Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 1 – Weiße Seiten


Tagelang hatte es ohne Unterlass mehr oder minder stark geregnet. Das deprimierende Grau dieser Novembertage entsprach weitgehend meiner Stimmung. Seit zwei Wochen machte ich mir Gedanken über das Buch, das ich für Geraldine schreiben wollte, ohne dabei auch nur eine einzige wirklich gute Idee gehabt zu haben. Langsam, aber beständig, wuchs in mir die Erkenntnis, dass das Schreiben einer Liebesgeschichte für eine ganz besondere Frau nicht so einfach war, wie ich es mir zunächst vorgestellt hatte. Sogar das Buch über das Leben des Mannes mit dem Hund, mit all seinen Überraschungen und unerwarteten Wendungen, das  unvollendet in einer Schublade meines Schreibtischs lag, war mir leichter gefallen. Zudem trugen meine ständigen Gedanken an Geraldine, wo sie war, wie es ihr ging, nicht gerade zum konzentrierten Arbeiten bei. Immer wieder kontrollierte ich fast manisch meine E-Mails, in der Hoffnung, Geraldine würde mir geschrieben haben. Doch wie in den vergangenen Wochen wartete ich vergeblich. Als es heute Nachmittag endlich aufhörte zu regnen, wollte ich meinen Garten für den bevorstehenden Winter vorbereiten. Schnell stellte ich fest, dass ich nicht ausreichend Reisig hatte um die Rosen abzudecken und brach mein Vorhaben wieder ab. Da ich nicht wieder einen Nachmittag fruchtlos an meinem Schreibtisch verbringen wollte, beschloss ich einen Spaziergang durch den alten Park zu machen. Ich hoffte, dass mir in dem Park die richtigen Ideen kommen würden und ich endlich den Einstieg in das Buch für Geraldine finde. Aus Gewohnheit nahm ich den Weg, den ich letztes Jahr zu dieser Zeit zum ersten Mal genommen hatte. Ich hatte das kleine Wäldchen, das die große Wiese von den kleineren trennte, die sich Richtung toter Baum erstreckten, hinter mir gelassen, als ich die Hündin des Mannes unweit eines Baumes bemerkte. Ich blieb stehen und schaute mich um, konnte den Mann aber nirgendwo sehen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie relativ weit entfernt von ihrem Herrn irgendwelchen, für sie interessanten Spuren folgte. Nach einer Weile sah ich den Mann den Weg, der an der Hangkante entlang führte, auf mich zukommen.
„Schön Sie zu sehen!“, rief ich ihm zu.
„Ebenfalls!“, erwiderte freundlich er, als er fast bei mir war.
„Ihr Hund ist etwas weiter vorne unter einem Baum mit irgendetwas beschäftigt.“
Der Mann schmunzelte.
„Mable und das Mäusejagen. Das werde ich ihr wohl nie abgewöhnen können.“
„Hunde jagen Mäuse?“, fragte ich ihn erstaunt.
„Ja, tun sie. Meist, wenn ihnen langweilig ist“, antwortete der Mann.
„Und ich dachte immer, nur Katzen jagen Mäuse.“
„Wissen Sie,“, fuhr ich fort, „von Tieren verstehe ich nicht allzu viel. Ich hatte nie eines.“
„Das ist schade. Sie sind eine wirkliche Bereicherung in unserem Leben.“, entgegnete der Mann.
Nachdem er sich erneut nach seiner Hündin umgeschaut hatte, sagte er zum mir:
„Eigentlich können wir das alberne Sie doch lassen, oder?“
Ich musste ein wenig lachen. Vor dem Hintergrund dessen, was im vergangenen Jahr alles geschehen war, wirkte dieses förmliche Sie tatsächlich albern. Zudem war er längst nicht mehr eine Zielperson, zu der ein emotionaler Abstand gewahrt werden musste, sondern jemand, der mein Leben nachhaltig beeinflusst hatte. Jemand, dessen Namen ich sehr gut kannte.
„Du hast Recht.“, erwiderte ich. „Lassen wir den Unsinn.“
„Begleite mich doch ein Stück, Thom. Natürlich nur, wenn du Zeit und Lust hast.“

   Ein Angebot, dass ich gerne annahm. Der gemeinsame Spaziergang wird mich mit Sicherheit von meinen unfruchtbaren Gedanken an das Buch ablenken.
„Ich darf dich doch Thom nennen, oder wäre dir Thomas lieber?“, erkundigte sich Chris, als wir unseren Weg fortsetzten.
„Thom ist schon in Ordnung. Nur meine Mutter nennt mich hin und wieder Thomas. Meine Freunde nennen mich alle Thom. Geschrieben wird es übrigens mit h. Ist während meiner Schulzeit so entstanden und mittlerweile möchte ich es nicht mehr ohne h haben.“
Wir liefen über die große Wiese und unterhielten uns über Hunde. Während Chris geduldig alle meine Fragen beantwortete, flitzte Mable etwas oberhalb unseres Weges von Baum zu Baum und kontrollierte weitere Mäuselöcher. Am Ende der Wiese, an einer kleinen Baumgruppe, drehten wir um und gingen zurück Richtung Ausgang. Kurz vor dem Ausgang blieb Chris stehen und rief Mable, die immer noch mit Mäuselöchern beschäftigt war, zu sich. Es dauerte eine Weile bis Mable, die es nicht besonders eilig zu haben schien, bei uns war.
„Hast du Lust auf einen Kaffee?“, fragte ich Chris, während er Mable an die Leine nahm. „Ich wohne hier gleich um die Ecke.“
„Warum nicht?“, erwiderte Chris.

    An meinem Haus angekommen, fiel Chris zuerst meine Garage auf.
„Ganz schön groß.“, stellte er mit leicht fragendem Unterton fest.
„Hat Platz für sechs Autos.“, antwortete ich.
„Und wozu brauchst du sechs Autos?“
„Im Moment besitze ich nur vier. Aber ich habe sie, als ich das Haus umbauen ließ gleich so groß bauen lassen, dass ich Platz für alle Autos habe, die ich gerne hätte.“
Chris schaute mich ein wenig verdutzt an.
„Naja, bisschen eine Spinnerei.“, sagte ich halb entschuldigend. „Da ich sie auch bewegen möchte, sollten sie nicht irgendwo in einer klimatisierten Halle herumstehen, sondern hier bei mir.“
„Darf ich mir den Mustang anschauen, Thom? Geraldine erwähnte, dass du einen besitzt.“
„Gerne“, antwortete ich erfreut und öffnete stolz das Garagentor.
„Wow!“, entfuhr es Chris. “Ein 68er GT 390/4 Fastback in Highland Green. Genau das Fahrzeug, das Steve McQueen in „Bullitt“ fuhr.“
Chris lief um den Wagen herum und schaute sich ihn genau an, bevor er mit: „ich darf doch?“, die Türe öffnete und auf dem Fahrersitz Platz nahm.
„Ein tolles Auto!“, sagte er enthusiastisch, als er wieder ausstieg. „Nur, die Felgen passen nicht. Die musst du austauschen.“
Chris ging weiter zu meinem Challenger.
„Ein 1970er Dodge Challenger R/T 383 Cabrio. Ich glaub es fast nicht! Cabrios in R/T Ausführung sind extrem selten. Die gab es nur 1970.“
Chris war seine Begeisterung für das Auto mehr als deutlich anzumerken. Noch überraschter war ich allerdings über die Tatsache, dass sich Chris mit diesen Autos offenkundig sehr gut auskannte. Die meisten können bestenfalls einen Shelby von einem normalen Mustang unterscheiden, oder kennen den Pontiac GTO Judge.
„Warum hast du keinen Challenger 440 R/T Magnum, wie ihn Kowalski fuhr? Der würde besser zu deinem Mustang passen?“
Ich verstand, worauf Chris anspielte. Im Spielfilm „Vanishing Point“ spielt Barry Newman den ehemaligen Rennfahrer Kowalski, der wettet, mit einem Challenger 440 R/T Magnum die Strecke von Denver nach San Francisco in weniger als 15 Stunden zurücklegen zu können.
„So einen in guten Zustand zu einem akzeptablen Preis zu bekommen ist fast unmöglich“, beantwortete ich seine Frage. „Außerdem wollte ich ein Cabrio.“
Nachdem er sich auch den Challenger sehr genau angesehen hatte, fragte mich Chris, welche beiden Autos ich noch gerne hätte und schaute mich dabei erwartungsvoll an.
„Eine 63er Corvette Coupé mit Schaltgetriebe in Schwarz und ein Plymouth Road Runner 426“, erwiderte ich.
„Einen schwarzen 68er Charger 440 R/T würde ich an deiner Stelle dem Road Runner vorziehen. Nur der Vollständigkeit halber.“
„Du meinst, damit wir Bullitt spielen können?“, antwortete ich amüsiert.
Chris lächelte vielsagend. Auf der kurzen Tour durch meinen Garten, der Chris, außer meinen Rosen, wenig zu interessieren schien, wollte ich von ihm wissen, warum er sich für diese Autos begeisterte und nicht für Ferraris, Porsches und wie sie alle hießen. Meinem DB9 hatte er in der Garage auffällig wenig Beachtung geschenkt.
„Warum ich diese Autos mag? Ganz einfach. Diese Autos sind ehrlich, haben Ecken und Kanten. Sie geben nicht vor etwas Anderes sein zu wollen, als sie sind. Laut, stark und schnell. Sie transportieren eine einfache Botschaft und sagen über ihren Fahrer etwas Anderes aus, als die ganzen Luxussportwagen. Es ist nicht so, dass ich Supersportwagen nicht mag. Aber sieht man von den paar ehrlichen Enthusiasten ab, fährt hauptsächlich eine besondere Klientel solche Autos. Meist nur aus einem bestimmten Grund.“
Chris Anspielung war unmissverständlich und erinnerte mich daran, warum ich vor ein paar Monaten den DB9 genommen hatte, als ich Emma zum Essen ausführte. Anschließend führte ich Chris durch mein Haus. Wie ich nicht anders erwartet hatte, blieb er beinahe andächtig vor meiner Bar stehen und bewunderte meine Whisky-Sammlung. Unterdessen ging ich in die Küche um Kaffee aufzusetzen.
„Wie möchtest du deinen Kaffee?“ rief ich Chris aus der Küche zu.
„Mit Milch und Zucker bitte“, sagte Chris, als er zu mir in die Küche kam. Ein wenig unerwartet erkundigte sich Chris, während er an der Bar Platz nahm, ob mir mittlerweile etwas für Geraldine eingefallen sei. Zunächst widerwillig, weil mich dieses Thema die letzten Wochen erfolglos beschäftigt hatte, erzählte ich ihm von meinem Plan für Geraldine ein Buch zu schreiben. Chris war von meiner Idee begeistert.
„Ich bin mir sicher, Geraldine wird sich darüber mehr freuen, als über jedes andere Geschenk, dass du ihr machen könntest. Viel mehr, als über diesen teuren Schal, oder irgendwelchen Schmuck“, versicherte er mir. „Naja, bis auf diese eine bestimmte Art Schmuck“, fügte Chris süffisant hinzu. „Aber der hat noch Zeit.“
Er rührte seinen Kaffee um und trank einen Schluck.
„Ein Buch eröffnet dir zudem viele Möglichkeiten“, fuhr Chris nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte fort. „Du kannst Geraldine alles sagen, was du ihr gerne sagen möchtest, ohne dass du direkt mit ihr reden musst. Wer weiß, vielleicht wird sie sogar über das eine oder andere, dass sie nicht wusste, überrascht sein oder sie hatte keine Ahnung davon, wie sehr es dich beschäftigt. Miteinander reden kann sehr schwierig sein. Oft entwickelt sich ein Gespräch durch seine Dynamik in eine ungewollte Richtung. Man vergisst im Eifer, was man eigentlich sagen wollte und sagt stattdessen Dinge, die man später bereut. Besonders, wenn es um Gefühle geht. Selbst ein Brief ist, ähnlich wie ein Gespräch, meist taktisch geprägt. Er nimmt Bezug auf eine gegenwärtige Situation. Das Bedürfnis einer zeitnahen Antwort zwingt den Adressaten ebenfalls zu einem taktischen Handeln. Das Ergebnis ist häufig eine Spirale von Taktik, die nur auf den Moment ausgerichtet ist und am Ende die Lage verschlimmert. Im Gegensatz dazu ist ein Buch strategisch. Anders, als ein Gespräch oder ein Brief kann es in seiner Ausführlichkeit den Blick auf das große Ganze richten, gleichzeitig aber jedem noch so kleinen wichtigen Detail Aufmerksamkeit schenken. Ein drei- oder vierseitiger Brief ist in ein paar Stunden geschrieben. Ein Buch zu schreiben dauert ein paar Monate, mindestens. Du nimmst dir die Zeit genau zu überlegen, was und wie du etwas sagen willst. Durch diesen langen Prozess bist du gezwungen, dich mit deinen Emotionen auseinanderzusetzen. Negative, wie Wut oder Zorn weichen klar strukturierten und durchdachten Aussagen. Positive dagegen bleiben erhalten.“
Chris beobachtete genau meine Reaktion auf seine Worte. Er trank einen weiteren Schluck Kaffee, bevor er seine Ausführung fortsetzte.
„Alleine die Zeit, die sie zum Lesen benötigt und um anschließend alles zu verarbeiten, nimmt ihr den Druck einer unmittelbaren Antwort. Sie kann in Ruhe nachdenken. Entscheidende Stellen immer wieder lesen. Oft versteht man den Zusammenhang erst beim dritten oder vierten lesen. So ein Prozess kann Wochen, wenn nicht Monate dauern und das ist gut so. Wie oft hast du schon erlebt, dass du dachtest deine zügige Antwort sei gut überlegt und du hast die richtige Entscheidung getroffen? Nur um später festzustellen, hättest du länger und gründlicher nachgedacht, alle Informationen gehabt, wäre deine Antwort anders ausgefallen?“
Chris machte eine kurze Pause. Ein beliebter rhetorischer Kunstgriff, der sicherstellt, dass der Zuhörer weiter aufmerksam bleibt.
„Trotz aller dieser Vorzüge bleibt das wichtigste an deinem Buch, dass es Geraldine zeigt, wie viel Arbeit und Mühe du dir um ihretwillen gemacht hast. Wie bedeutend sie dir ist. Niemand würde in eine Sache, die nicht von überragendem Wert ist, so viel Zeit investieren. Ginge es dir nur darum deine Aussage zu wiederholen, würde ein einfacher Brief oder eine E-Mail ebenso gut genügen.“
Chris hatte eine Reihe kluger Ãœberlegungen angestellt, die im Allgemeinen richtig waren, jedoch nicht so ganz zu meinem Plan passten.
„Weißt du, eigentlich will ich einen reinen Liebesroman für sie schreiben. Eine Art Lara Gedichte in Romanform. Ich will mich nicht mit Problemen auseinandersetzen. Oder mich auf die Suche machen, warum so vieles schiefgelaufen ist. Ich bin auch nicht überzeugt, ob Geraldine das nicht falsch verstehen würde. Sie soll sich einfach nur über eine schöne romantische Liebesgeschichte freuen und erkennen, wie wichtig sie mir ist.“
Chris sah mich nachdenklich an.
„Es ist deine Entscheidung. Doch du verschenkst die Chance ihr alles zu sagen, was dir wichtig ist und damit eine vernünftige Basis zu schaffen für alles was im Anschluss daran passieren kann. Eine einfache romantische Liebesgeschichte ist nach meiner Meinung dafür ungeeignet. Dass du sie liebst weiß sie doch. Ich an deiner Stelle würde mir das noch einmal überlegen. Aber es ist dein Buch. Du musst tun, was du für richtig hältst.“
Dass dieses Buch zurzeit nur aus weißen Seiten bestand, wollte ich Chris in diesem Augenblick nicht gestehen. Stattdessen wechselte ich das Thema und erkundigte mich nach seinem Befinden. Er sah heute erstaunlich gut aus. Keinesfalls so, wie man es in Anbetracht seiner Krankheit erwarten würde. Höflich, aber kurz beantwortete er meine Frage.
„Heute sehr gut. Wie in den letzten beiden Wochen schon. Danke der Nachfrage.“
Der Eindruck, den ich schon an seinem Geburtstag vor zwei Wochen gewonnen hatte, bestätigte sich. Chris schien es weder zu mögen über seine Krankheit zu reden, noch schätzte er es besonders, darauf angesprochen zu werden. Unter diesem Eindruck, lenkte ich unser Gespräch  zurück auf das Thema Autos. Ich wollte von Chris wissen, welches dieser Fahrzeuge sein Favorit war.
„Der 71er Challenger 426 Hemi natürlich“, antwortete er prompt. „Welchen denn sonst? Dicht gefolgt vom 71er Hemi Cuda. Aber die sind ja mittlerweile unbezahlbar.“
Chris erklärte mir, warum ihm Midsize-cars immer schon besser gefallen hatten, als Fullsize-cars vom Schlage eines Chargers oder GTOs. Mitten in seiner Ausführung wurde er durch das Klingeln seines Handys unterbrochen. Offensichtlich ein privater Anruf, denn Chris verließ die Küche Richtung Esszimmer. Das wenige, das ich aufschnappen konnte, ließ den Schluss zu, dass Chris mit einer Frau telefonierte.
„Entschuldige bitte“, sagte Chris, als er nach etwa 10 Minuten wieder aus dem Esszimmer in die Küche zurück kam.
„Kein Problem“, erwiderte ich etwas enttäuscht darüber, dass ich nicht erfahren hatte, mit wem Chris telefoniert hatte. Wir unterhielten uns noch eine Weile wieder über Autos, bis Chris mir zu verstehen gab, dass er langsam nach Hause gehen sollte. Seine Katze füttern. Als ich ihn zur Türe brachte, kam mir spontan die Idee, Chris zu meiner Geburtstagsparty in knapp drei Wochen einzuladen. Zu meiner Freude nahm Chris, die für ihn wahrscheinlich ziemlich unerwartete Einladung an.

   Die beiden folgenden Tage verbrachte ich damit, nachdem ich mir ausreichend Reisig besorgt hatte, meinen Garten winterfest zu machen. Ich hoffte, dass mir die entspannende Gartenarbeit helfen konnte, wenigstens ein Grundkonzept für Geraldines Buch zu finden. Doch meine Hoffnung in Ruhe nachdenken zu können, wurde von meinem Nachbarn, der seinen Garten ebenfalls für den Winter vorbereitete, durchkreuzt. Immer wieder verwickelte er mich in verschiedene Gespräche. Angefangen von dem alten Streitpunkt, ob Rosen vor dem Winter, oder erst im Frühling zurückgeschnitten werden sollten, über die Frage, welche Pflanzen man mit Mulch abdeckt, bis hin dazu, ob der Rasen, der durch die feuchte und warme Witterung der letzten Tage erheblich gewachsen war, vor dem Winter noch einmal gemäht werden sollte.

   Den Sonntagmorgen verschlief ich fast komplett. Erst um die Mittagszeit setzte ich mich an meinen Schreibtisch und befasste mich wieder mit dem Buch für Geraldine. Chris hatte mit seinen Hinweisen über die Vorteile eines Buches mein Gedankenkarussell in Gang gesetzt. Er hatte nicht unrecht damit, dass ich auf diese Weise Geraldine alles sagen konnte, was mich beschäftigte. Mit Worten, die ich mir zuvor gut überlegt hatte. Tatsächlich beschäftige mich weitaus mehr, als ihr erneut zu sagen, dass ich liebe dich. In den letzten Wochen hatte ich mir viele Gedanken über Geraldine gemacht und zum ersten Mal in den vielen Jahren, in den wir uns kannten ernsthaft über sie nachgedacht. Doch nicht nur über sie, sondern auch über mich und die damit verbundenen Wechselwirkungen hatte ich viel sinniert. Bestimmt wäre einiges für sie neu. Oder zumindest in seiner Tiefe überraschend. Ich fing an zu überlegen, wie ich ein solches Buch aufbauen sollte, hatte aber keine Vorstellung davon wie ich unsere Erlebnisse und die Dinge, die mir wichtig waren in eine Handlung packen sollte. In meinem Kopf kreiste alles was ich ihr sagen wollte, aber es war mir unmöglich eine Struktur in meine Gedanken zu bringen. Sie sprangen wild hin und her. Von unserer ersten Nacht, über unseren letzten gemeinsamen Abend, wieder zurück zu unserem ersten handfesten Streit, bis zu den langen Gesprächen des letzten Sommers. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Bedenken kamen mir. Geraldine hat auf Kritik immer sehr empfindlich reagiert und sich jedes Mal zurückgezogen, wenn ich etwas auszusetzen hatte. Wie würde sie reagieren, wenn ich das alles zu Papier bringen würde und sie damit im Zweifel zwingen würde, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen? Etwas das die meisten Menschen, nicht nur Geraldine nur äußerst ungern tun. Obwohl Chris Überlegungen nicht von der Hand zu weisen waren, war es vielleicht doch klüger diese Dinge und damit die Vergangenheit ruhen zu lassen. Am Ende gelangte ich zu der Überzeugung, dass es besser war, bei meinem ursprünglichen Plan zu bleiben und eine reine Liebesgeschichte zu schreiben, die unsere Probleme bestenfalls am Rand streifte, sie aber nicht thematisierte. Mein Buch sollte Geraldine nur positive Gefühle vermitteln. Ihre romantische Ader treffen. Ich wollte, dass sie stolz darauf sein würde und ihr zeigen, dass ich meinen Worten auch Taten folgen lassen konnte. Drei Stunden saß ich an meinem Schreibtisch und überlegte. Doch wie schon in den Wochen zuvor wollte mir auch heute nichts einfallen, von dem ich annahm, dass es Geraldine nur im Geringsten gefallen könnte. Geschweige denn, sie beeindrucken würde. Im Verlauf des Nachmittags kam ich auf die Idee, um meiner Phantasie auf die Sprünge zu helfen, mir verschiedene Liebesfilme anzusehen. Bis tief in die Nacht schaute ich romantische Filme, abseits der Klassiker zu diesem Thema, die jeder kennt aus verschiedenen Epochen der Filmgeschichte. Ohne am Ende auch nur das kleinste Stück weitergekommen zu sein. Natürlich hätte ich einfach die Handlung einer dieser Filme, leicht abgewandelt und angepasst, übernehmen können. Immerhin gab es den Grundsatz, besser gut geklaut, als schlecht selber gemacht. Doch auch diese Überlegung brachte mich nicht weiter. Ich wollte etwas Einzigartiges für Geraldine und nichts, das einfach auf sie adaptiert war. Ermattet von den vielen Liebesfilmen ging ich zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Mich beschäftigte wieder ein Problem, das ich seit Tagen  vor mir her schob und das mich in dieser Nacht keine Ruhe finden ließ. Sollte ich Geraldine zu meiner Geburtstagsfeier einladen, oder nicht? Geraldine trotz dieses unsäglichen Abends, ihrer berechtigten E-Mail, dem Ignorieren meines Geschenkes und ihrem anschließenden Schweigen einzuladen, wäre ein deutliches Signal an sie, dass ich nicht mit ihr schmolle wie ein trotziges kleines Kind. Aber die Vorstellung eine Absage, oder noch schlimmer überhaupt keine Antwort zu bekommen, war mir unerträglich. Genauso wie die, dass wir nahezu wortlos einander gegenüberstehen könnten. Eine Situation, mit der ich sicher nicht umgehen könnte und die im Zweifel zu noch größeren Problemen zwischen uns führen würde. Ich erinnerte mich an Chris Worte über das Buch. Sie kann lesen was du ihr zu sagen hast und in Ruhe darüber nachdenken. Mir wurde bewusst, dass ich zuerst dieses Buch schreiben musste, bevor ich mir überhaupt Gedanken machen konnte, wie es mit uns weitergehen sollte. Das bedeutete, sie dieses Jahr nicht zu meiner Feier einzuladen. Wie aber konnte ich verhindern, dass Geraldine Kenntnis von meiner Party erlangt? Hielte ich meine Party im gewohnten Umfang ab, würde sie auf alle Fälle davon erfahren. Die Tatsache, dass ich sie nicht eingeladen hatte, ließ aus ihrer Perspektive nur einen eindeutigen Schluss zu und den musste ich unbedingt vermeiden. Meine Gedanken drehten sich eine gefühlte Ewigkeit im Kreis, bis mir eine Lösung einfiel. Wenn ich die Feier in ganz kleinem Kreis, nur mit den engsten Freunden abhielte, würde sie sicherlich davon nichts erfahren und davon ausgehen, dass ich in diesem Jahr ausnahmsweise keine Geburtstagsparty geben würde.

   Bedingt durch die länger als geplant dauernden Gartenarbeiten, war ich am Samstag nicht mehr zum Einkaufen gekommen und musste das heute unbedingt nachholen. Da ich die Woche nicht mit Hektik beginnen wollte, beschloss ich erst am Nachmittag einkaufen zu gehen. Auf dem Weg nach Hause traf ich, bepackt mit drei Einkaufstüten, Chris, der im Begriff war mit Mable spazieren zu gehen. Wir gingen gemeinsam den Weg entlang, der zu dem alten Park führt, als Chris mich wieder fragte, ob ich ihn nicht begleiten wolle. Erfreut über die willkommene Abwechslung und die Aussicht ein weiteres interessantes Gespräch mit Chris führen zu können, brachte ich rasch meine Einkäufe nach Hause und stellte sie im Flur ab, während Chris mit Mable am Eingang des Parks auf mich wartete. Wir machten uns auf seine übliche Runde, die vorbei an dem kleinen Wäldchen, über die kleinen Wiesen Richtung toter Baum führt.
„Wann hast du eigentlich aufgehört mein Tagebuch und meine E-Mails zu lesen?“ wollte Chris unvermittelt von mir wissen.
Ich musste einen Augenblick nachdenken.
„Eine gewisse Zeit nach deinem Brief. Kurz vor dem Jahrestag von Geraldine und mir. Also Ende Juli. Warum?“
„Nur so. Rein aus Interesse.“
Chris war nicht der Typ Mensch, der nur so aus Interesse eine solche Frage stellte. Ich war mir sicher, dass hinter dieser Frage mehr steckte und überlegte mir, während wir ein paar Meter wortlos nebeneinander hergingen, was der Grund für seine Frage sein könnte. Am Wahrscheinlichsten schien mir, dass seine Exfreundin trotz, oder gerade wegen dieses Briefes, seit unserem Gespräch an seinem Geburtstag wieder Kontakt zu ihm aufgenommen hatte.
„Hat sich deine Exfreundin irgendwann bei dir wieder gemeldet? Ich meine, so ein Brief bekommt man ja nicht alle Tage und normalerweise fragt man irgendwann nach. Also ich würde das tun und wenn ich mich nicht trauen würde direkt zu fragen, dann wenigstens hintenherum bei gemeinsamen Freunden oder Bekannten. Möglichkeiten dafür gibt es immer.“
„Nein, hat sie nicht“, antwortete Chris fast beiläufig. „Jedenfalls nicht, soweit ich weiß“ und zog dabei eine Augenbraue hoch.
„Das heißt, du weißt es nicht, stimmt’s?“
Chris sah mich an.
„Es könnte durchaus sein. Weißt du, mit dem Brief wollte ich mit diesem Kapitel meines Lebens abschließen und mich nie wieder damit beschäftigen zu müssen. Jedenfalls für die kurze Zeit, die nach Ansicht der Ärzte damals noch blieb. Aus diesem Grund setzte ich ihre E-Mail-Adressen auf die Blacklist unseres Mailservers“.
„Aber sie hätte dich anrufen können“, warf ich ein.
„Theoretisch ja. Praktisch nein.“, erwiderte Chris voller Überzeugung.
„So wenig, wie wir in den drei Jahren telefoniert hatten, war diese Gefahr ausgesprochen gering. Außerdem war mein Handy seit Mai meistens aus. Selbst an meinem Geburtstag. Ich hatte sowieso oft das Gefühl, sie telefoniert nicht gerne mit mir. Vielleicht deswegen, weil sie den ganzen Tag geschäftlich telefonieren muss und sie dann keine Lust mehr auf private Anrufe hatte? Ich weiß es nicht.“
Chris wirkte bei seinem letzten Satz bedrückt. Das war gut zu erkennen.
„Sie hätte dir aber eine SMS schicken können. Dann hätte sie sehen können, vorausgesetzt sie hat den Übertragungsbericht eingeschaltet und das haben nach meiner Erfahrung alle Frauen, wann du dein Handy wieder einschaltest.“
Chris lächelte eigenartig gequält.
„Und eben deshalb habe ich es am Vorabend meines Geburtstags ausgeschaltet und erst  14 Tage danach wieder eingeschaltet. Damit war die maximale Vorhaltezeit einer SMS im Netz überschritten und sie wurde automatisch gelöscht. Mit anderen Worten, sie bekam nie einen Ãœbertragungsbericht. Falls sie wirklich eine geschickt hatte.” Dann wurde Chris Gesichtsausdruck ernst. “Nicht, dass du das jetzt falsch verstehst. Es war nicht nur wegen ihr, sondern auch wegen mir. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte, eine E-Mail oder SMS von ihr einfach ungelesen zu löschen. Wahrscheinlich nicht. Deshalb diese Quarantäne. Außerdem nehme ich an, dass sie meinen Geburtstag ohnehin vergessen hat“
Ein ungewöhnliches Wort, das Chris für sein Abschotten vor möglichen Nachrichten von seiner Exfreundin gewählt hatte. Blockade wäre nach meiner Auffassung das passendere Wort gewesen. Chris wandte sich von mir ab um nach Mable zu sehen, die weit unterhalb von uns den Hang entlang sauste. Währenddessen ließ ich mir Chris Worte durch den Kopf gehen.
„Deine Quarantäne hat ein paar Löcher“, stellte ich fest.
„Und welche sollen das sein?“
„Sie hätte dich über eines der sozialen Netzwerke kontaktieren können.“
Chris schüttelte den Kopf.
„Nein, selbst wenn sie gewollt hätte nicht. Bis auf Facebook habe ich alle verlassen.“
„Warum ausgerechnet Facebook nicht?“
„Mein Account ist der Administrator für unsere offizielle Firmenseite, deshalb muss er weiterbestehen. Ich werde das aber bald ändern.“
„Dann hast du sie wenigstens von deiner Freundesliste entfernt und sie blockiert oder?“
„Warum hätte ich das tun sollen?“, erwiderte Chris mit erstaunten Gesichtsausdruck.
„Sie hätte doch darüber versuchen können Kontakt mit dir aufnehmen?“
Chris verzog sein Gesicht.
„Sicher nicht. Ich kümmere mich schon lange nicht mehr um meinen Account und die lästige Benachrichtigungsfunktion habe ich bereits letzten Sommer abgeschaltet. Ich muss nicht wissen, wer wann welchen Unsinn postet oder seinem Trieb zur grenzenlosen Selbstdarstellung freien Lauf lässt. Außerdem hatte ich seit Herbst 2011 kaum noch und ab Frühjahr 2012 gar keine Statusbenachrichtigungen oder ähnliches mehr von ihr bekommen. Es war also nicht nur extrem unwahrscheinlich, dass sie ausgerechnet diesen Weg wählen würde, sondern auch sinnlos. Wie du siehst, habe ich an alles gedacht.“
Während wir weitergingen und sich Chris nach Mable umschaute fügte er noch ganz leise hinzu:
„Möglicherweise hatte sie mich damals schon aus ihrer Freundesliste gelöscht und ich weiß es nur nicht?“
Ohne es zu wissen hatte Chris mit dieser Aussage ein weiteres gewichtiges Argument geliefert, dass meine Sicht auf die Ereignisse seit Herbst 2011 bestätigte und nicht die von Geraldine. Nimmt jemand seinen Partner zumindest aus den Statusbenachrichtigungen heraus, dann bedeutet das nur eines. Es geht dich nichts mehr an was ich tue. Du bist mir gleichgültig. Es spielte zwar keine Rolle mehr, trotzdem tat es gut zu wissen, dass ich Recht behalten hatte.
„Und wie schätzt du die Situation heute ein?“
Chris hielt kurz inne.
„Ich denke nicht, dass ich noch einmal etwas von ihr hören werde. Es ist zu viel Zeit vergangen und ihre Art zu leben wird ihr geholfen haben mich sehr schnell zu vergessen. Mit ziemlicher Sicherheit spielte ich in ihrem Leben nie dieselbe Rolle, wie sie in meinem. Aber wer weiß so etwas schon mit Sicherheit?“
Ich überging diesen, nach Ausrede für sich selbst klingenden Satz und stellte Chris eine andere Frage.
„Du hast neulich zu mir gesagt, dein Plan war ein Fehler, ohne nähere Begründung. Warum dieser Sinneswandel?“
„Es war kein Sinneswandel“, entgegnete Chris ernst. „Ich wollte dir damit etwas sagen. Kämpf um deine Geraldine. Mach nicht ohne Grund das, was ich tun musste. Sonst verlierst du sie. Mehr war es nicht. Ein unglückliches Ende ist mehr als genug. Ich wollte verhindern, dass…“
Plötzlich brach Chris seinen Satz ab. Unmittelbar vor uns stand eine Gruppe anderer Hundehalter und ich hatte das Gefühl, dass Chris in ihrer Gegenwart nicht weiterreden wollte. Chris begrüßte sie kurz und wir schlossen uns der Gruppe an, die auf dem Weg zu der großen Wiese war. Als wir den Ausgang, der direkt zu meinem Haus führt erreichten, verabschiedete ich mich von Chris mit dem Hinweis, ich sollte jetzt dringend meine Einkäufe in den Kühlschrank räumen. Chris hatte ungewöhnlich aufgeräumt und ruhig gewirkt. Er hatte sehr gelassen, nahezu emotionslos über seine Exfreundin gesprochen. Fast so, als würde ihn dieses Thema nicht mehr beschäftigen. Trotzdem war ich nicht geneigt zu glauben, dass Chris tatsächlich mit seiner großen Liebe abgeschlossen hatte.

   Drei Tage später hatte ich einen der in diesem Jahr selten gewordenen Termine außerhalb der Stadt. Die Veröffentlichung meines letzten Buches lag schon über zwei Jahre zurück und dementsprechend hatte sich die Summe der Lesungen und sonstiger Veranstaltungen drastisch reduziert. Die gelb leuchtende Reserveanzeige im Instrumententräger meines BMW, den ich den ganzen Sommer nicht bewegt hatte, zwang mich zuerst an die einzige Tankstelle des Vororts. Als ich in die Tankstelle einbog, sah ich, dass Chris ebenfalls tankte. Wir unterhielten uns kurz und Chris erzählte mir, dass er auf dem Weg zu seiner Routineuntersuchung sei. Ein wenig stolz fügte er hinzu, dass er zum ersten Mal seit April wieder alleine diese Strecke fuhr. Diese Bemerkung machte mich neugierig und ich wollte mehr erfahren. Kurzentschlossen fragte ich Chris, ob er am Freitagabend Zeit hätte mit mir zu essen. Ohne zu zögern nahm er meine Einladung an. Zur Sicherheit, falls ihm doch etwas dazwischenkommen würde, immerhin war er auf dem Weg zu seiner Untersuchung, gab ich ihm meine Karte. Sichtlich amüsiert über meine Bedenken, bedankte sich Chris und verabschiedete sich mit dem schnippischen Kommentar:
„Ich gehe davon aus, dass du meine Nummer ja hast.“