Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 3 – Der Solitaire

   Mein Wunsch, an meinem Geburtstag länger schlafen zu können wurde kurz nach halb acht von meiner Türklingel unsanft zunichte gemacht. Müde quälte ich mich aus dem Bett um nachzusehen, wer in dieser Frühe etwas von mir wollte. Der Blick auf den Bildschirm der Videokamera brachte schnell Klarheit. Es war die Spedition, die die neuen Räder für meinen Mustang anlieferte. Einen Tag zu spät. Ich zog mich rasch an und öffnete die Türe. Nachdem ich den Empfang quittiert hatte, brachte ich die Kartons in die Garage. Zurück in der Küche setzte ich zunächst Kaffee auf. Ganz unglücklich darüber unerwartet so früh geweckt worden zu sein war ich nicht. Im Gegensatz zum letzten Jahr hatte ich diesmal keinen Catering Service beauftragt, sondern den ehrgeizigen Plan gefasst, da ich nur meine engsten Freunde eingeladen hatte, alles selbst zu machen. Neben dem Partyklassiker Chili con Carne und einer Kartoffelsuppe, beides hatte ich schon am Vortag gekocht, sollte es noch verschiedene Antipasti, Wurst und Käse, sowie die üblichen Knabbereien geben. Auf dem Weg ins Bad kontrollierte ich mein Handy auf Nachrichten, welches wie gewöhnlich auf der Kommode im Flur lag. Außer den üblichen Verdächtigen, ein paar nicht so engen Freunden, einigen Mitarbeitern des Verlags und ein paar entfernten Bekannten, bei denen ich nie wusste, ob sie sich deshalb an meinen Geburtstag erinnerten, weil ich einen gewissen Bekanntheitsgrad hatte oder ob es nur ihr digitaler Kalender war, hatte zu meiner Überraschung auch Maria mit einer sehr freundlichen SMS an mich gedacht. So sehr ich mich auch über die unerwartete Nachricht von Maria freute, so enttäuscht war ich, dass keine von Geraldine dabei war. Sollte sie meinen Geburtstag vergessen haben? Ich beruhigte mich damit, dass sie bestimmt noch keine Zeit für mich gehabt hatte und ich sicher bald von ihr hören würde. Später am Vormittag, nach einem durch mehrere Telefongespräche unterbrochenen Frühstück, machte ich mich auf die restlichen Einkäufe zu erledigen. Bei einem kleinen italienischen Feinkosthändler, der sein unscheinbares Ladenlokal an der Hauptstraße des Vorortes hatte, kaufte ich verschiedene Antipasti, Wurst, Käse, sowie ausreichend Ciabatta und Panini.

   Während ich die Platten mit Antipasti, Wurst und Käse anrichtete, rutschte plötzlich mein Handy vibrierend auf der Arbeitsplatte umher. Ich hatte es, um nicht bei jeder neuen Nachricht ständig in den Flur gehen zu müssen, mit in die Küche genommen. Erleichtert sah ich, dass die Nachricht von Geraldine war. Die Erleichterung wich umgehend Ernüchterung, als ich den unpersönlichen Text las. „Alles Gute zum Geburtstag. Wünsche Dir einen schönen Tag. Gruß Geraldine.“ Nicht einmal mehr jenes für sie obligatorische Liebling, dass sie für ausnahmslos jeden verwendete und dass mich mit seiner entwertenden Beliebigkeit immer so ärgerte, hatte sie gebraucht. Ich hatte nie Wert daraufgelegt, dass mich Geraldine so nannte, trotzdem vermisste ich jetzt diesen Ausdruck. Enttäuscht, um nicht zu sagen frustriert legte ich mein Handy zur Seite, ohne mich bei Geraldine zu bedanken. Bislang war die Vorstellung meinen Geburtstag ohne Geraldine verbringen zu müssen mir unangenehm gewesen. Aber nach dieser SMS war ich unerklärlich erleichtert, dass ich sie nicht eingeladen hatte. Ein Zustand, der nicht lange anhielt und umgehend wieder dem schmerzhaften Bedauern nachgab, sie heute nicht zu sehen.

   Am späten Nachmittag waren meine Vorbereitungen abgeschlossen und ich legte mich für eine Stunde auf mein Sofa. Als ich wieder aufwachte, waren aus der geplanten Stunde zwei geworden und jetzt wurde es hektisch. Ich musste noch den Wein und die anderen Getränke aus dem Keller holen, sowie Teller, Besteck und Gläser bereitstellen. Ich war gerade fertig geworden, als die ersten Gäste kurz nach 19 Uhr eintrafen. Eine halbe Stunde später waren bis auf Chris alle Gäste anwesend und ich begann mich zu fragen, ob es Chris heute vielleicht nicht gut ging, als es erneut klingelte. Da ich überzeugt war, es konnte nur Chris sein, drückte ich ohne auf dem Bildschirm der Videokamera nachzusehen auf den Toröffner. Ich öffnete die Haustüre und durch den Nebel, der in der Zwischenzeit aufgezogen war, sah zwei Personen, davon eine eindeutig Chris, die andere eine Frau, meine beleuchtete Auffahrt hinaufkommen. Chris war in Begleitung gekommen. Als die beiden näher kamen erkannte ich die Frau sofort wieder. Es war Sandra. Die Frau, die ich im Frühjahr ein paar Mal mit Chris zusammen gesehen hatte und von der er mir neulich zum ersten Mal erzählt hatte. Mit einem sehr herzlichen alles Gute zum Geburtstag Thom, begrüßte mich Chris und übergab mir zwei Geschenke.
„Ich hoffe, sie gefallen dir.“
„Vielen Dank!“, erwiderte ich, ohne dabei meinen Blick von der Frau an seiner Seite nehmen zu können.
„Du hast doch sicher nichts dagegen, dass ich jemand mitgebracht habe?“, entschuldigte Chris seine unangemeldete Begleitung.
„Wie könnte ich bei einer so charmanten Begleitung etwas dagegen haben? Sie müssen Sandra sein. Chris hat schon von ihnen erzählt. Freut mich sie endlich kennenzulernen.“
„Ebenfalls“, entgegnete Sandra freundlich. „Ich hoffe, Chris hat nicht übertrieben, als er über mich sprach.“
Das hatte Chris keinesfalls. Vor mir stand nicht nur eine bildschöne Frau mit feingezeichneten, ebenmäßigen Gesichtszügen, sondern auch ein Mensch mit einer ganz besonderen, faszinierenden Ausstrahlung. Im Gegensatz zum Frühling trug sie ihre Haare, die zu einem Zopf zusammengebunden waren, jetzt kürzer. Etwa schulterlang und soweit mich meine Erinnerung nicht im Stich ließ, waren sie auch wesentlich heller als damals. Beinahe blond. Zum ersten Mal bemerkte ich heute ihre wunderschönen blaugrauen Augen, die nur durch etwas Kajal betont wurden. Ich legte die Geschenke kurz auf der Kommode ab, um Sandra aus ihrem klassisch geschnittenen schwarzen Kaschmir Mantel zu helfen. Dabei fiel mir wieder der Solitaire am kleinen Finger ihrer rechten Hand auf. Ein wunderschöner Stein. Ich schätzte ihn auf wenigstens 3 Karat, herrlicher Brillantschliff. Dieser Stein stellte mindestens den Gegenwert von zwei Oberklasse Limousinen dar.
„Wo hast du Mable gelassen?“, wollte ich wissen, während wir in mein Wohnzimmer zu den anderen Gästen gingen.
„Sie ist Zuhause“, antwortete Chris. „Der kleine Unruhegeist würde deine ganze Party durcheinanderbringen.“

   Im Wohnzimmer angekommen packte ich die Geschenke von Chris aus. Das eine war ein Buch über die Musclecars der späten 60er und frühen 70er Jahre. Chris musste bei seinem Besuch aufgefallen sein, dass ich dieses Buch, von dem viele behaupten, es sei das wichtigste und vollständigste über diese Fahrzeuge, nicht in meinem Bücherschrank stehen hatte. Das andere Geschenk war eine Flasche Arran Robert Burns Single Malt, die ebenfalls in meiner Sammlung fehlte. Eine nette Anspielung. Nachdem sich beide etwas zu trinken geholt hatten, stellte ich sie meinen Freunden vor und kurze Zeit später unterhielten sie sich angeregt mit diversen Gästen. Rasch war zu erkennen, dass Sandra zum Mittelpunkt meiner Party avanciert war. In gewisser Weise erinnerte mich das an Geraldine, die früher auf meinen Partys zumeist im Mittelpunkt stand. Doch anders als Geraldine, die je nach Stimmung entweder kühl und reserviert, oder leicht überdreht bis exaltiert war, strahlte Sandra Wärme und Freundlichkeit aus. Ihre Bewegungen waren ruhig und sanft, dennoch bestimmt. Insgesamt wirkte sie feiner und distinguierter als alle Frauen, die ich bisher kannte. Sandra hatte dieses gewisse Etwas, dass sie von allen anderen abhob. Sie schien sich ihrer Herkunft und ihres Status stets bewusst zu sein, ohne dabei auch nur im Ansatz arrogant oder überheblich zu wirken. Im Gegenteil. Viele Frauen, die ich kannte und die vermutlich nicht ein Hundertstel ihres Hintergrunds besaßen, waren eingebildeter und arroganter. Überrascht stellte ich im Vorbeigehen fest, dass sie sich mit einem Freund aus Madrid, der sich zufällig in diesen Tagen geschäftlich in der Stadt aufhielt und meiner Einladung gerne gefolgt war, fließend auf Spanisch unterhielt. Im Laufe des Abends wuchs meine Begeisterung für sie ebenso, wie die, einiger meiner Freunde, die mich auf sie ansprachen und unbedingt wissen wollten, wer diese Frau ist. Es dauerte fast 2 Stunden, bis ich endlich die Gelegenheit bekam mich mit Sandra alleine zu unterhalten. Zuerst hielten wir etwas Smalltalk. Eine Kunst die Sandra perfekt und sehr charmant beherrscht. Dabei streifte mein Blick ihre Armbanduhr, die ich vorhin, als ich ihr aus dem Mantel half, nicht bemerkt hatte. Eine Patek Philippe sieht man auf Grund ihres exorbitanten Preises nicht alle Tage. Eine außerordentlich schöne und schlichte Damenuhr, die sehr gut zu ihrem zarten Handgelenk passte und sich exakt in das Bild einfügte, dass ich mir von Sandra begonnen hatte zu machen. Im Laufe unseres Gesprächs wollte ich wissen, wie und wo sie Chris kennengelernt hatte. Chris hatte mir zwar vor über einer Woche die Geschichte erzählt, doch an deren Wahrheitsgehalt hatte ich nach wie vor meine Zweifel. Insbesondere seit dem heutigen Abend. Zu meinem Erstaunen bestätigte Sandra diese in allen Details. Ein verrückter Zufall hatte tatsächlich zwei Menschen, die aus komplett verschiedenen Welten stammten, zusammengeführt und zu sehr engen Freunden werden lassen. Während des ganzen Gesprächs mit Sandra hatte ich nicht nur sehr gut auf ihre Haltung und Körpersprache geachtet, sondern besonders darauf, ob an Hand eines Akzentes feststellbar war, woher sie wirklich stammte. Zu meiner Enttäuschung sprach Sandra vollkommen akzentfrei. Selbst jene kleinen grammatikalischen Fehler, die häufig Rückschlüsse auf die Muttersprache zulassen, unterliefen ihr nicht. Genauso wenig, wie bei mir die Muttersprache noch feststellbar war, konnte Sandras Muttersprache alles Mögliche sein. Auch die Sprache in der wir uns unterhielten. Kurz nach 23 Uhr kamen Sandra und Chris zu mir. Mehr erklärend, als entschuldigend sagte Sandra:
„Chris weiß nicht immer wo seine Grenzen liegen. Ich muss andauernd auf ihn aufpassen, sonst übertreibt er. Deshalb bringe ich ihn jetzt nach Hause. Vielen Dank, dass ich dein Gast sein durfte. Ich hoffe, wir sehen uns in nächster Zeit wieder.“
„Schade“, erwiderte ich im Bedauern, dass Chris und Sandra meine Party schon verließen. „Aber ich verstehe sehr gut, was du meinst. Ich bin mir sicher, wir sehen uns bald wieder. Es wäre mir eine große Freude.“
Ich brachte die beiden zur Türe, half Sandra in ihren Mantel und wir verabschiedeten uns. Kurz bevor ich die Türe hinter beiden wieder schloss, drehte sich Chris, der die ganze Zeit fast nichts gesagt hatte, nochmals zu mir und fragte mich fast anordnend, ob ich ihn morgen Nachmittag bei seinem Spaziergang mit Mable begleiten wolle und wir verabredeten uns für 16 Uhr. Wieder zurück bei meinen noch verbliebenen Gästen stellte ich fest, dass mehr noch als die Frage, wann ich endlich wieder ein neues Buch schreiben würde, Sandra Gesprächsthema war. Ohne Ausnahme waren alle meine Gäste, selbst die weiblichen, von ihr begeistert. Diese Frau hatte uns alle bezaubert.

   Gegen 3 Uhr waren die letzten meiner Gäste gegangen und ich entfernte noch grob die entstandene Unordnung, bevor ich zu Bett ging. Mein erster Geburtstag seit Jahren ohne Geraldine war vorbei. Dank Sandra, einem Menschen, der dunkle Nächte zum Leuchten bringen konnte, hatte ich Geraldine weniger vermisst, als ich zu Anfang befürchtet hatte. Dennoch war ein Geburtstag ohne Geraldine kein richtiger Geburtstag für mich. Nach Wochen des mehr oder weniger erfolgreichen Bekämpfens und Unterdrückens meiner Gefühle musste ich mir zwischen schmutzigen Tellern und Gläsern eingestehen, dass ich sie viel mehr vermisste, als ich mir selbst zugeben wollte und die Erinnerung an meinen letzten Geburtstag überfiel mich spät in der Nacht letztlich doch noch mit voller Wucht. Einem Film gleich lief mein letztjähriger Geburtstag in meinem Kopf ab. Wie Geraldine mit mir Hand in Hand in mein Wohnzimmer gegangen war und diese nicht mehr losließ, bis ich ihr Geschenk auspackte. „Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling.“ Ihre Worte klangen noch in meinen Ohren, als hätte Geraldine diese gerade erst gesagt. Aber an jenem Abend gab es noch Maria. Die problemlose, junge, hübsche Studentin, die sich perfekt in mein Leben einfügte. In vielem, wenn nicht in allem das genaue Gegenteil von Geraldine, die alles andere als problemlos ist und die als Frau an meiner Seite überhaupt nicht in meine damalige Welt gepasst hätte. Allein der größte Unterschied zwischen den beiden wurde mir erst sehr viel später bewusst. Maria war ein tolles Mädchen, die ich zu Unrecht nur auf ihr Aussehen reduziert hatte und die ich wirklich sehr gerne mochte, aber ich liebe Geraldine. Schmerzlich dachte ich wieder an jenen Abend im Sommer zurück, als ich Geraldine sehr verunglückt erklärt hatte, dass ich sie liebe. Warum hatte ich ihr damals nicht einfach gesagt, was ich für sie empfinde? Ohne diese Einschränkungen, der in diesem Augenblick unangemessenen Kritik an ihr. Diese Themen einfach später in Ruhe mit ihr besprochen? In dieser Sommernacht saß mir die große Liebe genau gegenüber und hatte nur auf die richtigen Worte gewartet. Aber ich war lange noch nicht so weit, wie ich damals dachte. Im Grunde hatte ich ihr nichts Anderes gesagt als: das sind deine Probleme, finde ihre Ursachen, löse sie und komm dann wieder. Keine neue, aber nach wie vor eine bittere Erkenntnis. Besonders an meinem Geburtstag. Nun ruhten alle meine Hoffnungen, dass Geraldine ihre Meinung doch noch ändern könnte, auf diesem Buch. Einem Buch, das ich bisher nicht zu schreiben in der Lage war. Während ich die letzten Teller in die Spülmaschine räumte, wünschte ich mir nur ein bisschen von Chris Talent zu haben, so einzigartige Worte für die Frau finden zu können, die mir alles bedeutet.

   Der nächste Tag begann als einer jener typisch grau verhangenen Novembertage. Gerädert von einer unruhigen Nacht, mit viel zu vielen Gedanken an Geraldine, war ich sehr spät aufgestanden. In knapp vier Stunden wollte mich Chris mit Mable zu einem Spaziergang abholen und ich hatte noch einiges aufzuräumen. Was Chris wohl mit mir besprechen wollte, ging mir durch den Kopf, während ich meinen Staubsauger rumpelnd und knisternd durch Wohn- und Esszimmer schob. Die Party hatte auch auf meinem Boden ihre Spuren hinterlassen. Die Sonne, der es im Laufe des Nachmittags gelungen war, immer größere Löcher in die Wolkendecke zu reißen, schien durch die Fenster meines Wohnzimmers und hatte den Tag doch noch zu einem der schöneren im November werden lassen, Trotz der niedrigen Temperatur, die auch durch die Sonne nicht merklich anstieg, freute ich mich jetzt auf den Spaziergang mit Chris. Kurz nach 16 Uhr klingelte Chris in Begleitung der aufgeregt wartenden Mable an meinem Tor. Ich nahm meine Lieblingsjacke von der Garderobe und verließ das Haus. Nachdem ich Mable, die darauf bestand als erste begrüßt zu werden, gestreichelt hatte, wandte ich mich Chris zu. Er sah heute nicht besonders gut aus. Er wirkte müde und kraftlos, seine waren Augen matt und von schwarzen Rändern umgeben.
„Geht es dir gut?“, wollte ich wissen.
„So wie immer“, lautete seine knappe Antwort.
Sein Blick fiel auf meine Jacke.
„Berühmte Einheit“, bemerkte er, als er das Abzeichen auf dem linken Ärmel sah. „Die 101. Luftlandedivision ist eine der berühmtesten Einheiten eurer Army. Das hast du sicher gewusst?“
Um die „Screaming Eagles“ ranken sich viele Legenden und Anekdoten und ich kannte die meisten davon. Genauso wie die, über die „Big Red One“, die 7. Kavallerie und die 82. Airborne. Vor allem aber jene, über die 1st Marines. In meiner Kindheit hatte ich sie wer weiß wie oft gehört. Von Guadalcanal, Pelelui und Okinawa, über Chosin-Reservoir bis hin zu Hue. Ich kannte sie alle und konnte sie zur Not sogar rückwärts erzählen. Bis wir den Park erreicht hatten, erzählte mir Chris alles, was er über die 101. wusste. Dass sie beim D-Day und an der Operation „Market Garden“ maßgeblich beteiligt war, daraufhin in ganz Europa eingesetzt wurde, dass ihr Motto „Rendezvous with Destiny“ ist, bis zu der unglaublichen Antwort ihres Generals McAuliffe auf die deutsche Aufforderung zur Kapitulation in Bastogne, die ihm den Spitzenamen „McNuts“ eingebracht hatte.
„Kannst du dir vorstellen, der hat diese Aufforderung einfach mit „Nuts“ beantwortet!“, stellte Chris fast begeistert eine historisch nicht ganz unumstrittene Tatsache fest. Einigen Quellen zufolge hatte McAuliffe angeblich zuallererst „shit“ gesagt.
Dennoch bestätigte sich mein Eindruck, den ich von Chris während des Lesens seines Tagebuchs und seiner Briefe gewonnen, hatte einmal mehr. Er kannte sich exzellent in der Geschichte der Neuzeit aus.
„Du hast dich doch sicher nicht mit mir verabredet, um mir einen Exkurs in Geschichte zu geben?“, fragte ich Chris scherzend nach dem wahren Grund unserer Verabredung.
Chris wurde verlegen.
„Nein, deswegen nicht. Mehr wegen Geraldine. Ich wollte das gestern an deinem Geburtstag nicht ansprechen. Hat sie dir eigentlich gratuliert?“
„Ja, hat sie. Sie hat mir eine nichtssagende SMS geschickt“, erwiderte ich mürrisch.
„Was hast du denn erwartet?“
Chris sah mich fragend an.
„Vielleicht eine etwas persönlichere SMS. Eine, ach keine Ahnung. Ich weiß es selbst nicht.“ „Hast du dich wenigstens bedankt?“
„Nein. Warum sollte ich auch? Für so einen unpersönlichen Standardtext sicher nicht. Den kann sie schicken wem immer sie will, aber nicht mir!“
Ich hatte meinem Ärger über Geraldines SMS doch noch Luft gemacht.
„Oh Mann!“, entfuhr es Chris. „So geht das nicht. Du hättest antworten müssen! Vielleicht hat sie darauf gewartet. Schon mal darüber nachgedacht? Aber deswegen wollte ich dich nicht sprechen. Es gibt etwas Neues von Geraldine, das du sicher noch nicht weißt.“
Ich spürte, wie mein Herz stark zu pochen anfing und in mir eine Unruhe aufstieg. Gespannt wartete ich auf Chris nächsten Satz.
„Sie wird ab 1. Dezember zur Leiterin der Abteilung Öffentlichkeits-Arbeit. Das bedeutet, sie wird zum Gesicht der Firma nach außen. In der heutigen Zeit eine dringende Notwendigkeit ein hübsches Gesicht nach außen zu haben.“
Chris blickte mich direkt an.
„Sie wird dann viel unterwegs sein, wenn du verstehst, was ich meine. Empfänge, Partys, irgendwelche Events, viele wichtige Menschen treffen und so weiter. Das ganze Programm.“ Ich erstarrte innerlich. Geraldine hatte seit ihrem Zusammenbruch nur noch im Innendienst gearbeitet. Die meiste Zeit verbrachte sie in ihrem Büro oder bei internen Strategiesitzungen. In ein paar Tagen jedoch würde sie fast nur noch unterwegs sein. Ein Gedanke, der mir überhaupt nicht gefiel. Noch viel weniger gefiel mir die Vorstellung, sie würde sehr viele einflussreiche Männer kennenlernen und könnte der Anziehungskraft deren Geld und Macht erliegen. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass Geraldine sich noch nie etwas aus diesen Dingen gemacht hatte und sicher professionell genug war, immer die nötige Distanz zu wahren. Aber es wollte mir nicht gelingen.
„Ist das sicher?“, fragte ich irritiert.
„Ja, ist es. Es sei denn Parkers Büro verschickt neuerdings Scherzmails.“
Ich atmete tief durch. Eine ziemlich unangenehme Ãœberraschung. Chris, dem mein Schreck nicht verborgen geblieben war, wechselte abrupt das Thema.
„Was macht dein Buch?“
Genau die Frage, die ich in diesem Moment überhaupt nicht hören wollte. Ich zögerte mit meiner Antwort.
„Ganz ehrlich? Ich habe noch gar nicht damit angefangen.“
Chris sah mich verblüfft an.
„Du willst doch nur eine einfache Liebesgeschichte schreiben? Was ist daran so schwierig?“ „Das wollte ich zuerst auch“, erwiderte ich kleinlaut. „Dann habe ich darüber nachgedacht, was du über Bücher gesagt hast. Über die Möglichkeiten, die mir durch das Schreiben zur Verfügung stehen.“
„Und, wie hast du dich entschieden?“
„Zuerst hatte ich meine Zweifel, ob das der richtige Weg ist. Aber je länger ich mich damit beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass du Recht hattest. Nur das macht die Sache ziemlich kompliziert.“
Chris blieb stehen und schaute mich an.
„Du solltest damit anfangen, das weißt du. Besonders nach gestern!“
Er machte eine kurze Pause um nach Mable zu sehen, die schnüffelnd auf einer kleinen Wiese hin und her lief.
„Liebe kann man zwar nicht in Zeit messen, dennoch darfst du dir keine zwei Jahre Zeit damit lassen. Geraldine ist eine schöne Frau, die du nicht ewig warten lassen solltest.“
Ich sah seinem Blick ausweichend auf den Boden.
„Ich weiß. Aber was soll ich machen? Ich bin nicht du.“
„Was meinst du damit?“, unterbrach mich Chris.
„Ich habe deine Gedichte und Kurzgeschichten gelesen, die du für Irina geschrieben hast. Sie sind wunderschön und ich bin mir sicher, wenn sie diese hätte lesen können…“
Ich hielt es für klüger, diesen Satz nicht zu Ende zu bringen. Stattdessen kam ich auf das Schreiben zurück.
„Was ich mich immer gefragt habe, wie bist du auf diese Geschichten und Gedichte gekommen?“
„Das ist nicht weiter schwer. Stell dir einfach einen anderen Ort oder eine andere Zeit vor und übertrage das, was du sagen willst dorthin. Lass andere Personen erleben und beschreiben worauf es dir ankommt. Mit den Gedichten ist es noch einfacher. Gedichte kommen von Herzen. Sie sind Ausdruck eines Gefühls, einer Stimmung. Wenn du überlegen musst, was du schreiben willst, dann lass es besser sein. Sie wirken sonst künstlich und unecht. Mit einem Buch ist es bestimmt nicht anders. Du hast doch schon einige geschrieben. Wo liegt das Problem?“
Ich holte tief Luft.
„Alle meine vorherigen Bücher waren anders. Nicht besonders vielschichtig. Ich hatte auch nie den Anspruch großes zu schaffen. Wozu auch? Ich schrieb einfache spannende Spionagethriller. Das hier ist etwas ganz Anderes. Ich weiß nicht, wie ich das schreiben soll. Ein Buch, das gleichzeitig alles anspricht, was mir wichtig ist. Praktisch mehrere Themen in einer Handlung unterbringt.“
„Ich verstehe dich nicht ganz,“ entgegnete Chris verständnislos. „Gerade in einem Roman kannst du auf alles eingehen. Du bist frei die Geschichte so zu erzählen, dass du alle dir wichtigen Punkte unterbringen kannst. Das haben andere vor dir auch schon geschafft. In deinem Buch über mich musstest du doch auch über eine komplizierte Geschichte mit vielen Ebenen, Motiven und ständigen Widersprüchen schreiben.“
„Das ist nicht vergleichbar!“, erwiderte ich energisch. „Damals hangelte ich mich beim Schreiben an deinem Tagebuch und euren E-Mails entlang, kommentierte die Ereignisse und zeigte die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten auf. Dieses Buch ist am Ende mehr eine Chronik geworden und besonders gut finde ich es übrigens auch nicht. Für Geraldine will ich ein ganz besonderes Buch schreiben. Es soll ihr gefallen. Sich an ihre Gefühle richten und sie gleichzeitig zum Nachdenken anregen. Es darf sie aber keinesfalls verärgern, oder noch schlimmer, verletzen. Deshalb will ich manches nicht allzu deutlich ansprechen. Verstehst du?“ Gespannt auf seine Antwort schaute ich Chris an.
„Ich verstehe sehr gut was du meinst. Trotzdem wird es sich nicht vermeiden lassen, sonst läufst du Gefahr, dass es an den dir wichtigen Punkten unklar oder interpretativ wird und das nützt niemand. Du hast ein Ziel? Dann verfolge es. Schreib klar und deutlich, worum es dir geht. Man kann nicht über den Rasen gehen, ohne dabei auf Gras zu treten. Das muss dir klar sein.“
„Vielleicht sollte ich gerade deshalb doch nur eine einfache Liebesgeschichte schreiben, wie ich sie ursprünglich geplant hatte“, hielt ich dagegen.
„Glaubst du ernsthaft Geraldine würde eine platte Liebesgeschichte, wie es sie zu tausenden gibt, besser gefallen? Sicher nicht! Die würde eher ihren Verstand beleidigen und ihr gleichzeitig zeigen, dass du nichts gelernt hast. Du nach wie vor nicht an sie, sondern nur an dich denkst. Und noch ein kleiner Hinweis. Jemand, dessen Lieblingsbuch den Literatur Nobelpreis gewonnen hat, steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auf trivialen Plunder. Solche Menschen benutzen ihren Verstand und ziehen Anregungen aus dem, was sie lesen. Unterschätze Geraldine nicht, nur weil sie sich mit vielem schwer tut!“
Wir gingen schweigend ein paar Schritte weiter, bis ich das Thema fortsetzte.
„Möglicherweise ist meine Unfähigkeit ein solches Buch zu schreiben ein Zeichen dafür, dass die Sache mit Geraldine und mir endgültig vorbei ist und ich will es nur nicht wahrhaben. Das Beste wird sein, ich lasse es. Egal in welcher Form ich dieses Buch schreiben würde, es überfordert mich und ob es am Ende etwas bringen wird, ist mehr als fraglich. Wenn Geraldine noch etwas für mich empfinden würde, dann hätte sie sich in den letzten Wochen anders verhalten.“
Mir wurde in diesem Augenblick bewusst, dass ich innerlich auf dem besten Weg war zu resignieren. Fast schon begonnen hatte mich damit abzufinden, dass Geraldine nie wieder Teil meines Lebens sein würde.
„Das ist doch ausgemachter Blödsinn!“, widersprach Chris entschieden. „Du darfst jetzt nicht aufgeben. Wer aufgeben will, der hat bereits verloren. Ob es etwas bringt oder nicht, kann dir niemand sagen. Aber eines wird es Geraldine zeigen. Wie viele Gedanken du dir um sie gemacht hast und welche zentrale Rolle sie in deinem Leben spielt. Glaub mir, obwohl du versucht hast ihr auf deine seltsame Art vieles zu sagen, wird sie davon keine Ahnung haben. Wer würde sich die Mühe machen und 100.000 oder mehr Worte verwenden, nur um am Ende zu sagen: Ich liebe dich! Trotz all deiner Fehler, all deiner Macken. Die klare Botschaft senden, ich will mein Leben nur mit diesem einen Menschen verbringen. Kaum jemand. Die meisten würden heutzutage twittern, chatten, liken, eine WhatsApp oder SMS verschicken, im glücklicheren Fall vielleicht eine E-Mail schreiben. Hauptsache so kurz wie möglich. Wir reden doch kaum mehr miteinander. Und schreiben? Das tun wir schon lange nicht mehr. Auf die andere Person eingehen, über sie nachdenken, das haben wir aufgegeben. Den meisten von uns sind andere Menschen doch bestenfalls 10 Prozent so wichtig, wie sie vorgeben zu sein. Stattdessen jagen sie lieber dem nächsten, vermeintlich besseren Traum hinterher, um dann festzustellen, dass er nicht so gut ist wie erwartet und jagen weiter. Am Ende wird die Jagd zum Selbstzweck. Cicero hatte Recht mit dem was er zu Catilina sagte. Setz ein Zeichen dagegen, indem du dir diese Mühe machst! Lass Geraldine an deinen Gedanken teilhaben. Sprich zu ihr in einer Art und Weise, die sie nie zuvor erlebt hat!“
Langsam ging er ein paar Schritte weiter, bevor er wieder stehenblieb und sich in meine Richtung drehte, die untergehende Sonne in seinem Rücken.
„Wenn du das Buch nicht schreiben kannst, werde ich dir helfen es zu schreiben. Ich wollte schon immer ein Buch schreiben, aber ich hatte nie die Zeit oder die Gelegenheit dazu.“
Ich war vollkommen überrascht.
„Das würdest du tun? Warum?“
Ohne einen Moment zu zögern sagte Chris:
„Ihr habt es verdient. Eure Geschichte hat es verdient, vor allem aber eure Liebe.“
„Unsere Liebe?“
Chris schmunzelte hintergründig.
„So schlecht ich darin bin zu begreifen, wenn eine Frau mich liebt, so gut bin ich darin zu erkennen, wenn eine Frau X den Mann Y liebt.“
„Und was macht dich so verdammt sicher, dass Geraldine mich liebt?“
Chris schüttelte fast unmerklich den Kopf und lächelte.
„Die Dauer von über 20 Jahren? Die Panik in ihren Augen, als du plötzlich verschwunden warst? Die Art, wie sie von dir erzählt hat? Ihre Anweisung, dass ich mich in erste Linie um deinen Verbleib zu kümmern hatte, mit eindeutigem Bezug darauf, dass sie einen höheren Dienstrang hat? Die Reaktion als sie den Schal bekommen hat? Ihre vielen Versuche doch noch eine vernünftige Beziehung mit dir zu schaffen? Wie viele Gründe brauchst du?“
Die Müdigkeit in Chris Augen, die am Anfang des Spaziergangs deutlich zu sehen war, wich kurzzeitig einem Leuchten. In diesem Moment strahlte Chris eine Energie aus, die er gehabt haben muss, bevor ihn diese heimtückische Krankheit überfallen hatte. Aus heiterem Himmel fing Chris an schelmisch zu lachen.
„Was amüsiert dich so?“
„Die Tatsache, dass einer der erfolgreichsten Autoren von Spionagethrillern der letzten Jahre für seinen ersten Roman einen Ghostwriter braucht. Passt irgendwie zu der ganzen verdrehten Geschichte von dir und Geraldine.“
Mein Entsetzen über das Wort Ghostwriter muss deutlich in meinem Gesicht zu sehen gewesen sein.
„Keine Angst“, fuhr Chris lachend fort. „Ich werde aller Voraussicht nach nicht mehr lange genug leben, um jemand davon erzählen zu können. Mach dir also keine Sorgen. Obwohl, wenn es ein Erfolg wird könntest du ein Problem bekommen, falls dein Verlag möchte, dass du noch einen schreibst.“
Nach seinem letzten Satz grinste Chris frech vor sich hin. Die Aussicht, dass der Roman ein Erfolg werden könnte und ich dann möglicherweise einen zweiten schreiben müsste, amüsierte ihn köstlich. Gleichzeitig hatte mich dieser bissige Kommentar über seine verbleibende Zeit innerlich aufgebracht und ich versuchte mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen. Seit ich Chris persönlich kannte, hatte ich mich nie mit der Problematik seiner begrenzten Zeit auseinandergesetzt und ich war nicht bereit, mich jetzt durch eine derartige Äußerung dazu zwingen zu lassen.

   Mittlerweile war Mable von ihrem ausgedehnten Ausflug durch die umstehenden Hecken und Büsche wieder zu uns zurückgekehrt, hatte sich vor Chris gesetzt und mit erhobener Pfote angezeigt, dass sie gerne eine Leckerei hätte. Chris griff in den Futterbeutel, den er an einer Gürtelschlaufe seiner Hose befestigt stets bei sich führte und gab Mable einen Hundekeks.
„Was weißt du eigentlich über uns und unsere Geschichte?“, versuchte ich von seiner Bemerkung abzulenken.
„Wir sollten weitergehen, es wird langsam dunkel und ich habe Mables Leuchthalsband nicht dabei“, erwiderte Chris, bevor er meine Frage beantwortete. „Geraldine hat mir im Sommer sehr vieles über euch erzählt, doch ich würde mir gerne deine Version ebenfalls anhören, bevor ich mir Gedanken mache, wie ich das Buch aufbauen könnte. Man muss beide Seiten kennen, um sich ein Bild machen zu können und selbst dann ist es oft schwierig, weil vieles nicht gesagt wird. Menschen erzählen nie die volle Wahrheit. Irgendetwas, das ihnen unangenehm oder peinlich ist lassen sie immer weg. Nur wenn man sehr genau hinsieht und zuhört, kann man wirklich alles entdecken. Aber laß uns nicht heute darüber sprechen. Ich bin zu müde und nicht aufnahmefähig genug.“
Das Gefühl, das ich zu Beginn unseres Spaziergangs hatte, bestätigte sich nun. Chris ging es heute nicht besonders gut. Sandras Sorgen, Chris würde seine Grenzen nicht kennen und übertreiben, wenn sie ihn nicht ständig einbremste, schienen wohl doch berechtigter, als ich noch gestern Abend angenommen hatte. Wir gingen die Runde, die Chris heute sichtlich anzustrengen schien, noch zu Ende und verabredeten uns, um in Ruhe über die Details des Buchs zu sprechen, für morgen Abend um 19 Uhr zum Abendessen bei mir. Chris war es an diesem Nachmittag gelungen mich mit seinem Versprechen, das Buch für Geraldine zu schreiben, aus einer beginnenden Depression zu holen. Ich hatte wieder Mut gefasst und setzte alle meine Hoffnungen in dieses Buch. Gleichzeitig war eine aberwitzige Situation entstanden. Chris wollte für mich das Buch schreiben, mit dessen Hilfe ich Geraldine für mich gewinnen wollte. In gewisser Form eine verkehrte Welt.

   Mehrere fast leere Flaschen in meiner Bar ermahnten mich rechtzeitig vor Weihnachten Ersatz zu beschaffen. Ich blätterte in der letzten, 2012 erschienen Ausgabe von „Malt Whisky“ des leider verstorbenen Autor Michael Jackson hin und her, um mir ein paar Anregungen abseits meiner Standard-Whiskys zu holen. Nebenbei beobachtete ich von meinem Sofa aus meinen Nachbarn beim Anbringen der Weihnachtsbeleuchtung. Unter der strengen Aufsicht seiner Frau, die für sich betrachtet eine sehr nette Dame ist, versuchte er auf der Leiter balancierend ihre Wünsche umzusetzen. Ich legte mein Buch für ein paar Minuten zur Seite und verfolgte amüsiert, wie er verschiedene Lichterketten zuerst anbrachte, um sie dann auf Wunsch seiner Frau wieder abzunehmen und an anderer Stelle erneut aufzuhängen. Nach fast 2 Stunden war die Dekoration aus der Sicht seiner Frau schließlich wohl perfekt und er durfte zurück in das warme Wohnzimmer. Unterdessen hatte ich die Auswahl für meine Bestellung getroffen. Zusätzlich zu den Whiskys, die ich üblicherweise trank, bestellte ich diesmal noch eine Flasche Macallan Sienna Sherry Casks Matured, einen Talisker 57° North, sowie einen Caol Ila Distillers Edition 2003 und einen Craigellachie 17 Jahre. Whiskys, von denen ich hoffte, dass sie Chris ebenfalls schmecken würden.

   Sehr verspätet, weit nach halb acht, traf Chris bei mir ein. Er sah noch müder aus als gestern und trug, obwohl es draußen nicht kalt war, unter seiner Winterjacke 2 Pullover übereinander. Bedingt durch seine beträchtliche Verspätung hatte ich bereits gegessen. Ich bot Chris an, das Essen für ihn wieder warm machen zu können, was Chris mit dem Hinweis, dass er keinen Hunger hätte, dankend verneinte. Zu meiner Verwunderung lehnte Chris auch das Glas Wein ab, welches ich ihm angeboten hatte und bat mich stattdessen um ein Glas Saft. Wir nahmen auf dem Sofa in meinem Wohnzimmer Platz. Mable, die heute sehr ruhig und entspannt war, legte sich direkt neben Chris Füße auf den Teppich und schlief gleich darauf ein. Ich fragte Chris, was er über die Geschichte von Geraldine und mir alles wissen wollte.
„Am besten du erzählst von Anfang an. Wie ihr euch kennengelernt habt, wie es zu eurer ersten Beziehung kam. Ist das überhaupt das richtige Wort für euer Verhältnis? Bis hin zu dem, was im letzten Jahr wirklich passiert ist. Sonst kann ich mir kein Bild machen.“
Chris lehnte sich in eine Ecke des Sofas zurück. Ich hatte den Eindruck, dass er mit seiner Müdigkeit zu kämpfen hatte und ihm augenscheinlich, so wie er seine Arme vor seiner Brust verschränkte und sich fast zusammen kauerte, sehr kalt sein musste.
„Ich kann den Kamin anmachen, wenn dir kalt ist.“
„Musst du nicht. Mir ist nur ein wenig frisch. Kein Grund zur Sorge. Statt dir unnütze Gedanken zu machen, solltest du lieber anfangen zu erzählen.“
Das war gar nicht so einfach, wie Chris sich das vorstellte. Ich konnte mich zwar noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem ich Geraldine zum ersten Mal gesehen hatte, ebenso an unsere erste gemeinsame Nacht und manches andere. Vieles Unangenehmes hingegen hatte ich versucht aus meinem Gedächtnis zu löschen, oder es zumindest erfolgreich immer wieder verdrängt. Zum Beispiel Geraldines manchmal unberechenbare Launenhaftigkeit, die Art wie sie mit ihrer Gesundheit umging oder ihre oft patzigen Antworten auf ganz normale Fragen und einiges mehr. Während ich noch überlegte, wie ich am besten anfangen sollte, registrierte ich, dass Chris ganz leicht zu Zittern angefangen hatte.
„Geht es dir wirklich gut? Wir können das auch verschieben, wenn es dir heute schlecht geht.“ „Ich sagte doch, es geht mir gut!“
Chris war jetzt leicht gereizt.
„Fang endlich an! Wir haben nicht ewig Zeit dieses Buch zu schreiben.“
Diese an und für sich normale Redewendung klang aus Chris Mund beklemmend. Die erneute, mir unangenehme Erinnerung, dass seine Zeit, nicht nur für dieses Buch begrenzt war. Ich trank einen Schluck Wein, zündete mir eine Zigarette an und fing an zu erzählen. Von dem Einsatz, bei dem ich Geraldine kennengelernt hatte. Von unserer ersten gemeinsamen Nacht am 2. August 1992 und von unserem ersten handfesten Streit, weil ich über drei Stunden zu einer Verabredung zu spät gekommen war, bis zu jener Katastrophe in deren Anschluss Geraldine ihren Zusammenbruch erlitten hatte. Ich erwähnte auch die Vorkommnisse bei dieser Gartenparty und die Sache mit den Büchern. Beides Ereignisse, die mich bis heute maßlos ärgerten. Bei diesen letzten Episoden hatte ich das Gefühl, dass Chris noch aufmerksamer als sonst zugehört hatte. Lange verloren geglaubte Erinnerungen kamen hoch und manchmal hatte ich das Gefühl, als sei alles erst gestern passiert. Ohne mich zu unterbrechen hatte Chris mir lange zugehört, bis er seine erste Frage stellte.
„Wie hat Geraldine eigentlich darauf reagiert, als dein erstes Buch zu einem überwältigenden Erfolg geworden war und du plötzlich sehr viel Geld verdient hast?“
„Gute Frage. Kann ich dir leider nicht eindeutig beantworten. Dazu waren Geraldines Reaktionen zu diffus. Auf der einen Seite freute sie sich für mich, auf der anderen Seite reagierte sie oft merkwürdig.“
„Was meinst du mit merkwürdig?“, hakte Chris nach.
„Nicht vorhersehbar. Irgendwie unlogisch. Es war keine klare Linie zu erkennen.“
„Wart ihr zu diesem Zeitpunkt zusammen, oder nur Freunde?“
„Nur Freunde. Warum?“
Damit ich es besser einordnen kann.“, erklärte Chris ohne weitere Begründung. „Könntest du mir ein Beispiel nennen?“
Ich musste kurz nachdenken, um ein geeignetes Beispiel zu finden.
„Mein erstes Buch war ein paar Monate auf dem Markt, als ich Geraldine eines Abends in eines dieser noblen Restaurants zum Essen einlud. Sie hat sich über diese Einladung sehr gefreut und es war ein wunderschöner Abend. Ein paar Tage später wollte ich sie wieder zum Essen ausführen, doch ich bekam zur Antwort: Darauf lege ich keinen Wert. Ich such mir meine Männer nicht danach aus wie viel Geld sie haben. Ich kann alleine für mich Sorgen.“
„Und dann bist du nicht mehr mit ihr Essen gegangen?“
„Doch, natürlich. Aber seit dieser Bemerkung habe ich sie nie wieder eingeladen. Ich bestehe auf getrennten Rechnungen.“
Chris rieb sich mit seiner Hand über seine Augen und ich war mir nicht sicher, ob das lediglich seiner Müdigkeit geschuldet war, oder ob es seine Reaktion auf meine Aussage war
„Hast du nie versucht mit Geraldine über euch zu reden?“, stellte mir Chris eine sehr direkte Frage.
„Doch schon. Naja, ab und zu“, druckste ich zunächst herum. „Ich habe es aufgegeben, als sie mir in ziemlich gereiztem Ton: Am besten du suchst dir eine Junge, so Anfang 20, die vom Leben keine Ahnung hat, an den Kopf geworfen hatte.“
„Und das hast du im Anschluss dann auch getan?“
Nein, nicht immer, eher ab und zu. Der Großteil meiner Bekanntschaften war Mitte 30. Aber das sind Zeitbomben, deren Zünder nicht entschärft werden können. Deshalb wurden sie im Laufe der Zeit immer jünger“
Während Chris über meine Bemerkung still vor sich hin schmunzelte, wurde ich nachdenklich und erinnerte mich daran, wie ich letztes Jahr um diese Zeit über Beziehungen und Liebe gedacht hatte.
„Weißt du, was ich gedacht habe, als ich bei meinem zweiten Besuch in deiner Wohnung immer noch die Sachen von Irina im Bad vorgefunden hatte?“
„Besuch ist gut. Einbruch kommt der Sache erheblich näher“, stellte Chris scherzend fest.
Ich überging Chris Anspielung auf die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen meiner Besuche.
„Ich habe mich gefragt, warum du ihre Sachen nicht weggeworfen, oder noch besser, ihr einfach hinterher geschickt hast? So wie ich es früher immer gemacht hatte, bevor ich es nicht mehr zuließ, dass meine Freundinnen“, ich hielt bei diesem Wort kurz inne, weil es dem Status dieser Frauen nicht wirklich gerecht wurde, „nur die kleinste Kleinigkeit in meinem Bad zurücklassen durften. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, warum du diese Sachen nie weggeworfen hast.“
Chris, der immer noch in der Ecke des Sofas lehnte, richtete sich langsam auf.
„Du wirst es nicht glauben, ihre Sachen stehen immer noch da. Ich habe sie weder weggeworfen, noch sie ihr hinter hergeschickt. Sie stehen einfach da. Aber wir kommen vom Thema ab. Hier geht es um dich und Geraldine und nicht um mich und Irina.“
Obwohl es meinen Eindruck der vergangenen Tage bestärkte und mich deshalb wenig verwundern sollte, traute ich meinen Ohren nicht. Chris hatte Irinas Sachen bis zum heutigen Tag in seinem Bad stehen lassen. Ich schüttelte innerlich den Kopf und holte tief Luft.
„Du hast Recht. Es geht nicht um dich.“
Offensichtlich zufrieden lehnte sich Chris wieder zurück in die Ecke.
„Erzähl weiter, was gab es noch, von dem ich wissen sollte?“
„Einiges“, antwortete ich und erzählte Chris von den diversen Beziehungsversuchen, die nach meiner Ansicht stets daran gescheitert waren, dass Geraldine beharrlich nur eine bedingte Nähe zuließ und sich je nach Stimmung soweit von mir abkapseln konnte, bis keine vernünftige Kommunikation mehr mit ihr möglich war, mir dann aber Vorwürfe machte, wenn ich mich daraufhin zurückzog.
„Geraldine kann dann eine erschreckende Oberflächlichkeit an den Tag legen, ohne es aber wirklich zu sein. Es ist eine Art Show, deren Sinn mir nie ganz klar wurde.“
„Hast du dich nie gefragt, woher das kam oder was dieses Verhalten auslöste?
„Hin und wieder schon. Aber ich konnte mir nie wirklich einen Reim darauf machen. Geraldine reagierte jedes Mal anders. Als sie nach ihrem Zusammenbruch in Behandlung war wurde es eine Zeitlang besser, bis sie die Behandlung abbrach und nur noch Tabletten schluckte. Irgendwann kurz nach dem Ende unseres letzten Versuchs vor zwei Jahren hatte ich keine Lust mehr ihre Launen mitzumachen und ich ging endgültig auf Distanz. Freundschaft ja, Beziehung nein. Vor allem aber keine Unfälle mehr.“
Was für Unfälle?“, stoppte Chris meine Erklärung.
„Mit Unfällen meine ich Sex“, stellte ich meine umschreibende Wortwahl klar. „So schön er mit Geraldine ist, er führt zu nichts.“
Ich zündete mir wieder eine Zigarette an. Chris hatte an diesem Abend noch nicht geraucht. Ein weiteres Indiz dafür, dass es Chris schlechter gehen musste, als er zugab.
„Von wem ging bei diesen Unfällen die Initiative aus?“, erkundigte sich Chris, der über meine Wortwahl erheitert zu sein schien. „Ich nehme an von dir?“
„Das ist schwer zu sagen“, erwiderte ich nachdenklich. „Du kennst doch solche Situationen. Oft kann man es einfach nicht sagen. Generell würde ich sagen von uns beiden gleich oft.“ Derweil war Mable, die die ganze Zeit direkt neben dem Sofa geschlafen hatte, aufgewacht und forderte unablässig ihre vordere linke Pfote hebend Aufmerksamkeit von Chris. Er beugte sich leicht nach vorne und fing an Mable über den Kopf zu streicheln.
„War das alles, was du wissen wolltest?“
Ohne seine Aufmerksamkeit von Mable abzuwenden, verneinte Chris meine Frage.
„Wie gut kennst du Geraldine eigentlich?“
„Nach über 20 Jahren würde ich sagen sehr gut. Warum?“
Chris sah mich direkt an.
„Weil ich glaube, dass du einiges über sie nicht weißt.“
Wie kommst du darauf?“, fragte ich erstaunt.
„Ganz einfach, entweder du hast dir 20 Jahre kaum Gedanken über Geraldine gemacht. Oder Geraldine hat dir ein paar wesentliche Dinge über sich nie erzählt. Sonst hättest du wenigstens eine Vermutung geäußert, warum Geraldine oft so schwierig war.“
Ein nicht unberechtigter Einwand. Bislang hatte ich Geraldines Verhalten nie groß hinterfragt, sondern es in der Regel der allgemeinen weiblichen Launenhaftigkeit, später ihrer Belastungsstörung, beziehungsweise ihren Spätfolgen, zugeschrieben.
„Ich formuliere meine Frage anders“, fuhr Chris fort. „Was weißt du über Geraldines Familie?“ „Nicht viel. Sie hat mir zwar hin und wieder von ihrer Mutter und Schwester erzählt, aber über alles andere weiß ich so gut wie nichts. Ich weiß nur, dass ihr Vater hier als Soldat stationiert war. Irgendwann ihre Mutter kennengelernt hatte und dass er etwa zwei Jahre nach der Geburt ihrer Schwester die Familie verlassen hat und wieder zurückgegangen war. Über das, was damals genau passierte redet Geraldine nicht. Jedenfalls nicht mit mir. Im Anschluss an die Trennung hat sie ein paar Jahre mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in Paris gelebt, bevor sie Anfang der 80er wieder zurückkam. Mehr weiß ich nicht.“
Chris sah mich nachdenklich an.
„Gibt es noch etwas, was du mir vielleicht sagen solltest?“
„Wieso?“, entgegnete ich überrascht.
„Weil ich das Gefühl habe, dass du mir etwas verschweigst“, erwiderte Chris ganz ruhig. „Wenn ich ehrlich sein soll“, fuhr ich nach einer kurzen Pause fort, „gibt es noch etwas. Ich habe Geraldine auch nie wirklich an mich herangelassen, ihr hundertprozentig vertraut. Obwohl ich immer dachte, ich tue das. Irgendwie gab es eine Art inneren Sicherheitsabstand. Möglicherweise war das der Tatsache geschuldet, dass ich mir nie sicher war an welcher Stelle ich in ihrem Leben stand. Sicher, sie hat oft gesagt wie wichtig ich ihr sei, aber so verhalten hat sie sich nie. Eher im Gegenteil. Meistens gab sie mir das Gefühl nur einer unter vielen zu sein.“
„War das nur während eurer Beziehungen so, oder auch wenn ihr nur Freunde gewesen seid?“ wollte Chris wissen.
Ich hielt einen Augenblick inne und dachte über Chris Frage nach.
„Eigentlich immer nur dann, wenn wir eine Beziehung, oder wie man das auch immer nennen möchte hatten. Warum?“
„Nur so, ist nicht wichtig.“
Ich war etwas erstaunt, dass Chris mir eine präzise Frage gestellt hatte, meine Antwort auf diese aber als unwichtig einstufte.
„Was fällt dir noch zu Geraldine ein? Das kann noch nicht alles gewesen sein, oder?“
Die Art und Weise wie mich Chris befragte erinnerte mich mehr und mehr an ein Verhör vor Gericht. Dabei war Chris der Staatsanwalt und ich, je nach Art der Frage, entweder Zeuge oder Angeklagter.
„Im Großen und Ganzen schon“, antwortete ich. „Obwohl, da gibt es noch etwas, dem ich bis vor ein paar Wochen keine Beachtung geschenkt hatte.“
Chris beobachtete mich aufmerksam.
„Geraldine hat einen Traum.“, fuhr ich fort. „Sie erwähnte ihn einmal, als sie angetrunken war. Ich hatte ihr Gerede damals deshalb nicht ernst genommen. Sie nannte ihn ihren persönlichen Prinzessinnentraum, indem sie von einer perfekten Liebe in einer perfekten Beziehung mit dem perfekten Mann träumt. Einem Mann, der alles für sie tut. Der ihr nicht nur jeden Wunsch von ihren Augen abliest, sondern nur für sie und ihre Liebe lebt. In dessen Leben sie den Mittelpunkt bildet und der immer an ihrer Seite steht.“
Chris schaute mich zunächst entgeistert an, dann lächelte er und schüttelte dabei leicht sein Kopf.
„Das passt aber eher zu einer sechzehn-jährigen, als zu einer erwachsenen Frau“, konstatierte er sachlich. „Geraldine ist sich bestimmt darüber im Klaren, dass dieser Traum irreal ist und bleiben wird. Sie ist eine kluge Frau. Sie weiß, dass es weder einen perfekten Partner, noch eine perfekte Partnerschaft gibt. In jeder Partnerschaft muss man Kompromisse eingehen, sich Problemen stellen und sie gemeinsam lösen. Das wichtigste in einer Partnerschaft ist, dass man den anderen liebt. Da stimme ich Geraldine zu. Der ganze andere Rest findet sich. In guten, wie in schlechten Zeiten, wie es so schön heißt.“
Chris lehnte sich wieder zurück und schien sehr nachdenklich über das eben von mir geschilderte zu sein. Ohne mir eine weitere Frage zu diesem Thema zu stellen, sagte er nach einer Weile:
„Wie wäre es du erzählst mir noch, was letztes Jahr alles passiert ist? Deshalb sitzen wir doch hier.“
„Ohne das letzte Jahr wäre mir sicher nicht bewusst geworden, was ich wirklich für Geraldine empfinde und wahrscheinlich hätte ich es ihr auch nie, verunglückt oder nicht, gesagt.“
Ich schenkte mir noch ein Glas Wein ein und nahm einem großen Schluck.
„Im Grunde begann alles an meinem Geburtstag letztes Jahr. Geraldine hatte mir dieses Buch geschenkt. An diesem Abend, wurde ich Zeuge eines Streites zwischen Maria, meiner damaligen Freundin, und Geraldine. Später im Bett dachte ich über diesen Streit nach und stellte fest, dass ich es nicht mochte, wenn Geraldine, in welcher Form auch immer, angegriffen wurde. Niemand hatte in meinen Augen das Recht, sie so zu attackieren und schon gar nicht Maria. Obwohl sie meine Freundin war. Erst Monate danach wurde mir klar, was diese Reaktion wirklich zu bedeuten hatte, genauso wie der Grund, warum ich mich wirklich von Maria getrennt hatte. Im Gegensatz zu Maria, die das sofort erkannt hatte.“
„Ja, Frauen bemerken so etwas immer schnell.“, bestätigte Chris.
„Weißt du wann ich es hätte merken müssen?“
„Nein, woher auch?“
„An dem Tag, an dem ich wie ein verliebter Teenager zu Geraldines Wohnung fuhr, weil ich sie tagelang nicht erreichen konnte. Ich wusste ja nicht, dass sie im Krankenhaus war. Damals war ich fest davon überzeugt, ich mache mir Sorgen um einen Freund. Dass viel mehr dahinter steckte, habe ich auch erst Monate später begriffen.“
Chris grinste bei einer Erklärung vergnügt vor sich hin.
„Lach du nur. Was hättest du denn an meiner Stelle getan?“
„Keine Frage, das gleiche.“, erwiderte Chris ruhig. „Aber jetzt erzähl weiter. Was geschah dann?“
„Nachdem ich tiefer in deine Geschichte eingetaucht war brauchte ich, um gewisse Vorgänge zu verstehen, die Hilfe einer Frau. Geraldine half mir bei vielem. Wobei ich mich immer mehr zu fragen anfing, warum sie so eindeutig Position für Irina bezog und wir darüber oft in Streit geraten waren. Ich verstand lange nicht, dass sie gewisse Ähnlichkeiten, ob vorhanden oder nicht, zwischen sich und Irina sah. Mir ist jetzt nach einem Whisky. Möchtest du auch einen?“
„Heute nicht, danke“, lehnte Chris mein Angebot ab. Dabei lächelte er erneut ganz leicht vor sich hin, als würde er sich wieder über irgendetwas amüsieren. Trotz dieser augenblicklichen Gelöstheit vervollständigte die Ablehnung des Whiskys den Eindruck, den ich heute von Chris hatte. Ihm ging es nicht gut, was er aber unter keinen Umständen zugeben wollte. Ich ging, gefolgt von Mable, die der Ansicht war ihr könnte etwas entgehen, zu meiner Bar und holte mir ein Glas Whisky. Mit einer enttäuschten Mable im Schlepp, kehrte ich wieder auf das Sofa zurück und erzählte weiter.
„Die Rossioglossum Grande, die du so bewundert hast, war ein Geburtstagsgeschenk für Geraldine, wie ich bereits erwähnt hatte. Ich habe sie ihr nie gegeben, weil ich mich an diesem Tag sehr über sie geärgert hatte. Ich hatte für ihren Geburtstag einen Plan für uns gemacht und wollte sie überraschen. Doch sie ließ mich mit einer fadenscheinigen Ausrede wissen, dass sie an diesem Tag keine Zeit für mich hatte.“
Bei diesem Satz konnte ich die fortwährende Enttäuschung über den Verlauf dieses Tages in mir spüren. Sie war Monate danach immer noch nicht ganz verschwunden. Dann berichtete ich Chris noch von Emma und diesem Abend, an dem ich feststellte, dass Emma in vielerlei Hinsicht nur eine jugendliche Kopie von Geraldine war. Schließlich von jenem Ereignis, dass letztlich dazu geführt hatte, dass ich Geraldine diese Liebeserklärung machte.
„Eines Tages, beim Durchsehen meiner Notizen über deine Geschichte fiel mir ein Datum ins Auge. September 1986. Damals hatte ich mich sehr in ein Mädchen verliebt. Aus Gründen, die heute nicht mehr wichtig sind, verließ ich sie, ohne mich zu verabschieden. Als ich unerwartet wieder hierher zurückkehrte hatte sie einen neuen Freund und das hat mich sehr viel mehr mitgenommen, als ich jemals zugeben wollte. Ein paar Jahre beobachtete ich ihr Leben aus der Ferne, bis ich sie schließlich aus den Augen verlor und vergaß. Oder besser verdrängt hatte. Vielleicht auch, weil Geraldine in der Zwischenzeit in meinem Leben eine immer größere Rolle spielte. Hätte die Geschichte mit dir und Irina nicht auch im September 1986 ihren Anfang genommen, hätte ich mich wahrscheinlich nicht mehr in dieser Form an dieses Mädchen und meine Gefühle für sie erinnert. Wie du weißt, bat ich einen Freund herauszufinden, was aus ihr geworden war. Zu meinem Entsetzen klärte er mich darüber auf, dass sie vor ein paar Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Mir wurde klar, dass es Dinge gibt, die man nicht auf die lange Bank schieben sollte. Eines Tages war es dafür zu spät und es endet unausgesprochen in Reihe 16 Nummer 246. Unter diesem Eindruck und auch unter dem, was zwischen euch geschehen war, musste ich Geraldine sagen, was ich für sie empfinde. Bevor es auch bei ihr eines Tages zu spät sein würde. Den Rest kennst du.“
Chris, der sich ruhig und konzentriert alles angehört hatte blickte mich ungläubig an.
„Jetzt wird mir einiges klarer. Unsere Geschichten ähneln sich. Im Grunde laufen sie ein Stück sogar fast parallel. Das hätte ich nicht gedacht.“
„Glaubst du ich hätte das gedacht, als ich anfing mich für dich und dein Leben zu interessieren? Die Idee, ein Buch über dich zu schreiben hat mein Leben vollkommen verändert, es auf den Kopf gestellt. Bis Juni war alles einfach. Die meiste Zeit hatte ich junge, hübsche, problemlose Freundinnen, die ich alle 3 bis 6 Monate austauschte, bevor es mir zu eng wurde. Kein Stress, keine Gefühle und dann tauchtest du mit dieser nahezu unglaublichen Geschichte auf. Versteh mich nicht falsch. Das ist kein Vorwurf. Im Gegenteil. Ich bin dir heute dafür dankbar, auch wenn ich Geraldine sehr vermisse und zurzeit jeder Gedanke an sie ein Messerstich in mein Herz ist. Verstehst du was ich meine?“
„Ja, sehr gut sogar“, stimmte Chris zu. „Viel besser, als du dir vorstellen kannst.“
Er beugte sich leicht nach vorne um nach Mable zu sehen, die sich wieder schlafen gelegt hatte.
„Ihr seid in einem Teufelskreislauf von Missverständnissen, überzogenen Erwartungen, gefühlten Kränkungen und vor allem Sprachlosigkeit gefangen, der nur schwer durchbrochen werden kann. Dennoch muss einer den Mut haben damit anzufangen. Wenn es Geraldine nicht kann oder will, musst du es tun. Oder wollt ihr euch in zehn Jahren fragen müssen, was wäre gewesen wenn? Was wäre wenn, sind die einsamsten Worte der Welt. Liebe und Mut gehören zusammen. Hast du das eine nicht, verdienst du das andere nicht. Hast du „Lovestory“ gesehen?“
Der Sinn seiner letzten Frage erschloss sich mir nicht auf Anhieb. Was hatte dieser Film mit Geraldine und mir zu tun?
„Ja, natürlich. Warum fragst du?“
„Hast du ihn nur gesehen oder ihn auch verstanden?“, hakte Chris nach. „Was sind die Kernaussagen dieses Films?“
„Plural?“
„Ja, Plural“, bestätigte Chris.
„Liebe heißt niemals um Verzeihung bitten zu müssen. Das weiß doch jeder, der den Film gesehen hat“, stellte ich fest.
„Das ist nur eine. Die Offensichtliche. Es geht auch um Mut. Mut für seine Liebe zu kämpfen. Gegen alle Widrigkeiten und Bequemlichkeiten. Oliver lehnt sich mit der Heirat nicht nur gegen seinen Vater auf und verzichtet bis zu Jennys Erkrankung auf dessen Geld, sondern er übernimmt auch Verantwortung für Jenny und ihr Leben. Wenn du begriffen hast, was Liebe wirklich bedeutet, nämlich mehr als kuschlige Abende, endloser Sex, romantische Stunden oder die Erfüllung pubertärer Träume, dann schreibe ich dieses Buch für dich. Sonst sollte ich es besser lassen. Liebe hat nichts mit Egoismus zu tun! Sie ist das genaue Gegenteil und daran scheitert sie oft.“
Chris hatte seinen Standpunkt so deutlich gemacht, dass keine Fragen offenblieben. Er wollte eine eindeutige Entscheidung von mir. Kein Notausgang, keine Ausreden, kein herum lavieren. Ich ging einen Augenblick in mich, bevor ich antwortete.
„Ich will für Geraldine da sein. Mit ihr leben und gemeinsam mit ihr eine Zukunft aufbauen. Egal welche Hindernisse dabei im Weg stehen und ausgeräumt werden müssen. Ich bin mir absolut sicher. Du hast einmal geschrieben, wenn es den Preis wert ist, ist es immer auch den Kampf wert. Ich werde alles tun, was notwendig ist und sollte es nötig sein auch mehr.“
Chris lehnte sich zufrieden wieder in die Ecke meines Sofas zurück.
„Wenn das deine Überzeugung ist und nicht nur ein leeres Versprechen, schreibe ich das Buch. Aber nicht nur für dich. Nur vergiss bitte nicht, es hängt nicht nur von diesem Buch ab, sondern vor allem davon, was im Anschluss daraus macht wird.“
Die Zeiger der Wanduhr meines Wohnzimmers hatten sich 23 Uhr genähert. Ich gelangte zu der Einsicht, dass Chris, dem in den letzten Minuten beinahe die Augen zu gefallen waren, besser nach Hause gehen sollte. Nur war ich mir nicht sicher wie Chris, der zu Beginn des Abends schon patzig auf meine Sorge um ihn reagiert hatte, sich verhalten würde, wenn ich ihn mit Hinweis auf seine Müdigkeit bitten würde nach Hause zu gehen. An meiner Geburtstagsfeier hatte ihn Sandra, ohne dass Chris widersprochen hatte, rechtzeitig nach Hause gebracht. Aber ich war nicht Sandra, hatte nicht ihren Einfluss auf ihn. Die beste Lösung erschien mir, Chris zu sagen, dass ich müde geworden war. Mich die Erinnerungen an Geraldine angestrengt hatten und ich jetzt alleine sein wollte. Wie erhofft nahm Chris meine freundlich formulierte Bitte verständnisvoll auf. Er versprach mir bis morgen Abend über einen Plot nachzudenken und wir verabredeten uns für den folgenden Abend erneut. Am nächsten Nachmittag erhielt ich von Chris unerwartet eine SMS. Er entschuldigte sich ohne weitere Begründung für den heutigen Abend und bat mich, unseren Termin auf den kommenden Abend um 19:30 zu verschieben. Höchstwahrscheinlich hatte sich Chris mit der Vorstellung, sich einen Plot für das Buch binnen eines Tages auszudenken doch etwas vertan und er benötigte mehr Zeit.