweggründen Sandra die Hälfte zu verschweigen zu fragen. Zudem hatte ich eine andere Frage, die mich ebenso interessierte. Obwohl ich sein Tagebuch aufmerksam gelesen hatte und somit die Gründe für seine Entscheidung kannte, wollte ich doch versuchen, sie von Chris zu hören. Vielleicht würde in einem Gespräch deutlicher, was Chris letztlich zu seiner Entscheidung bewogen hatte. „Möglicherweise ist es besser und Sandra erfährt wirklich nichts davon“, pflichtete ich Chris bei, bevor ich zu meiner Frage überleitete. „Vielmehr interessiert mich etwas ganz Anderes.“ „Warum Irina der andere Grund für meine Entscheidung war“, nahm Chris meine Frage vorweg. „Richtig. Verrätst du mir warum?“
Chris kniff seinen Mund zusammen, dann holte er ein Zigarillo aus der Schachtel, die vor ihm auf dem Tisch lag und zündete sich eines an.
„Kannst du dir das nicht denken? So schwer ist es nicht.“
Er schloss für einen kurzen Augenblick seine Augen, dann sprach er weiter.
„Erinnerst du dich an die Mail von Irina mit der im Januar alles anfing?“
„Ja, natürlich. Du hast mir damals ausführlich davon erzählt“, bestätigte ich.
„Was ich dir nicht erzählt habe war, dass wir uns in unserer ersten Nacht darüber unterhalten haben. Sogar über einen Termin. Den 18. November.“
„Wie seid ihr auf dieses Datum gekommen?“, unterbrach ich Chris.
Mit einem Lächeln, das ich nicht richtig deuten konnte, erklärte mir Chris, wie sie auf dieses Datum gekommen waren.
„Unsere erste Beziehung fing im September an, die zweite im April, die dritte im Juli und die vierte im Januar. Somit war das vierte Quartal das einzige, in dem wir noch keinen Jahrestag hatten. Den 18. haben wir gewählt, weil er ebenfalls noch frei war.“
Chris zog an seinem Zigarillo und streifte anschließend die Asche im Aschenbecher ab.
„Zuerst hielt ich das für einen nicht ernstgemeinten Spaß von ihr“, fuhr er fort. „Auch als wir uns in der zweiten Nacht wieder über dieses Thema unterhalten haben und Irina mir deutlich gesagt, dass wenn, sie dann einen Antrag von mir erwartet. Danach verschwand dieses Thema von der Bildfläche, bis Irina zweimal zu mir sagte: „Du willst doch mit mir alt werden“. Das erste Mal ein paar Tage vor meinem Termin im Februar. Das zweite Mal an dem Morgen, als ich losgefahren bin. Dass der Termin nicht so lief, wie ich es gerne gehabt hätte, weißt du sicher von Sandra. Obwohl ich es besser hätte wissen müssen.“
Chris zog wieder am seinem Zigarillo.
„Während der ganzen Untersuchung geisterte mir dieser Satz durch den Kopf. Ich konnte Irinas Stimme förmlich hören. Wie ein Echo hämmerte sie in meinem Kopf. Als ich mich im Anschluss an die Untersuchung mit meinem Arzt unterhielt, war dieser Satz präsenter denn je. Ich denke, an diesem Tag hatte ich mich bereits entschieden. Ich wusste es nur sehr lange nicht.“
Chris nahm einen letzten Zug an seinem Zigarillo, bevor er es im Aschenbecher ausdrückte.
„In den Wochen danach ging mir immer wieder alles durch den Kopf. Ich war wie paralysiert. Ich wusste nur, dass ich mir nichts mehr wünsche, als mit ihr mein Leben zu verbringen und nicht nur ein paar Monate. Irina muss gespürt haben, dass etwas in mir vor sich ging, denn wir bekamen häufig Streit, weil ich stiller und stiller wurde. Ich konnte immer weniger mit ihr reden und war nur noch mit mir selbst beschäftigt. Ich konnte kaum noch klar denken.“
„Und wenn du einfach versucht hättest mit ihr zu reden? Einfach so unsortiert, wie du warst.“ Chris rieb sich mit der rechten Hand über seine Augen.
„Das wäre keine gute Idee gewesen, glaub mir.“
Weil du ihr am Anfang die Unwahrheit über die verbleibende Zeit gesagt hast?“
„Nein, nicht deswegen“, erwiderte Chris ruhig. „Das hatte andere Gründe und war zwingend notwendig. Wie man deutlich sehen konnte.“
Chris beobachtete meine Reaktion auf seine letzten Sätze. Mein Gesichtsausdruck muss wohl eine Spur zu fragend gewesen sein.
„Weißt du, was eine condicio sine qua non ist?“, fuhr Chris fort.
„Ich hatte nie Latein“, antwortete ich, mein Unwissen entschuldigend.
„Die Bedingung, die nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg eintritt.“
„Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.“, gab ich vor, ohne wirklich zu wissen was Chris meinte.
Er griff nach seinem Glas und trank den letzten Schluck. Dann stellte er das leere Glas vor sich auf den Tisch.
„Mit mir auszukommen kann seit Monaten ungemein schwierig sein“, sagte er gedämpft. „Manchmal kenne ich mich selbst nicht. Ich weiß zwar sehr genau woran es liegt, kann aber nur wenig dagegen tun. Selbst Sandra hat hin und wieder große Probleme mit mir, weil ich einfach nicht ich selbst bin. Nur weiß Sandra im Gegensatz zu Irina warum das so ist. Sie hat mit meinen Ärzten gesprochen und sich vieles erklären lassen. Irina weiß nur das, was ich ihr erzählt habe und das ist fast nichts.“
„Glaubst du nicht, dass sich Irina ebenfalls informiert hat?“, unterbrach ich Chris.
Er verzog leicht sein Gesicht.
„Nein, hat sie nicht. Irina behauptet zwar gerne alle Fakten kennen zu wollen, das stimmt aber nicht. Jedenfalls nicht hier.
Die Sicherheit in seiner Einschätzung überraschte mich zunächst. Ich wollte ich genauer wissen, warum er sich so überzeugt war.
Bist du dir da ganz sicher?“
„Nicht ganz, aber weitgehend. Ich denke sie verschließt sich davor und sieht nur, was sie sehen will. Deshalb hat sie sich nie darüber informiert, was ich genau habe und welche Folgen es nicht nur physisch, sondern auch psychisch hat“, erläuterte Chris.
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, erinnerte ich mich wieder an ein Gespräch zu Beginn unserer Freundschaft. Chris hatte mir damals gesagt, dass er überzeugt sei, Irina könnte nicht mit seiner Krankheit umgehen. Doch im Gegensatz zu heute, war er mir damals die Erklärung, bis auf den Vergleich mit der Cheerleader-Truppe mehr oder weniger schuldig geblieben. Daher fasste ich noch einmal nach.
„Wenn du dir damit so sicher bist, warum hast du es ihr dann nicht versucht zu erklären? Ihr wenigstens ehrlich gesagt, wie es dir geht? Das hätte vielleicht vieles geändert.“
„Hätte es nicht!“ erwiderte Chris bestimmend. „Außerdem, wie hätte ich ihr denn das sagen sollen?“, entgegnete Chris fragend nach einer kurzen Pause. „Sie kam ja schon nicht damit klar, als ich versucht hatte, ihr meine Kopfschmerzen zu beschreiben und ihr zu erklären, warum ich dauernd so müde bin. Was hätte ich ihr sagen sollten? Hätte ich ihr sagen sollen, dass ich eine Heidenangst habe? Dass es sich pausenlos so anfühlt, als würde jemand eine geladene Waffe an meinen Kopf halten? Dass ich an manchen Tagen denke, ich drehe gleich durch? Dass ich zeitweilig kaum weiß, wer ich bin? Nein das ging alles nicht. Diese vorgespielte Normalität war besser.“
Chris hatte genau jene Sätze benutzt, den Sandra neulich bei unserem Abendessen erwähnt hatte. Eine sehr anschauliche und zugleich erschütternde Beschreibung. Zwischenzeitlich hatte auch ich mein Glas leer getrunken und Chris goss uns erneut ein.
„Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich?“
Ich nickte zustimmend und überlegte nebenher, wie ich auf das, was Chris zuvor gesagt hatte, reagieren sollte.
„Steht diese Denkweise nicht im Widerspruch zu ihrer Rückkehr im Januar? Immerhin wusste sie, dass du krank bist und ihr muss schnell aufgefallen sein, wie es dir in Wahrheit geht. Obwohl du es bestimmt auch vor ihr, wie vor Sandra und mir sehr gut verborgen hast.“
„Das ist nicht unbedingt Widerspruch“, sagte Chris besonnen. „Entscheidungen können viele Gründe haben.“
Er schaute mich nachdenklich an.
„Zu deiner zweiten Frage. Selbstverständlich hat sie es bemerkt. An unserem dritten gemeinsamen Abend hat sie miterlebt, wie schlecht es mir wirklich geht und wurde panisch. Sie hat es zwar versucht, aber sie konnte es nicht verstecken. An diesem Abend wollte sie nur noch so schnell es ging nach Hause. Das war jedenfalls mein Gefühl. Wie ich mit ihrer Panik umgehen sollte, wusste ich nicht. Bis dahin kannte ich nur Sandras souveräne Reaktion. Unter diesem Eindruck beschloss ich, dass es besser ist, sie bekommt so wenig wie möglich mit. Ich kapselte mich immer weiter ab, ließ sie kaum noch an mich heran. Das machte aber alles nur noch schlimmer als es ohnehin schon war. Alles zusammen führte zu einer sich immer schneller abwärtsdrehenden Spirale mit dem zu erwartenden Ende.“
Am Ende seiner Erläuterung griff Chris erneut zu seiner Zigarillo Schachtel. Er musste bemerkt haben, dass ich ihn genau beobachtet hatte und dabei meinen Blick gründlich missdeutet haben. „Fängst du jetzt auch schon an wie Sandra zu zählen wie viel ich rauche?“, fuhr Chris mich an.
„Sicher nicht“, erwiderte ich im Versuch die Situation mit einem Lachen zu entschärfen. „Wegen mir kannst du rauchen bis du grün im Gesicht wirst. Solange ich hier nicht aufwischen muss, ist mir alles egal.“
Jetzt musste auch Chris lachen.
„Entschuldige bitte. So war das nicht gemeint, mich nervt nur ihre Fürsorge manchmal wirklich. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.“
Dann wurde Chris wieder ernster.
„Es gibt noch einen anderen Aspekt, der mir überaus wichtig ist und den ihr alle, mit Ausnahme von Sandra, übersehen haben. Das, was du eben verbergen genannt hast. Seit September ist mir durchaus bewusst, wie eingeschränkt mein Leben ist, ich nicht mehr das machen kann, was ich gerne möchte. Dazu fehlt mir nicht nur die Kraft. Oft genug sind auch die Kopfschmerzen so groß, dass ich einfach nur schlafen möchte. Trotzdem versuche ich mein Leben so normal wie möglich zu leben. Ich wasche alleine, ich gehe alleine einkaufen und sogar arbeiten. Wenn auch nur ein paar Stunden. Eines wollte ich nie, mich auf meine Krankheit und allen damit verbunden Einschränkungen zurückziehen. Das habe ich immer versucht zu vermeiden und bei Irina ganz besonders. Ich bin stolz, mein Leben so gut im Griff zu haben, wie ich es habe. Ob sie bemerkt hat, wie wichtig mir das ist, weiß ich nicht. Ich denke nicht. Aber das spielt im Augenblick auch keine Rolle mehr.“
Chris nahm einen Zug an seinem Zigarillo, dann schaute er mich direkt an.
„Wie hätte ich Irina das erklären sollen?“
Ich ließ diese rein rhetorische Frage unbeantwortet. Ohnehin hätte es keine nur annähernd sinnvolle Antwort darauf gegeben. Stattdessen kam ich nach ein Schluck Whisky auf das Gespräch von Chris und Irina in ihrer ersten Nacht zurück. Hatte Chris dieses wirklich ernst genommen, dann hatte er sich bestimmt auch Gedanken über den Antrag gemacht.
„Darf ich dich etwas Anderes fragen? Rein aus Interesse, hattest du dir Gedanken über einen Antrag gemacht?“
Chris schmunzelte.
„Ja, immer wieder. Diese Frage beschäftigte mich oft, obwohl ich mir sicher war, dass Irina dieses Thema bereits längst wieder vergessen hatte.“
Ich war erstaunt über seine Einschätzung von Irina. Ein solches Thema pflegen Frauen nicht zu vergessen, es sei denn sie haben es als Scherz gemeint. Einerseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass Irina das als Scherz gemeint hatte, andererseits würde es sehr gut zu ihren anderen Äußerungen passen. Es gibt Menschen, die nicht ernst nehmen und mit allem ihre Scherze machen. Da ich mir sicher war, dass Chris mir die Gründe für seine Einschätzung ohnehin nicht mitteilen würde, erkundigte ich mich stattdessen nach seinen Ideen für den Antrag.
„Und? Welche Ideen hattest du?“
„Ein paar gute schon. Ich glaube zumindest, dass sie gut waren.
„Erzähl! Ich bin neugierig!“
Chris zögerte einen Moment, dann lächelte er verschmitzt.
„Ich verstehe. Wegen Geraldine. Du hast keine eigenen Ideen falls du sie eines Tages fragen willst.“
„So würde ich das nicht ausdrücken“, antwortete ich, in dem Gefühl, auch wenn es nicht der Grund für meine Frage war, irgendwie ertappt worden zu sein. Chris nickte nur vielsagend. „Also gut“, fuhr er nach einem Moment fort. „Ein paar davon sind aber ziemlich verrückt. Eine Idee war den Antrag mit einer Spraydose auf die Straße vor ihrem Haus zu sprühen. Eine andere war ein Flugzeug mit Banner vor ihrem Balkon fliegen zu lassen, oder ein großes Plakat an ihre Garage zu hängen. Zugegeben, alle ziemlich verrückt. Dann hatte ich noch die Idee mit ihr ein Picknick zu machen und statt einer Decke ein Laken mitzunehmen auf dem der Antrag stand.“
„Waren das alle?“, fragte ich erstaunt über die Menge seiner Idee.
„Bei weitem nicht“, entgegnete Chris, bevor er den letzten Schluck seines Whiskys trank. „Eine die mir besonders gut gefiel war, den Ring nebst Frage an Baghiras Halsband zu befestigen. Was glaubst du, wie Irina geschaut hätte, wenn sie ihm abends das Halsband ausgezogen hätte? Die Idee ist aber leider nichts für Geraldine. Dazu müsstest du ihr zuerst einen Hund kaufen.“ „Richtig“, erwiderte ich lachend. „Aber die Idee ist großartig.“
„Dennoch nicht meine bevorzugte“, korrigierte mich Chris.
„Und welche wäre deine bevorzugte Idee?“
„In einem Schloss natürlich. Sie als Prinzessin auf einem Thron und ich als Ritter, der um ihre Hand anhält.“
Chris sah zu mir herüber. Mein Unverständnis über diese Idee musste in meinem Gesicht stehen.
„Irina hat oft von ihrem Prinzessinnen Traum gesprochen. Ich kann sie zwar nicht zu einer machen, aber ihr wenigstens an diesem Tag das Gefühl geben eine zu sein. Meine Prinzessin. Ich weiß, es klingt kindisch und naiv. Aber ich bin überzeugt, sie hätte es richtig verstanden und sich darüber am meisten gefreut.“
Zu meiner Verwunderung hatte Chris gerade eine weitere Gemeinsamkeit von Geraldine und Irina aufgezeigt. Den jungmädchenhaften Prinzessinnen Traum der beiden. Während ich darüber nachdachte, griff Chris zur Fernbedienung und drückte eine Taste. Das System hatte wenige Sekunden zuvor begonnen Aerosmiths „I don’t wanna miss a thing“ abzuspielen.
„Was hast du gegen dieses Lied?“, wollte ich wissen.
„Nichts“, erwiderte Chris. „Ich kann es im Augenblick nur nicht hören. Und das auch nicht.“ Das Programm hatte als nächstes Cher ausgesucht. Chris drückte erneut auf eine Taste. „Schlechte Erinnerungen?“
Meine Frage ignorierend drückte er wieder auf die Taste. Das System wählte als nächstes van Halens „Right now“ aus.
„Viel besser“, sagte Chris zufrieden und lehnte sich zurück. „Vielleicht sollte ich besser ein paar Playlists erstellen, oder den Algorithmus überarbeiten.“
Ich beschloss das Ganze mit der Frage zu übergehen, ob ihm van Halen mit Sammy Hagar als Sänger besser gefiel, als mit David Lee Roth.
„Auf jeden Fall mit Sammy Hagar,“ antwortete Chris voller Überzeugung. „Die Alben mit ihm sind viel besser. Besonders „Balance“ finde ich hervorragend. Was ist deine Meinung?“
Ich war froh, dass wir wieder ein anderes Gesprächsthema hatten. Alles was mit Irina zusammenhing, schien Chris an diesem Abend nicht besonders gut zu tun.
„Sehe ich auch so, bestätigte ich seine Ansicht. Ich mag besonders „5150“. Darauf ist eines meiner Lieblingslieder.“
„Laß mich raten, Dreams?“, unterbrach mich Chris.
Bevor ich antworten konnte sagte er:
„Ich habe das Video zu „Dreams“. Das mit den „Blue Angels“. Wollen wir es uns ansehen? „Gerne!“, freute ich mich. „Das habe ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.“
Im Video zu „Dreams“, in dem atypisch die Band nicht zusehen ist, werden die atemberaubenden Flugmanöver der „Blue Angels“, der Kunstflugstaffel der US Navy, mit dem treibenden Rhythmus der Musik untermalt. Gebannt starrten Chris und ich auf den Fernseher. „Dass die dabei nicht zusammenkrachen. Einfach unglaublich! Mich begeistert das immer wieder. Diese Burschen können fliegen“, sagte Chris ehrfürchtig.
Nachdem das Video vorbei war, schaute mich Chris seltsam an.
„Dir brennt doch noch eine Frage auf der Zunge, nicht wahr?“
„Wie kommst du denn darauf?“, beantwortete ich Chris unerwartete Feststellung erstaunt.
„Weil ich sie stellen würde, ganz einfach. Sie ist zwingend logisch und notwendig!“
„Und diese Frage wäre?“
„Wie hast du diese E-Mail verstanden. Sie ist nämlich nicht unbedingt so eindeutig wie man beim ersten Lesen annimmt“, erklärte Chris mit ruhiger Stimme. „Man kann sie auf einige Arten deuten.“
Chris hatte Recht. Es war eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Frage.
„Also gut, wie hast du sie verstanden?“
„Wie ich schon sagte, das lässt sich nicht so einfach beantworten“, konstatierte Chris. Er trank einen Schluck Whisky und machte eine Pause, von der ich mir nicht sicher war, was diese zu bedeuten hatte. Suchte Chris noch nach der richtigen Antwort?
„Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht ganz sicher. Beim ersten Lesen war ich sehr wütend auf sie. Ich kam mir von dem Menschen, den ich liebe und für den ich alles tun würde, belogen, verraten und verkauft vor. Warum hast du Idiot dich im Januar nur wieder darauf eingelassen, dachte ich. Du wusstest doch, dass das nicht gut gehen wird. Warum hast du den Kontakt überhaupt wieder zugelassen oder ihre letzte Frage an jenem Abend einfach mit „ich aber nicht mehr“ beantwortet. Mich hat diese E-Mail so mitgenommen, dass ich mich hinlegen musste. Es dauerte lange, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Später, als ich mit Mable spazieren ging dachte ich darüber nach, was sie wirklich zu bedeuten hat.“
„Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“ unterbrach ich Chris Ausführung.
„Schwierig“, fuhr Chris fort. „Sie ist nicht eindeutig. Einerseits kann sie von einem sehr oberflächlichen Menschen stammen, der aus rein egoistischen Motiven handelt. Andererseits, und das ist genauso gut möglich, diese E-Mail ist nichts weiter, als ihre hilflose Art mit allem umzugehen. Wenn man Irina wirklich kennt, ist das wahrscheinlicher. Hoffe ich wenigstens.“
Chris drehte sich nach seiner Katze um, die sich langsam vom Sofa herab begab und unter Mables strengen Blick Richtung Küche lief.
„Sie geht fressen“, bemerkte Chris. „Danach geht sie ins Bad und legt sich auf ihre Decke auf der Waschmaschine. Dort schläft sie nachts meist.“
Obwohl die Katze sehr langsam lief und auch etwas wackelig auf ihren Beinen zu sein schien, wirkte Chris zufrieden und glücklich bei ihrem Anblick.
„Glaubst du sie liebt dich?“, fragte ich ganz direkt. „Oder denkst du, dass das nur schöne Worte waren?“
Chris zuckte mit den Schultern.
„Wer weiß so etwas schon mit Sicherheit, wahrscheinlich niemand? Sagen kann man viel. Ich hoffe sie tut es, aber ich weiß es wirklich nicht.“
„Das musst du doch spüren“, warf ich ein.
Chris senkte seinen Kopf und rieb sich die Augen.
„Im Moment spüre ich gar nichts außer Angst. Angst vor dem Termin übernächste Woche, Angst vor der Behandlung und Angst, Irina verloren zu haben.“
Chris Blick wanderte ziellos im Raum umher.
„Ich hatte mir gewünscht, dass ich mich an Irina anlehnen kann,“ sagte er leise. „Dass sie mir Wärme, Nähe, Kraft und Geborgenheit gibt. Mich versteht, ohne viel zu fragen und mich für diese schwierige Zeit so nimmt, wie ich bin. Es wäre ja nur für eine relativ kurze Zeit gewesen.“
Ich konnte bei seinem letzten Satz die Fragezeichen im seinem Gesicht förmlich sehen. Verglich Chris ohne es zu wollen Irina mit Sandra? Dann war es ein Vergleich, den Irina nur verlieren konnte.Nach einer Weile fuhr er mit leiser Stimme fort.
„Diese 8 Wochen mit ihr haben mich sehr viel Kraft gekostet. Ich will ihr aber nicht die Schuld dafür geben. Die Dinge sind eben wie sie sind.“
„Wie stellst du dir vor, dass das weitergehen wird? Denkst du, sie meldet sich wieder bei dir?“ Chris ließ sich an die Lehne des Sofas zurückfallen.
„Weiß ich nicht. Vielleicht taucht sie in 5 Monaten wieder auf und tut so, als sei nichts geschehen? Vielleicht schreibt sie mir in einer Woche wieder jeden Morgen und jeden Abend eine E-Mail?Möglicherweise steht sie aber auch übermorgen vor meiner Türe, nimmt mich in den Arm und sagt, ich habe einen Fehler gemacht. Höchstwahrscheinlich sehe ich sie nie wieder. Wer weiß das schon?“
„Du willst mir damit sagen, du weißt nicht wie es weitergeht?“, versuchte ich Chris zu einer konkreten Aussage zu bewegen.
„Nicht so ganz.“
„Aber sie hat doch geschrieben, dass sie dich liebt, deshalb war sie doch auch wieder zu dir zurückgekommen. Diese Worte stehen eindeutig in ihrer E-Mail“
„Ja das hat sie geschrieben und das andere mag so sein“, erwiderte Chris kühl. „Ich weiß es im Moment einfach nicht. Ich weiß nur, dass ich sie liebe, sie vermisse und ich ihr so vieles nicht mehr sagen kann. Dabei wünsche ich mir einfach mit ihr alt zu werden.“
Chris wandte seinen Blick von mir ab und betrachte eine große weiß blühende Orchidee.
„Genug davon jetzt! Ich will nicht mehr darüber reden!“
Er griff zu seinem Glas und trank einen ungewöhnlich großen Schluck. Anschließend sah er auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor 23 Uhr.
„Wir sollten den Abend jetzt beenden. Ich bin müde und sollte schlafen gehen. Ich begleite dich noch runter, dann kann Mable noch kurz in den Garten.“
„Kein Problem, der Abend war lang genug für dich“, bejahte ich seinen Wunsch.
Ich sah mir Chris genau. Er wirkte wahrlich müde und geschafft auf mich. Augenscheinlich hatte ihn unser Gespräch angestrengt. Ich war mir zwar sicher, dass Chris jede freie Minute über die ganze Sache nachdachte, doch darüber zu reden ist etwas Anderes. Im Aufstehen trank ich meinen letzten Schluck, steckte mein Feuerzeug und meine Zigaretten ein und folgte Chris zur Türe, an der Mable bereits ungeduldig auf uns wartete. Am Hoftor angekommen bog Mable in den Garten ab und ich verabschiedete mich von Chris.
„Ich werde auf Mable gut aufpassen. Mach dir keine Sorgen.“
„Mache ich mir keine“, entgegnete Chris fast fröhlich. „Gute Nacht. Komm gut nach Hause.“ Chris machte kehrt und ging in Begleitung von Mable, die bereits wieder aus dem Garten zurückgekehrt, war Richtung Haustüre.
„Danke, schlaf gut!“, rief ich ihm hinterher.

   Auf dem Weg nach Hause dachte ich über den Abend nach. Ich hatte den unbeleuchteten Weg, der von Chris Wohnung vorbei an dem alten Park direkt zu meinem Haus führt genommen. Obwohl wir uns erst knapp über ein halbes Jahr kannten und ich Chris nicht immer verstand, fühlte sich diese Freundschaft viel älter an, als sie war. Sie war etwas Besonderes. Fast so, als würde uns ein unsichtbares Band verbinden. Dass Chris mir Mable anvertrauen wollte, empfand ich als große Ehre, wenngleich sie mit einer großen Verantwortung verbunden sein würde. Seit einigen Jahren nicht mehr gerade eine Stärke von mir, aber ich wollte Chris keinesfalls enttäuschen. Während ich den dunklen Schotterweg entlang ging, ließ ich mir unser Gespräch über Irina nochmals durch den Kopf gehen. Chris war an diesem Abend erstaunlich offen gewesen. Offener, als ich es erwartet hatte. Er sprach über Irina ohne den, in Anbetracht der Vorkommnisse, weit mehr als verständlichen Zorn. Dennoch wirkte er verunsichert, um nicht zu sagen verstört auf mich und es war offensichtlich, dass ihm Irina sehr fehlte. Ich hatte mein Haus erreicht, schloss das Tor auf und ging die Einfahrt hoch. Als ich die Haustüre öffnete überkamen mich wieder Gedanken an Geraldine. Nichts würde ich jetzt lieber tun, als ihr von diesem Abend berichten und ihre Meinung dazu hören. Aber ich wusste nicht einmal, ob Geraldine heute Nacht überhaupt in der Stadt war und wenn ja, ob sie alleine war. Das erste Mal, dass ich einen solchen Gedanken hegte. Geraldine könnte mit einem anderen Mann im Bett liegen. Eine unerträgliche Vorstellung. Ich versuchte diesen Gedanken wieder los zu werden, aber er ließ sich nicht vertreiben. Er blieb die ganze Nacht.

Schreibe einen Kommentar