Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 4 – Ostereier im Advent

   In meiner Garage warteten seit meinem Geburtstag die neuen Räder meines Mustangs auf ihre Montage. Natürlich wäre es einfacher und bequemer gewesen, die Räder in einer Werkstatt montieren zu lassen. Ich wollte den Mustang dafür aber nur ungern in eine beliebige Werkstatt geben. Ausgerüstet mit Hubwagenheber, Radkreuz und Drehmomentschlüssel machte ich mich an die Arbeit. Beim Lösen der ersten Radmutter musste ich an Geraldines Kommentar nach ihrer ersten und einzigen Fahrt mit dem Mustang denken. Als unfahrbares Biest hatte sie den Wagen damals bezeichnet und mochte ihn seitdem nicht mehr besonders. Nicht einmal mehr als Beifahrerin. Ich löste die anderen drei Schrauben des Rades, nahm es herunter und schob das neue auf die Stehbolzen. Mit dem vorgeschriebenen Drehmoment zog ich die Muttern fest und ließ den Wagen ab. Ein Riesenunterschied. Chris hatte Recht gehabt. Diese Felgen gehörten einfach zu diesem Wagen. Zufrieden machte ich mich an die anderen drei Räder. Eine dreiviertel Stunde später war ich fertig und betrachtete stolz den Mustang. Nun sah er wirklich aus wie jener, den Steve McQueen immer am Limit quer durch San Francisco getrieben hatte. Nachdem ich das Werkzeug aufgeräumt und die Garage saubergemacht hatte, fiel mein Blick beim Schließen des Garagentors auf die beiden noch leeren Plätze. Noch waren die Preise für C2 Corvettes nicht so in die Höhe geschossen, wie bei anderen Sportwagen der sechziger Jahre. Sie bewegten sich, je nach Farbe und Ausstattung, bei gutem Zustand des Wagens zwischen 70 und 100.000 Dollar. Ich ging in die Küche und setzte frischen Kaffee auf. Vielleicht war es der letzte gute Zeitpunkt eine zu kaufen, bevor die Preise ähnlich explodierten, wie bei anderen Oldtimern. Mit der Kaffeetasse in der Hand ging ich in meiner Küche auf und ab. Abgesehen davon zufällig bei einem Händler über eine 63er zu stolpern, gab es relativ wenige Chancen eine in gutem Zustand zu finden. Außer vielleicht in Scottsdale. Anfang Januar findet dort die weltweit größte Oldtimer Auktion statt und ich war überzeugt, dass ich dort eine finden konnte. Ich nahm meinen Laptop und informierte mich über den genauen Termin der Veranstaltung. Sie fand vom 12. bis zum 19. Januar statt, also in knapp 6 Wochen. Kurzentschlossen buchte ich ein Flugticket nach Phoenix, reservierte eines der letzten noch freien Hotelzimmer und registrierte mich bei Barrett-Jackson, dem größten Auktionshaus dieser Veranstaltung als Bieter. Meine Vorfreude auf diese in der Welt einzigartige Veranstaltung wich jedoch umgehend dem schlechten Gewissen, Chris mit dem Schreiben des Buches hier alleine lassen zu müssen. Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass Chris, der seit vorgestern die ganze Geschichte von Geraldine und mir kannte, meine Hilfe ohnehin nicht brauchen würde und vielleicht sogar froh darüber war, ein paar Tage in Ruhe schreiben zu können.

   Wesentlich pünktlicher als am Dienstagabend stand Chris heute, wie verabredet kurz nach 19:30 Uhr, vor meiner Türe. Mein erster Eindruck war, dass es ihm heute im Vergleich zum Anfang der Woche wieder besser ging. Die dunklen Ringe unter seinen Augen waren deutlich schwächer und er wirkte bei weitem nicht mehr so müde, wie in den vergangenen Tagen. Noch bevor Chris seine Jacke an der Garderobe aufgehängt hatte, war Mable in meine Küche gesaust und inspizierte den Fußboden, in der Hoffnung etwas für sie interessantes zu finden. Wir gingen durch den Flur in das Wohnzimmer und nahmen in den Sesseln vor dem Kamin Platz, während Mable, die enttäuscht aus der Küche zurückgekehrt war, es sich auf dem Wohnzimmerteppich gemütlich machte. Unter dem Eindruck von vorgestern Abend hatte ich zur Sicherheit den Kamin angemacht, in dem nun ein angenehm wärmendes Feuer loderte. Wir hatten kaum Platz genommen, als Chris eine Schachtel Zigarillos aus seiner Tasche hervorholte und sich eines anzündete. Er rauchte wieder. Ein gutes Zeichen dachte ich. Um nicht gleich mit dem Thema Buch und damit verbunden auch über Geraldine reden zu müssen, berichtete ich Chris zuerst von meiner Whisky Bestellung. Eine Zeit unterhielten wir uns angeregt über diese Bestellung, wobei Chris besonders auf den Macallan sowie den Talisker gespannt war, bis wir zu dem eigentlichen Thema unseres Treffens kamen.

„Ich habe mir viele Gedanken über das Buch gemacht“, fing Chris an seine Überlegungen auszuführen. „Eure Geschichte ist spannend, vielleicht für den einen oder anderen sogar lehrreich und sie sollte sinngemäß so auch erzählt werden. Allerdings in abgewandelter Form und einem veränderten Kontext. Ich denke, die beste Lösung ist, wenn ich noch zwei zusätzliche Hauptpersonen in die Handlung einbaue. Quasi Spiegelbilder von euch. Diese Personen sind fiktiv, erleben aber ein Teil von dem, was ihr erlebt habt.“
Chris machte eine Pause und sah mich mit dem Blick eines Lehrers an, der überprüft, ob die Schüler begriffen hatten, was er zuvor erklärt hat.
„Am wichtigsten ist es“, fuhr er ruhig fort, „zu erklären, warum etwas passiert. Also die inneren Vorgänge der Personen zu schildern. Die wichtigen, die auf die es maßgebend ankommt deutlicher, andere eher versteckt. Wie Ostereier. Darüber, ob Geraldine sie finden wird, musst du dir keine Sorgen machen. Sie ist viel intelligenter, als du glaubst. Sie wird diese Ostereier nicht nur finden, sondern auch deren Nachricht verstehen und damit den Sinn des gesamten Aufbaus richtig begreifen. Was hältst du davon?“
Chris schnippte die Asche seines Zigarillos in den Aschenbecher und lehnte sich anschließend entspannt in den Sessel zurück.
„Ich weiß nicht so richtig, was du meinst“, entgegnete ich unsicher, nachdem ich über Chris Ausführungen nachgedacht hatte. „Weshalb willst du zwei zusätzliche Hauptpersonen einbauen?“
Chris verzog das Gesicht.
„Wer von uns verdient mit Schreiben sein Geld?“, kommentierte er schnippisch, bevor er einen weiteren Zug von seinem Zigarillo nahm.
Eine Bemerkung, die durchaus ihre Berechtigung hatte.
„Ich versuche es dir zu erklären“, fuhr er fort. „Die ganze Handlung ist komplex. Zu Weilen würde sie fast chaotisch wirken. Mit nur zwei Hauptpersonen wird das schnell unübersichtlich und unverständlich. Es ist besser bestimmte Themen zu verteilen.
„Wozu soll das gut sein?“, fiel ich Chris ins Wort. „Das sorgt nur für Verwirrung.“
Chris sah mich verständnislos an.
„Nein, tut es nicht. Es bietet die Möglichkeit die inneren Vorgänge der Personen besser zu erklären. Viele Gedanken und Gefühle würden sonst im Chaos eurer Gefühle verborgen bleiben. Oder noch schlimmer, die Beweggründe der Personen bleiben vollkommen unklar. Verstehst du?“
Ich nickte, verstand aber immer noch nicht ganz.
„Schau“, führte Chris weiter aus, „ohne die Beweggründe zu kennen ist der Leser nicht in der Lage zu verstehen, warum die Figur so handelt. Er fängt an, sich Gedanken zu machen und diese können ihn in eine falsche Richtung lenken. In Bezug auf Geraldine, die der wichtigste Leser dieses Buches sein wird bedeutet das, sie liest Beschreibungen von Tatsachen und Ereignissen ohne hinreichende Erklärung dahinter und beginnt sich Gedanken zu machen, die du vielleicht gar nicht willst. Kannst du mir folgen?“
Ohne meine Antwort abzuwarten sprach Chris weiter.
„Eine andere Schwierigkeit ist der erhobene Zeigefinger. Du hast neulich diverses angesprochen, worüber du dir Gedanken machst, Geraldine in manchem kritisiert. Ich gehe davon aus, du möchtest das auch in dem Buch stehen haben?“
„Das würde ich gerne“, unterbrach ich Chris.“ Mir ist sehr wichtig, dass sie sieht, dass ich mir Gedanken über sie gemacht habe. Auch wenn ich mir vieles nach wie vor nicht erklären kann.“
Er drückte sein Zigarillo im Aschenbecher, der auf dem kleinen Tisch zwischen den beiden Sesseln stand aus und grummelte:
„Genau da beginnt das Problem. Die Notwendigkeit jetzt alles anzusprechen beinhaltet Punkte, die ihr unangenehm sein werden. Von ihrem Standpunkt aus betrachtet kann aus der Erzählung dann schnell eine Anklage werden. Sie könnte sich zu Unrecht angegriffen fühlen und deshalb nicht darüber nachdenken, was du ihr sagen möchtest. Das muss unter allen Umständen vermieden werden. Die Kritik sollte in einen konstruktiven Rahmen eingebettet sein. Sie soll Wege aufzeigen. Das heißt nicht, dass destruktive Kritik nicht hier und da sinnvoll sein kein. Aber sie darf nur die Ultima Ratio sein. Wenn nichts anders mehr zum Ziel führt. Sie muss äußerst überlegt und zielgerichtet eingesetzt werden. Sonst ist sie nur sinnlose Aggression. Wohin unüberlegte destruktive Kritik führen kann, auch wenn du es an diesem Abend sicher nicht so gemeint hast, kannst du seit August deutlich sehen.“
„Und was schlägst du vor, wie wir dieses Problem umgehen?“
Ich hatte diesen Satz kaum zu Ende gebracht, als ich bereute wir gesagt zu haben. Chris schrieb das Buch alleine, nicht wir gemeinsam. Zu meiner Erleichterung überging er meine unangebrachte Bemerkung.
„Wie ich schon sagte, indem ich sie erstens zum Teil auf die beiden anderen fiktiven Personen verteile und zweitens in diesen Ostereiern verstecke.“
Chris lächelte süffisant.
„Ostereier in Texten sind dir schon begegnet. In meinen E-Mails. Waltzing Matilda, um nur eines zu nennen. Eine bestimmte Begebenheit, ein besonderer Ort, selbst ein Essen, alles kann ein verschlüsselter Hinweis auf etwas sein. Eine Nachricht, die nur Geraldine verstehen wird. Jeder andere Leser würde dahinter nichts suchen, trotzdem bleibt die Handlung für ihn verständlich.“
Langsam wurde mir klarer, was sich Chris gedacht hatte und ich musste zugeben, dass diese Idee durchaus ihren Reiz hatte. Bestimmte Dinge, die besonders wesentlich waren, andere Personen erleben zu lassen, eröffnete die Möglichkeit Geraldine zu zeigen, was ich dachte, ohne sie direkt zu kritisieren. Auch die Idee mit diesen Ostereiern gefiel mir. Wenn es jemand gab, der diese Kunst perfekt beherrschte, dann war es Chris. Bei ihm konnte hinter jedem Wort, jeder Kleinigkeit eine verborgene Nachricht stecken.
„Wie stellst du dir das Ende des Buches vor?“, wollte Chris vom mir hören.
„Ein offenes Ende. Ja, ich denke ein offenes Ende wäre das Beste. Immerhin wissen wir heute nicht, wie die Sache mit uns ausgehen wird.“
Chris schaute mich an, als hätte er diese Antwort erwartet und verunsicherte mich kurz damit.
„Was spricht gegen ein offenes Ende? So, wie die Dinge heute stehen, ist alles denkbar“, fügte ich voller Überzeugung hinzu.
„So, wie die Dinge heute stehen, ist sie weg! Weil du dich zu dämlich angestellt hast,“ konterte Chris um sofort wieder sachlicher zu werden. „Im Ernst, die Idee mit dem offenen Ende birgt eine große Gefahr in sich. Die Gefahr, dass Geraldine ein offenes Ende als weitere Unentschlossenheit deinerseits wertet. Egal was zuvor 400 Seiten lang geschrieben worden ist. Wenn du ihr klarmachen willst, dass du mit ihr Leben möchtest braucht das Buch ein Ende. Ein Ende in dem ihr euch trotz aller Widrigkeiten findet. Weil es dir wichtig ist. Auf diese Aussage kommt es letztlich an. Sonst ist das ganze Buch nur eines, überflüssige Arbeit!“
Nach dieser scharfen Kritik über meine Vorstellung, wie das Buch zu Ende gehen soll, schwiegen wir uns eine Zeitlang an. Der innere Widerstand, den ich Chris Idee zunächst entgegengebracht hatte, wich, je länger ich darüber nachdachte, der Erkenntnis, dass Chris Recht hat. Oft genug hatte ich mir Auswege offengelassen oder mich in Unbestimmtheiten geflüchtet.
„Du hast Recht“, pflichtete ich nach einer Weile kleinlaut bei. „Ein offenes Ende ist keine Option. Dieses Buch soll Geraldine nicht nur Entschlossenheit zeigen, sondern auch, dass ich mich für sie entschieden haben. Endgültig in jeder Konsequenz. Und das geht nur mit einem Ende. Dem glücklichen Ende.“
Chris nickte zustimmend und wir schwiegen wieder. Nur das leise Knistern des Kaminfeuers war zu hören, als diese Stille abrupt durch das Piepen von Chris Handy unterbrochen wurde. Er zog es aus seine Hosentasche, las die Nachricht und schüttelte mit einem freundlichen Lächeln leicht seinen Kopf. Ich muss eine Spur zu neugierig zu Chris hinüber gesehen haben. Mit entschuldigendem Unterton sagte er:
„Sie ist von Sandra. Sie will wissen, wie es mir geht und wann ich schlafen gehe. Manchmal ist sie wie eine dieser Übermütter.“, seufzte Chris.
Ich hatte das Gefühl, jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen mir einen Whisky zu holen und Chris ebenfalls einen anzubieten. Im Gegensatz zu vorgestern, nahm Chris dieses Angebot heute dankend an.
„Welchen möchtest du?“, fragte ich Chris, während ich noch ein paar Holzscheite in den Kamin legte.
„Such du aus. Ich lass mich gerne überraschen.“
Wie nicht anders zu erwarten, war mein Aufstehen für Mable das Zeichen mitzukommen. Neugierig folgte sie mir zur Bar, um dort enttäuscht festzustellen, dass ich nur etwas zu trinken holte und keine Leckerei für sie. Unentschlossen betrachtete ich die Flaschen und konnte mich zunächst nicht zwischen dem Lagavulin und dem Tullibardine 228 Burgundy Finish entscheiden. Zwei Whiskys, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Der 16 Jahre alte Lagavulin gehört zum Standardprogramm eines Single-Malt Liebhaber und ich wusste, dass Chris ihn Zuhause hatte. Aus diesem Grund entschied ich mich für den fruchtigeren, leicht nach Schokolade und Vanille schmeckenden Tullibardine. Gespannt auf Chris Meinung kehrte ich mit den Gläsern zurück. Das Feuer im Kamin brannte durch das Auflegen der frischen Holzscheite wieder prächtig vor sich hin, als ich Chris das Glas in seine Hand gab.
„Ich bin gespannt, was du zu dem sagst?“
Chris kreiste mit seiner Nase ausgiebig über dem Whisky, bevor er einen kleinen Schluck probierte.
„Welcher ist das?“
„Der Tullibardine 228 Burgundy Finish. Wie findest du ihn?“
„Phantastisch. Er ist leicht süßlich, mit etwas Frucht. Ein toller Whisky“
Seine Begeisterung war ihm noch deutlich anzumerken, als er das Glas auf dem Tisch abstellte und nach seinem Handy griff, das er zuvor dort abgelegt hatte.
„Entschuldige bitte, ich sollte Sandra kurz antworten. Sie macht sich sonst nur Sorgen und schickt mir solange Nachrichten, bis ich antworte.“
Ich nippte an meinem Whisky, betrachtete den Funkenflug der sich im Kamin berstenden Holzscheite und ließ Chris in Ruhe seine SMS tippen. Nachdem Chris seine Nachricht geschrieben hatte, steckte er sein Handy wieder zurück in seine Hosentasche. Jetzt war eine günstige Gelegenheit ihn nochmals auf sein Verhältnis zu Sandra anzusprechen.
„Deine Sandra hat an meinem Geburtstag meine Gäste und mich schwer beeindruckt.“
„Das ist nicht meine Sandra!“, fiel Chris mir unsanft ins Wort.
„Warum eigentlich nicht? Das verstehe ich nicht ganz. Sie hat ein wunderschönes Gesicht und eine traumhafte Figur. Sie ist apart, um dieses schöne alte Wort zu bemühen, hat Stil, Klasse und Charme und ist gebildet. Ihrer Armbanduhr und dem Solitaire nach zu schließen ist sie sehr vermögend, ihr versteht euch blendend und das wichtigste, sie scheint Single zu sein. Die absolute Mrs. Perfect also.“
„Und sie hat einen dreizehnjährigen Sohn aus ihrer ersten Ehe“, ergänzte Chris völlig unerwartet meine Aufzählung.
„Sie hat ein Kind?“
Meine Überraschung amüsierte Chris sichtlich.
„Kind würde ich ihn nicht mehr nennen. Er ist ein Teenager.“
Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich mich wieder gesammelt hatte. Ich hätte Sandra niemals zugetraut Mutter zu sein. Nicht mit dieser Figur. Ich konnte kaum glauben, was Chris eben gesagt hatte. Nach meiner Erfahrung hinterließ eine Schwangerschaft in den allermeisten Fällen ihre Spuren an der Figur einer Frau. Sandra schien zu den ganz wenigen Frauen zu zählen, an denen eine Schwangerschaft spur-, oder besser gesagt, schadlos vorbeigegangen war.
„Lebt er bei ihr oder bei seinem Vater?“
„Weder noch“, befriedigte Chris meine Neugier. „Er ist in einem dieser englischen Internate mit Weltruf.“
So wie sich Chris ausdrückte musste es entweder Eaton oder Harrow sein. Beides Schulen die ein mittleres Vermögen pro Jahr verschlangen.
„Ist das ein Grund warum du keine Beziehung mit ihr hast?“
Meine Frage musste Chris verärgert haben. Er murmelte ein fast unhörbares unglaublich vor sich hin, bevor er sich wieder zurücklehnte.
„Entschuldige bitte, das war nicht so gemeint.“
Chris nickte lediglich und schwieg. Der Einstieg in das Thema Sandra war mir gründlich misslungen. Ich beobachtete eine Zeit wortlos das Feuer im Kamin.
„Daran liegt es nicht. Es ist ein sehr netter und gut erzogener Junge.“, sagte Chris plötzlich.
„Du kennst ihn?“
„Ja, natürlich kenne ich ihn.“, erwiderte in aller Selbstverständlichkeit.
Ich wandte meinem Blick vom Kamin ab und Chris zu, der ungewöhnlich leise seine Erklärung fortsetzte.
„Warum ich mit Sandra keine Beziehung habe wolltest du doch wissen? Es liegt daran, dass ich sie nicht liebe. Ganz einfach. Das habe ich doch schon deutlich gesagt. Ich gebe dir Recht, sie ist in jeder Hinsicht eine tolle und begehrenswerte Frau, eine absolute Mrs. Perfect. Aber eben nicht meine Mrs. Right. Und Mrs. Right muss nicht perfekt sein. Verstehst du?“
Ich verstand, was Chris damit meinte. Mir fiel jedoch die Vorstellung schwer, dass eine Frau wie Sandra mit all ihren wunderbaren Eigenschaften keine Mrs. Right für ihn sein konnte.
„Außerdem hätte sie nicht verdient, dass ich ihr etwas vormache. Dazu schätze ich sie viel zu sehr. Und mir etwas vormachen könnte ich noch viel weniger.“
Chris machte eine kurze Pause.
„Bevor die vorhersehbare Frage kommt. Abgesehen von der Einschränkung, die du kennst und die es ohnehin unmöglich macht, ist das der Grund, warum ich nicht mit ihr schlafe. Ich könnte niemals mit einer Frau schlafen, die ich nicht liebe.“
Chris nahm sein Glas von dem kleinen Tisch und trank einen Schluck. Nachdem er es wieder zurückgestellt hatte, griff er nach seiner Zigarillo Schachtel.
„Ich konnte das noch nie. Einfach so, unverbindlich, nur zum Spaß“, sagte er während er ein Zigarillo aus der Schachtel nahm und anzündete.
Eine Feststellung, die mich nicht sonderlich verblüffte. Nicht nach allem, was ich in seinem Tagebuch gelesen hatte. Chris nahm diese Dinge sehr ernst. Vielleicht zu ernst für die heutige Welt der Spaßgesellschaft, des kurzen unverbindlichen Genusses.
„Aber ich kann verstehen, warum dich diese Frage beschäftigt“, ergänzte Chris. „Immerhin waren Geraldine und du auch lange, oder besser oft genug, nur Freunde. Trotzdem seid ihr immer wieder im Bett gelandet. Auch wenn es nicht mit Sandra und mir vergleichbar ist, vielleicht ist es deine Erfahrung, die es dir so schwer macht zu glauben, dass Sandra und ich wirklich nur Freunde sind.“
Eine berechtigte und im Ergebnis nicht ganz von der Hand zu weisende Ãœberlegung.
„Wie alt ist Sandra eigentlich?“
Chris sah mich verdutzt an.
„Warum willst du das wissen?“
„Sie ist schwer zu schätzen, ganz einfach. Bislang dachte ich sie ist höchstens Mitte Dreißig.“ Chris musste leise lachen.
„Ist sie nicht. Sie ist Jahrgang 74. Bevor du jetzt nachrechnen musst, sie ist im Oktober 39 geworden.“
Das sah man Sandra wirklich nicht an. Ganz im Gegenteil. Sie wirkte deutlich jünger, etwa Anfang 30. Gewöhnlich haben Frauen in diesem Alter schon das eine oder andere Fältchen im Gesicht, so wie Geraldine, die nur vier älter als Sandra ist. Aber in Sandras Gesicht konnte ich an meinem Geburtstag außer ein paar kleinen Lachfältchen um die Augen keine weiteren erkennen. Ich machte mir Gedanken, wie ich eine weitere Frage nach Sandra am besten formulieren konnte.
„Sandra ist doch eine der wichtigsten Frauen in deinem Leben, oder?“
Chris überlegte eine Sekunde, bevor er antwortete.
„Nein, ist sie nicht. Einer der wichtigsten Menschen, aber nicht eine der wichtigsten Frauen. Wobei ich diesen Ausdruck, der oder die wichtigste, generell nicht mag.
Chris betrachtete sein Zigarillo, dass er wie üblich zwischen dem Zeige- und dem Mittelfinger seiner rechten Hand hielt und schien dabei zu grübeln.
„Wenn du nach den wichtigsten Frauen fragst, dann sind es außer Irina noch drei andere Frauen. Sabrina, Katharina und Eleonore.“ Dabei betonte er das Wort wichtig auf eine eigentümliche Art um damit nochmals zu unterstreichen, dass ihm dieser Ausdruck nicht behagte.
„Oder zwei Frauen und ein Auto“, scherzte ich. Ein Spaß, der sich bei einem der von Chris genannten Vornamen und seiner Vorliebe für Musclecars gerade zu aufdrängte.
„Ein Auto?“
Chris überlegte kurz, bevor er herzhaft lachen musste.
„Ja stimmt, ein Auto. Ist mir noch nie aufgefallen.
„Die Schreibweise unterscheidet sich wahrscheinlich ziemlich“, ergänzte ich.
„Nicht nur die, vor allem das Temperament“, wandte Chris ein, der immer noch lachen musste. „So rein aus Interesse, hast du noch Kontakt zu ihnen?“
„Zu Sabrina und Katharina schon. Sogar sehr viel. Zum GT 500 nicht.“
Chris Mine verfinsterte sich bei dem Gedanken an diese Frau.
„Wir sind vorsichtig formuliert nicht gerade Freunde. Anders gesagt, wir reden nicht mehr miteinander. Seit Jahren schon.“
Chris hatte meine Neugier geweckt.
„Was war passiert?“
„Eine lange Geschichte, die sich nicht lohnt erzählt zu werden. Ist die Sache nicht wert.“
Es war Chris unverkennbar anzumerken, dass er keinen Gedanken an diese Frau oder die Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, verschwenden wollte. Sein Blick wanderte Richtung Kamin und den darin rotglühenden, leise knackenden Holzscheiten.
„Wissen Sabrina und Katharina über dein Ding Bescheid?“, stellte ich meine nächste Frage.
„Sabrina weiß alles, Katharina nur das allernotwendigste“, antwortete Chris knapp.
„Und warum nur Sabrina?“
„Sie kann damit umgehen. Katharina nicht, sie würde panisch. Es gibt Menschen, von denen muss man gewisse Fakten fernhalten so lange es irgendwie vertretbar ist.“
„Menschen wie Irina?“, warf ich ein.
Chris zögerte.
„Ja, im Prinzip schon. Obwohl ich nicht weiß, ob man das so ausdrücken sollte. Katharina und Irina sind in keiner Weise vergleichbar sind. Sie sind grundverschieden.“
In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich Chris Ausdruck für seine Krankheit ohne darüber nachzudenken übernommen hatte. Mich interessierte, warum Chris nie den richtigen Ausdruck gebrauchte, sondern immer einen neutralen Ausdruck.
„Warum nennst du es eigentlich immer „das Ding“ oder wie du es in deinem Tagebuch häufig getan hast einfach nur „es“.“
„Weil vieles für mich auf diese Art einfacher ist.“
Chris atmete tief durch, bevor er leise vor sich hin nuschelte:
„Wir reden schon wieder über mich.“
Meine Neugier war wieder einmal mit mir durchgegangen und hatte uns vom eigentlichen Thema abgebracht.
„Du hast Recht. Entschuldige bitte. Reden wir wieder über das Buch.“, kehrte ich zum Kern unseres Gespräches zurück.
Chris drehte seinen Kopf in meine Richtung.
„Ich würde gerne wissen, wie du dir das mit den spiegelbildlichen Personen genau vorstellst? Ganz klar ist mir das vorhin nicht geworden.“
So wie mich Chris ansah, war er von meiner Phantasielosigkeit überrascht. Ein leiser Seufzer kam über seine Lippen, bevor er meine Frage beantwortete.
„Das ist doch wirklich einfach. Beide fiktiven Charaktere bekommen Züge von dir und Geraldine. Sowohl gute, als auch schlechte.
„Warum das? Was soll das?“, unterbrach ich Chris.
„Weil nur gute oder nur schlechte Eigenschaften die Figuren unglaubwürdig überzeichnen würde. Ich teile euch, wenn man so will, in zwei Personen auf. Diese Figuren lassen sich dann im Laufe der Handlung in bestimmte Richtungen entwickeln. Immer abhängig davon, was damit ausgesagt oder welches Ziel mit dieser Entwicklung erreicht werden soll. Du hast dich im vergangen Jahr doch auch weiterentwickelt, oder nicht?“
Ich versuchte mich um eine direkte Antwort herumzudrücken.
„Das können andere besser beurteilen.“
Chris schüttelte ungläubig den Kopf.
„Aber Geraldine hat sich seit Jahren nicht verändert, fuhr ich überzeugt von der Richtigkeit meiner These fort. „Sie ist seit Jahren immer irgendwie gleich.“
Ich hielt kurz inne und fügte leise das Wort „schwierig“ hinzu.
Chris zuckte, seinem Unverständnis über meine Aussage Geltung verschaffend, mit den Schultern.
„Wenn du davon überzeugt bist.“
„Ja bin ich!“, entgegnete ich energisch.
Ich nahm eine Zigarette aus meinem Etui und griff nach Chris Feuerzeug, dass er neben seiner Zigarillo Schachtel auf dem kleinen Tisch zwischen den Sesseln abgelegt hatte. Als ich meine Zigarette angezündet hatte und gerade im Begriff war das Feuerzeug wieder zurückzulegen, bemerkte ich eine Gravur darauf. Ein Adler, dessen Greifer ein Banner mit der Inschrift „27.09.2010“ umklammerten.
„Das habe ich von Sandra nach meiner ersten Behandlung im September 2010 bekommen“, beantwortete Chris meine Frage, bevor ich sie gestellt hatte. „Der Tag ist, wenn man so will mein zweiter Geburtstag und sie wollte mir mit diesem Feuerzeug nicht nur eine Freude machen, sondern mir zugleich ein Erinnerungsstück an diesen Tag schenken, das ich immer bei mir trage. Sandra ist in solchen Dingen sehr aufmerksam. Es ist ihre Art zu zeigen, wie wertvoll man ihr ist.“
Eine wirklich erstaunliche Frau dachte ich, während ich das Feuerzeug mit einem leichten Anflug von Neid wieder zurücklegte. Sie war nur eine Freundin von Chris und dennoch wesentlich aufmerksamer, als man es von den meisten Partnerinnen wünschen würde. Geraldine zum Beispiel wäre so etwas fremd und ich könnte eine solche Aufmerksamkeit von ihr wohl niemals erhoffen. Dazu ist sie stets zu viel mit sich selbst beschäftigt. Andererseits war ich mir sicher, sie würde so etwas von ihrem Partner in einer vergleichbaren Situation bestimmt erwarten. Nicht das dies für mich ein Problem darstellte. Es zeigt nur, wie unterschiedlich die Erwartungshorizonte der Partner aneinander sein konnten. Chris beugte sich zur Seite, um nach der schlafenden Mable zu sehen.
„Sie scheint sich bei dir wohlzufühlen“, sagte er zufrieden, bevor er den letzten Schluck seines Whiskys trank.
Die Antwort von Chris über Veränderungen ließ mir keine Ruhe. Hatte sich Geraldine wirklich verändert? Ich tat mir mit der Vorstellung schwer. Seit über 20 Jahren war Geraldine mehr oder weniger ein Teil meines Lebens und ich war mir bis gerade sicher ihren durchaus außergewöhnlich facettenreichen Charakter einigermaßen gut zu kennen. Wenn es überhaupt eine einschneidende Veränderung gab, dann war es diese Posttraumatische Belastungsstörung.
„Weißt du, ich bin der Überzeugung, dass Menschen sind wie sie sind. Sie können sich aufgrund von bestimmten Ereignissen in ihrem Leben oder gemachten Erfahrungen zwar verändern, im Grunde ihrer Persönlichkeit bleiben sie aber ein und derselbe. Irgendwann kehren sie immer zu der Person zurück, die sie wirklich sind.“
„Wer weiß“, antwortete Chris gelassen. „Bei vielen werden wir es nie erfahren und bei den meisten will ich es lieber erst gar nicht wissen. Nur bei ganz wenigen hoffe ich es.“
Er blickte hoch auf die kleine englische Standuhr auf dem Kaminsims. Die Zeiger standen auf 20 Minuten vor 23 Uhr.
„Es wird Zeit für uns nach Hause zu gehen. Vielen Dank für den Whisky. Den sollte ich mir auch kaufen.“
Chris erhob sich aus seinem Sessel. Das Signal für Mable, die blitzartig aufstand, dass es jetzt nach Hause ging.
„Bevor du gehst habe ich eine Bitte an dich.“
Chris blieb stehen und drehte sich zu mir.
„Welche?“
„Erzähl bitte niemand, auch Sandra nicht, von diesem Buch.“
„Natürlich nicht. Warum sollte ich das tun?“
Er streichelte Mable kurz über den Kopf. Im Weggehen fügte er mit einem ausdruckslosen Unterton an:
„Sandra würde mir ohnehin nicht zutrauen ein Buch zu schreiben. Dazu kennt sie mich zu wenig.“
Ich folgte den beiden in den Flur. Chris zog seine Jacke über, schloss den Reißverschluss, leinte Mable an und verabschiedete sich. Sonderbar, dachte ich während ich die Türe verriegelte und die Alarmanlage scharf schaltete. Sandra, mit der Chris über alles redete, was ihn beschäftigte, von seiner Krankheit bis zu seinen Beziehungen, sollte ihn so wenig kennen, dass sie ihm nicht zutrauen würde ein Buch zu schreiben? Das konnte ich mir nur schwer vorstellen. Obwohl ihm Irina und Sandra auf ganz verschiedene Art etwas bedeuteten und er mit ihnen ganz unterschiedlich umging, teilten beide eines. Sie wussten anscheinend einiges über Chris nicht. Das war gerade eben deutlich geworden und ich verstand nicht warum. Ich löschte die Lichter im Erdgeschoss und ging nach oben. Im Bad angekommen putzte ich mir kurz die Zähne, zog mich aus, ging weiter in mein Schlafzimmer und ließ mich auf mein Bett fallen. Ohne es zu wissen hatte mich Chris an einen Gedanken von neulich Abend erinnert. Auch wenn sein Verhältnis zu Sandra unter gar keinen Umständen mit meinem zu Maria vergleichbar war gab es dennoch eine Gemeinsamkeit. Beiden waren auf ihre höchst unterschiedliche Weise eine Mrs. Perfect und dennoch war keine von beiden die Mrs. Right für einen von uns.

   Die Tage bis zum 2. Advent waren wie im Flug vergangen. Beinahe jeden zweiten Tag begleitete ich Chris und Mable nachmittags bei ihrem Spaziergang durch den alten Park. Dabei berichtete er mir von den Fortschritten, manchmal auch von den Problemen, die er beim Schreiben des Buchs hatte. In mir wuchs beständig die Gewissheit, Chris hatte eine Aufgabe gefunden, die ihm Spaß machte und die ihn seine Sorgen und Probleme, über die er zwar nie sprach, die er aber nach meiner Überzeugung haben musste, für eine Zeit vergessen ließ. Mitunter wirkte er geradezu euphorisch, wenn er mir von einer neuen Idee berichtete oder mir kleine Passagen, die ihm besonders gut gefielen, zitierte. Zu meiner Freude waren Chris und Sandra in diesen Tagen auch abends öfters bei mir zu Gast und es begann sich eine Freundschaft zwischen uns zu entwickeln. Während Chris sich gerne mit Mable vor den Kamin setzte, um in aller Ruhe in meinen Büchern über Whisky oder Autos zu schmökern, half Sandra mir in der Küche. Neben all den anderen fabelhaften Eigenschaften die sie besaß, war sie überdies eine ganz ausgezeichnete Köchin. Es bereitete mir große Freude mit ihr gemeinsam zu kochen. So hatte sie es zum Beispiel geschafft eines meiner Lieblingsgerichte, Spaghetti aglio e olio, mit einem Schuss Weißwein und einem Spritzer Zitronensaft in eine wahre Köstlichkeit zu verwandeln. Im Anschluss an das Abendessen spielten wir Karten und nebenher gaben Chris oder ich, sehr zu Sandras Belustigung, Geschichten aus unserer Jugend zum Besten. Es waren leichte, unbeschwerte Abende in meinem Esszimmer, die mich meine Gedanken an Geraldine für diese kurze Zeit fast vergessen ließen. Derweil war meine Whisky Bestellung eingetroffen und der Bestand meiner Bar hatte wieder ein beruhigendes Niveau erreicht. Jeden Abend probierten Chris und ich einen anderen Whisky und tauschten uns darüber aus. Von den Whiskys, die ich zum ersten Mal bestellt hatte, schmeckte Chris besonders der Macallan Sienna Sherry Casks Matured, während ich eher zu dem torfigen, nach meiner Auffassung besser in die kalte Jahreszeit passenden, Talisker 57° North tendierte. Sandra hatte dabei stets ein auffällig wachsames Auge darauf, wieviel Chris trank und rauchte. Regelmäßig gegen 22:30, allerspätestens aber um 23 Uhr machte Sandra Chris und mir charmant aber bestimmt deutlich, dass der Abend jetzt zu Ende war. Widerspruchslos und ohne Anzeichen sich von Sandra bevormundet zu fühlen, beugte sich Chris Sandras Wunsch und die beiden gingen nach Hause.

   Am 2. Advent kamen Sandra und Chris bereits gegen 11 Uhr zu mir. Wir hatten uns zum Brunch verabredet und anschließend wollten Sandra und ich gemeinsam Weihnachtsplätzchen backen. Die Stimmung an diesem Tag unterschied sich jedoch grundlegend von jener, der vorhergegangenen Tage. Es war der Vorabend von Chris monatlicher Untersuchung und es lag eine ungewöhnliche Anspannung zwischen Chris und Sandra in der Luft. Ich hatte den Eindruck, als versuchte jeder auf seine Art einen Umgang mit dem bevorstehenden Ereignis zu finden. Chris war an diesem Sonntag, im Gegensatz zu Sandra, die enorm viel redete, ungewöhnlich still und beschäftigte sich fast ausschließlich mit Mable. Am frühen Nachmittag begannen Sandra und ich mit dem Backen, während sich Chris wieder vor den Kamin setzte und las. Bevor wir mit dem Zubereiten der verschiedenen benötigten Teigsorten anfingen, zog Sandra ihren Ring und ihre Uhr aus und legte sie auf die Fensterbank zwischen die Töpfe mit Basilikum und Schnittlauch.
„Das ist ein wunderschöner Ring. Er ist mir schon im März aufgefallen, als ich dich im Supermarkt sah und dabei beobachtete, wie du dich nicht zwischen verschiedenen Chips Sorten entscheiden konntest.“
Sandra lächelte beinahe verlegen.“
„Der Ring ist ein Erbstück von meiner Großmutter. Ich hänge sehr an diesem Ring. Er bedeutet mir viel. Und was die Chips angeht. Chris hatte mich damals nur gebeten welche mitzubringen. Da ich mir nichts aus Chips mache, hatte ich nie ganz genau darauf geachtet, welche Chris immer isst. Ich wusste nur, dass sie in einer roten Tüte waren. Dann stand ich vor diesem Regal in dem sich nur rote Tüten befanden und war überfordert. Das muss bestimmt ungewollt komisch auf dich gewirkt haben. Eine Frau, die nicht weiß, was sie kaufen soll.“
Ich musste herzhaft lachen.
„Das habe ich schon öfter gesehen, glaub mir. Allerdings ging es dabei meistens um Schuhe oder Handtaschen. Aber bei Chips, da muss ich dir Recht geben, habe ich das noch nie erlebt. Trotzdem, es wirkte nicht ungewollt komisch, sondern auf bezaubernde Art hilflos.“
Sandras erwiderte nichts, stattdessen strahlten mich ihre großen blaugrauen Augen freundlich an.

   Solange Sandra die von der Vorbereitung des Brunchs zurückgebliebene Unordnung in der Küche beseitigte, holte ich die Küchenmaschine, den Mixer, etliche Schüsseln und die Ausstechformen aus den Küchenschränken hervor. Anschließend stellte ich Mehl, Milch, Zucker und Eier bereit. Durch die Klapperei in der Küche aufmerksam geworden kam Mable zu uns. Wie üblich in der Hoffnung es könnte etwas Essbares für sie abfallen.
„Wie kommst du eigentlich mit Mable klar? Sie kann ja ganz schön eigenwillig sein“, erkundigte ich mich bei Sandra.
„Gut. Warum?“
„Das erste Mal, als ich euch gemeinsam gesehen hatte, seid ihr im Park spazieren gewesen. Ich beobachtete euch eine Weile und gewann den Eindruck, dass du Mable aus dem Weg gehst. Dich soweit wie möglich von ihr fernhältst.“
„Konnte man das sehen?“, erwiderte Sandra erstaunt.
„Ja, sehr gut sogar. Zuerst dachte ich, es ist, weil du besorgt bist, dass sie deinen Mantel schmutzig machen könnte. Dann bemerkte ich, dass du eher Angst vor ihr hast. Deswegen die Frage.“
Sandra öffnete ein Ei, trennte gekonnt Eiweiß von Eigelb und gab das Eiweiß in eine Schüssel. Das zweite Ei öffnend erläuterte sie:
„Ich habe großen Respekt vor Hunden, auch wenn sie relativ klein und niedlich sind wie Mable. Als ich ein kleines Kind war hatte unser Gärtner vier große deutsche Schäferhunde. Sie waren gleichzeitig unsere Wachhunde. Eines Tages, ich spielte im Garten, kamen die Hunde wild bellend auf mich zu gestürmt. Ich erschrak schrecklich, warf mich auf die Erde und fing furchtbar an zu schreien. Später erfuhr ich, dass die Hunde gar nicht mich gemeint hatten, sondern hinter einem Hasen her waren, den sie schon eine ganze Weile über das Grundstück gejagt hatten. Dieses Ereignis war prägend und es dauerte viele Jahre, bis ich mit Hunden wieder annähernd klar kam.“
Sandra ergriff den Mixer und tauchte ihn in die Schüssel mit dem Eiweiß.
„Mable ist ein ausgesprochen lieber Hund und ich habe keine Angst vor ihr. Sie war mir lange Zeit einfach nur zu hektisch und hat mich mit ihrem Hochspringen immer wieder erschreckt. Deshalb hielt ich bei Spaziergängen Abstand zu ihr. Aber seit Sommer ist sie viel ruhiger geworden und inzwischen würde ich sogar mit ihr alleine bleiben. Ich glaube, dass sie mich wirklich mag. Jedenfalls freut sie sich immer sehr, wenn ich zu Chris komme und begrüßt mich ausgesprochen freudig“, sagte Sandra, bevor sie den Mixer anstellte.

   Das dritte Blech mit Plätzchen war gerade im Ofen, als Chris in die Küche kam und verkündete, dass er jetzt mit Mable spazieren gehen würde und die nicht ganz ernst gemeinte Frage stellte, ob er uns überhaupt alleine lassen könne? Sandra, die mit dem Ausstechen von Plätzchen beschäftigt war, drehte sich um und sah Chris gelassen an, bevor sie sagte:
„Geht schon ihr zwei. Wir kommen hier alleine klar. Und geh nicht zu lange!“
Chris verließ, gefolgt von Mable, frech grinsend die Küche und Sekunden später fiel die Haustüre ins Schloss. Ohne Chris Auftritt weiter zu kommentieren setzte Sandra ihre Arbeit fort und legte anschließend die ausgestochenen Plätzchen auf ein Backblech. Nachdem sie damit fertig war, wandte sie sich den jetzt abgekühlten Mürbeteigplätzchen zu.
„Wo ist das Hagebuttengelee?“
Sandra schaute mich an, als gehörte Hagebuttengelee in jede gut sortierte Küche. Ich musste kurz überlegen.
„Wenn ich welches habe, dann in diesem Schrank ganz oben.“
Ich deutete auf einen Hängeschrank. Sandra öffnete die Türe und sah hinein.
„Ganz oben, typisch.“
Sandra streckte sich und versuchte das Glas zu greifen. Trotz ihrer mindestens 1,75 Meter und auf Zehenspitzen stehend, scheiterte der Versuch das Glas aus dem obersten Regal zu nehmen auch im zweiten Anlauf.
„Warte, ich hole es dir herunter“, unterbrach ich ihr Ansetzen zum dritten Versuch. Sandra ging einen Schritt zur Seite und ich griff nach dem Glas.
„Wozu brauchst du das Hagebuttengelee?“
„Für die Terrassenplätzchen natürlich“, erwiderte sie mit gewinnender Bestimmtheit und nahm mir das Glas aus der Hand.
„Ich hatte dafür immer Erdbeermarmelade genommen und bislang hatten sie jedem geschmeckt.“
„Du wirst sehen, sie schmecken ganz vorzüglich mit Hagebuttengelee. Nicht so süß wie man sie üblicherweise kennt.“
Vorsichtig hob Sandra die größeren Mürbeteigplätzchen vom Blech und fing an sie mit dem Hagebuttengelee zu bestreichen. Dann setzte sie achtsam die mittleren darauf und bestrich deren Oberfläche ebenfalls, bevor sie die kleinsten obendrauf setzte. Mit einem der ersten fertigen in der Hand kam sie zufrieden zu mir.
„Möchtest du eines probieren?“
Ich ergriff das Plätzchen und biss ein Stück ab. Es war in der Tat besser als meine Variante mit Erdbeermarmelade.
„Du hast Recht.“, gab ich anerkennend zu. „Es schmeckt tatsächlich besser. Nicht so süß.“
Ich steckte den Rest des Plätzchens in den Mund. Sandra ging zurück zu den Terrassenplätzchen, bestäubte sie mit Puderzucker und sortierte sie in eine der bereitgestellten Blechdosen ein.
„Schwer heute mit ihm, nicht?“
Ich versuchte das Gespräch auf Chris zu lenken. Ohne sich von ihrer Arbeit abzuwenden sagte Sandra nachdenklich:
„Nein, nicht nur heute. Jeder Tag ist eine Herausforderung. Besonders schwer ist es immer kurz vor seiner Untersuchung.“
„Und wie gehst du damit um?“
Eine Frage, die mich schon geraume Zeit beschäftigte.
Sandra drehte sich mir zu. Sie hob kurz ihren Blick und schaute auf die Küchenuhr, die über der Türe hing.
„Wann ist Chris losgegangen?“
„Vor etwa 10 Minuten, warum?“
„Weil ich wissen will, wie lange er mit Mable unterwegs ist.“
Sie drehte sich wieder um und füllte weiter Plätzchen in die Dose.
„Manchmal ist es zum Verzweifeln mit ihm.“, kam gedämpft, fast ein bisschen resignierend über ihre Lippen. „Wenn ihn etwas beschäftigt, wie seine Untersuchung oder sonst eine wichtige Entscheidung und er nicht reden will, dann ist es sinnlos ihn zu fragen. Man bekommt keine Antwort, oder im besten Fall eine schnippische. Ich gelernt abzuwarten. Irgendwann erzählt er es mir dann. Wenn er soweit ist.“, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu.
Das kam mir reichlich bekannt vor. Auch ich gehörte zu den Menschen, die Dinge zuerst mit sich selbst ausmachten, bevor sie mit anderen redeten.
„Warum ist dir so wichtig wie lange er mit Mable unterwegs? Verstehe ich nicht?“
„Ich erkläre es dir, wenn ich hiermit fertig bin. Aber bitte behalte es für dich.“
Ich unterbrach das von mir ohnehin ungeliebte reinigen der Backbleche und setzte Kaffee für uns auf. Sandra schloss die jetzt mit Terrassenplätzchen gefüllte Blechdose und nahm an der Bar Platz.
„In Frankreich“, sie stockte. „Wir waren im September gemeinsam im Urlaub, musst du wissen.“, fügte sie in einer seltsamen Mischung aus Erklärung und Rechtfertigung an. „In Frankreich“, fuhr sie fort, „war Chris sehr vernünftig. Er mutete sich nie zu viel zu, machte oft Pausen und schlief sehr viel. Bis auf einen Tag. An diesem Nachmittag wollte Chris unbedingt mit dem Quad unseres Verwalters die Gegend erkunden. Als er nach über 1 Stunde zurückkehrte wurde er schlagartig sehr müde, sackte in sich zusammen und bekam so etwas wie einen Schüttelfrost. Es dauerte fast eine halbe Stunde bis er wieder halbwegs ansprechbar war. Ich habe das an diesem Tag zum ersten Mal miterlebt und bin zu Tode erschrocken, wie du dir sicher vorstellen kannst.“
„Kann ich mir sehr gut vorstellen“, bestätigte ich. „Und wie ging es weiter?“
„Nach diesem Vorfall wurde Chris wieder vorsichtig und achtete auf sich. Das blieb zunächst auch so, als wir wieder Zuhause waren. Er ging zwar arbeiten, aber nicht jeden Tag und nie länger als 4 oder 5 Stunden. Auch seine Spaziergänge mit Mable reduzierte er auf eine dreiviertel Stunde.“
In der Zwischenzeit war der Kaffee durchgelaufen. Ich stellte Sandra ihren Kaffee, den sie, wie ich in den letzten Tagen bemerkt hatte, wie Chris mit Milch und Zucker trank, direkt vor sie auf die Bar und lehnte mich, meine Tasse in der Hand haltend, ihr gegenüber an die Küchenzeile. Sandra trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse wieder ab und schaute mich an, als wollte sie sich vergewissern, dass ich ihr aufmerksam zuhörte.
„Nach seiner Untersuchung im Oktober veränderte sich alles. Ich hatte mich auf dem Flur mit Chris Arzt unterhalten. Ich berichtete ihm von diesem seltsamen Anfall in Frankreich. Der Arzt erklärte mir ausführlich, was mit Chris geschehen war und welches Gefahrenpotential er darin sah. Sollten sie sich öfters wiederholen, sei das ein Alarmsignal, gab er mir nachdrücklich zu verstehen.  Die Folgen davon sind….“ Sandra brach den Satz ab.
„Er schärfte mir ein, dass ich unbedingt darauf acht geben müsse, dass Chris sich schont. Besonders jegliche Form von körperlicher Anstrengung muß er unbedingt vermeiden und auf lange Ruhepausen achten. Etwas verlegen fügte er hinzu, ich kann mir vorstellen, dass der Verzicht auf bestimmte Dinge für sie als Frau nicht ganz leicht ist.“
Ich sah Sandra erstaunt an.
„Halten die dich dort etwa für seine Freundin?“
„Bestimmt tun sie das. Ich war seit April bei jeder Untersuchung dabei, besuchte ihn so oft ich konnte, übernachtete im Sommer sogar ein paar Mal bei ihm im Krankenhaus und bin als die Person eingetragen, die benachrichtigt werden soll. Im Fall des Falles. Welchen Eindruck hättest du an deren Stelle?“
Ich überging diese rhetorische Frage mit einem demonstrativ langen Schluck aus meiner Tasse. „Was ist mit Chris Eltern oder seiner Familie? Die sind doch auch eingetragen?“
„Chris hat niemand mehr.“, erwiderte Sandra und wirkte bedrückt. „Seine Eltern sind vor ein paar Jahren kurz nach einander verstorben. Er spricht zwar sehr viel über seine Eltern, aber niemals darüber. Ich glaube, er vermisst sie sehr. So wie er über die beiden spricht, müssen es wunderbare Menschen gewesen sein. Ich hätte ich sie gerne kennengelernt. Erwähne Chris gegenüber bitte nicht, dass ich dir davon erzählt habe. Er ist bei diesem Thema sehr empfindlich und wird schnell traurig.“
„Das wusste ich nicht“, entgegnete ich betroffen. „Selbstverständlich werde ich nichts sagen.“ Im ganzen letzten Jahr hatte ich mir nie Gedanken über Chris Eltern oder seine Familie gemacht. Ich war stets nur auf ihn und Irina fixiert gewesen. Da dieses Thema Sandra offensichtlich unangenehm war, hielt ich es für klüger, es nicht weiter zu vertiefen. Stattdessen wollte ich wissen, was diese Unterhaltung mit Chris Arzt mit seinem veränderten Verhalten zu tun hatte.
„Mein Gespräch mit dem Arzt war fast zu Ende, als Chris plötzlich um die Ecke bog. Ich bin nicht sicher, ob er nicht schon länger hinter der Ecke gestanden und uns belauscht hatte. Jedenfalls hat sich Chris Verhalten seit diesem Tag verändert. Auf einmal tat er so als würde ihm nichts fehlen. Wenn man ihn so sieht, ist man auch geneigt das zu glauben, oder?“
Ich nickte zustimmend, um Sandra nicht zu unterbrechen.
„Chris ist geschickt darin geworden seine Krankheit und die damit verbundenen Einschränkungen zu verbergen. Vor jedem, leider auch vor mir. Dabei ist das bei mir vollkommen unnötig. Er ist sich bestimmt sicher, ich hätte das nicht bemerkt. Zu seiner Untersuchung im November hat er mich dann nicht einmal mehr mitgenommen. Das erste Mal seit April. Dabei möchte ich doch nur wissen, wie es ihm wirklich geht.“
Ein Hauch von Kummer überzog Sandras Gesicht bei diesem Satz.
„Seit diesem Tag bekommt man ihn nur noch in bestimmten Zeitfenstern zu sehen. Ist dir nicht aufgefallen, dass wir uns in den letzten Tagen immer nach 19:30 getroffen haben?“
„Nein, warum sollte es? Chris hat mir gesagt, dass du nicht früher dein Geschäft verlassen kannst. Klang plausibel.“
Sandra schüttelte leicht den Kopf.
„Im Manipulieren ist Chris groß. Ich kenne niemand, der so gut darin ist, dich Dinge glauben zu lassen, die so nicht sind.“
Ich unterbrach Sandra.
„Was genau meinst du damit?“
„Ich kann gehen, wann immer ich will. Das meine ich damit. Die Firma gehört meiner Familie.“
Der piepende Ton des Timer meines Backofens unterbrach unser Gespräch. Das nächste Blech mit Plätzchen war fertig. Ich ging zum Backofen, zog das Blech heraus und stellte es auf der Arbeitsplatte ab. Sandra stieg von ihrem Barhocker und stellte sich direkt neben mich.
„Chris spielt uns etwas vor! Er versucht so gut es geht sein altes Leben wieder zu führen. Ich bin der Auffassung, dass Chris solange er sich unbeaufsichtigt fühlt macht er was er will und nicht so auf sich achtet, wie er sollte.“
Sandras Stimme klang aufrichtig besorgt.
„Ich bin zum Beispiel davon überzeugt, dass er mit Mable öfters viel länger spazieren geht, als für ihn gut ist. Dann ist er sehr erschöpft und das führt höchstwahrscheinlich dazu, dass er wieder diese Anfälle bekommt, die nach Aussage seines Arztes nicht allzu häufig auftreten sollten. Chris setzt sich mit seiner Unvernunft einem unnötigen Risiko aus, dass eines Tags sehr gefährlich für ihn wird.“
Nachdem sie einen Schluck Kaffee getrunken hatte, setzte sie ihr Ausführung fort.
„Ich verdeutliche es dir. Er verlässt mit Mable um 16:30 das Haus und kehrt erst wieder gegen 18:00 zurück. Anschließend braucht er mindestens eine Stunde um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. Deshalb keine Verabredung vor 19:30. Verstehst du jetzt?“
Sandra blickte mich gespannt an und ich nickte.
„Früher durfte ich ihn jederzeit besuchen, auch unangemeldet. Das hat sich seit diesem Tag geändert. Neuerdings soll ich ihn sogar vorher anrufen.“
„Vielleicht hat er eine heimliche Geliebte, die er vor dir verstecken will?“, versuchte ich Sandra mit einem Scherz abzulenken.
„Chris eine Geliebte?“
Sandra musste lachen. Aber es war nicht ihr normales Lachen. Es klang ungewohnt. Vollkommen anders als sonst.
„Dafür ist er ganz sicher nicht der Typ Mann. Außerdem hätte ich das mitbekommen. Glaub mir! Zudem kann und darf er das nicht, was du meinst. Das hat ihm nicht nur sein Arzt verboten, er nimmt auch Medikamente, die das unmöglich machen. Aber Danke für den Versuch, mich auf andere Gedanken zu bringen.“
Sandra wurde wieder ernst.
„Wenn es ihm schlecht geht, bekomme ich ihn nicht mehr zu Gesicht. Niemand bekommt ihn mehr zu Gesicht. Wir sehen ihn nur, wenn es ihm gut geht. Es sei denn, es lässt sich aus irgendeinem Grund nicht vermeiden, wie an seinem Geburtstag. An diesem Abend ging es ihm zwar schlecht, aber ich habe ihn dennoch besucht. Ich wollte ihn an diesem Tag unter keinen Umständen alleine lassen. Auch wenn es für dich nicht so aussieht. Er schottet sich ab und zeigt uns nur das, was wir nach seiner Überzeugung sehen dürfen! Versteh das nicht falsch, ich weiß wie stolz Chris darauf ist, das meiste in seinem Alltag wieder ohne Hilfe bewerkstelligen zu können. Das ist wichtig und gut für ihn. Dennoch mache ich mir Sorgen, dass er ohne Aufsicht übertreibt und seine Grenzen nicht einhält.“
Langsam fing ich an zu begreifen. Chris hatte nach Sandras Überzeugung sein Leben wieder so eingerichtet, wie er es für richtig und am besten für sich hielt und sie machte sich darüber Sorgen. Nach meiner Einschätzung etwas zu große Sorgen. Chris war alt genug, um zu wissen was er tat und nur er konnte beurteilen, was er sich zumuten konnte und was nicht. Sandra sah sich suchend in meiner Küche um, bis ihr Blick an einem Einkaufsblock, der an der Wand neben dem Kühlschrank hing, hängen blieb. Sie ging hinüber, zog den Stift aus der Halterung, schrieb eine Telefonnummer auf das oberste Blatt und riss es ab.
„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten“, sagte Sandra, als sie mit dem Zettel in der Hand zu mir kam. „Ich werde nächste Woche geschäftlich unterwegs sein und würde dich bitten ein Auge auf Chris zu haben. Würdest du das für mich tun?“
Ihre Bitte unterstützend, lächelte mich Sandra charmant an.
„Natürlich kann ich das tun.“
Das Lächeln in ihrem Gesicht wich Erleichterung, als sie mir das Stück Papier gab.
„Das ist meine Mobilnummer. Falls irgendetwas mit Chris sein sollte, ruf mich bitte sofort an!  Egal zu welcher Uhrzeit!“, sagte sie eindringlich, bevor sie ein befreit klingendes „Danke!“ hinzufügte.
Ich nahm den Zettel, faltete ihn, steckte ihn in meine Hosentasche und begann die jetzt abgekühlten Plätzchen vom Blech zu nehmen. Sandra drehte sich nach links und schaute zur Küchenuhr. Chris war jetzt seit fast 45 Minuten fort. Nach meiner Erfahrung nicht besonders lange. In den vergangenen Tagen, wenn Chris mir über das Schreiben des Buchs berichtete, waren wir öfter deutlich über eine Stunde mit Mable im Park gewesen. Mit Erleichterung vernahm Sandra die kurz darauf ertönende Türklingel. Chris war wieder zurück.
„Siehst du, das habe ich erwartet. Er kommt früher wieder, weil er sich heute keine Auszeit nehmen kann. Er muss seine Kräfte einteilen, um uns weiter diese Farce vorspielen zu können.“ Ich ging zur Türe, drückte den Öffner und kehrte unmittelbar in die Küche zurück. Kurz darauf kam Mable in die Küche gestürmt und begrüßte uns freudig. Ein paar Augenblicke später stand Chris in der Türe.
„Wie weit seit ihr mit backen?“
„Wir sind gut vorangekommen. Noch zwei Bleche, dann können wir Abendessen“, erwiderte Sandra sichtbar erfreut ihn wiederzusehen.
„Gut, ich setze mich solange wieder vor den Kamin und lese weiter.“
Gefolgt von Mable verließ Chris die Küche. Sandra schaute mich bedeutungsvoll an und flüsterte:
„Genau davon habe ich gesprochen.“
Eine Stunde später waren wir mit Backen fertig. Sandra half mir noch eine Zeitlang die Küche aufzuräumen, bevor sie Chris und Mable am Kamin Gesellschaft leistete. Anstatt, wie ursprünglich geplant zu kochen, bestellten wir uns an diesem Abend Essen bei einem Lieferservice. Weder Sandra noch ich verspürten nach einem vollen Nachmittag in der Küche Lust Essen zu kochen. Wie die Tage zuvor verbrachten wir den Rest des Abends in meinem Esszimmer, spielten Karten und unterhielten uns nebenbei über allerlei Verschiedenes, bis die beiden sich gegen 22:15 Uhr auf den Heimweg machten.

   Um den Abend gemütlich ausklingen zu lassen, holte ich mir ein Glas Whisky nebst Zigarre und setzte mich vor den Kamin, in dem die letzten Holzreste langsam verglühten. Ich hatte mich für einen Laphroaig Elements of Islay Lp5 entschieden, der nach meiner Überzeugung sehr gut zu einem feucht kalten Dezemberabend passte. Als ich mein Feuerzeug aus der Hosentasche zog, fiel der kleine Zettel mit Sandras Nummer zu Boden. Ich hob ihn auf, legte ihn auf den kleinen Tisch und wurde nachdenklich. Ich erinnerte mich wieder an den Abend, als ich Chris die Geschichte von Geraldine und mir erzählt hatte. Wir hatten uns für 19 Uhr verabredet, Chris war aber erst nach 19:30 gekommen. Damals war es Chris, obwohl er sehr warm angezogen war und in meinem Wohnzimmer circa 23 Grad herrschten, ungewöhnlich kalt. Er hatte sogar gezittert. Konnte es möglich sein, dass Chris an jenem Abend noch unter den Auswirkungen einer dieser, von Sandra beschriebenen Anfälle litt? Ich versuchte ein Muster in Chris Verhalten zu finden und ließ die gesamten letzten vier Wochen Revue passieren. Es gab einige Anhaltspunkte dafür, dass Sandra Recht hatte. Als ich Chris im Anschluss an unseren Spaziergang zum ersten Mal auf einen Kaffee einlud, blieb er nicht besonders lange, bis etwa 18:30 und hatte es dann eilig nach Hause zu gehen. Unser zweites abendliches Treffen wegen des Buchs für Geraldine verlegte er, nachdem er den ursprünglichen Termin ohne Begründung abgesagt hatte, auf den folgenden Tag um 19:30. In den letzten beiden Wochen waren unsere gemeinsamen Spaziergänge nur dann länger als 45 Minuten, wenn Sandra und er abends nicht zu mir kamen. Chris hatte ganz offensichtlich ein System entwickelt, welches es ihm ermöglichte seiner Umwelt Normalität vorzugaukeln und jene Einschränkungen, die seine Krankheit mit sich brachten, zu verbergen. Auch vor mir. Dazu gehörte, neben sehr viel Disziplin, ein gewisses organisatorisches Talent. In bestimmter Weise war das für mich nachvollziehbar und verständlich. Wer möchte schon dauernd darauf angesprochen werden, wie es einem geht? Zudem erinnerte ich mich daran, mit welchem Stolz, der auch Sandra nicht entgangen war, Chris mir erzählt hatte, dass er wieder in der Lage sei, sein Leben weitestgehend alleine meistern zu können. Nur warum er mit Sandra seit seiner Untersuchung im Oktober ebenso umging, konnte ich mir nicht erklären. Dass der Auslöser nur ihr Gespräch mit seinem Arzt gewesen sein sollte, welches Chris unter Umständen belauscht hatte, klang für mich nicht abschließend überzeugend. Chris musste wissen, dass Sandra jedes Detail über seine Krankheit kannte. Immerhin hatte sie ihn die ganze Zeit begleitet und sicher nicht das erste Mal mit seinem Arzt gesprochen. Niemand, außer seinen Ärzten und ihm, kannte seinen wahren Zustand besser als Sandra. Am Wahrscheinlichsten erschien mir, dass ihm Sandras Fürsorge ab und an zu viel wurde. Zog man in Betracht, in welch unterschiedlicher Verfassung sich Chris von Tag zu Tag befinden konnte, war das richtige Maß dieser Fürsorge zu finden für Sandra bestimmt eine schwere, an manchen Tagen schier unlösbare Aufgabe und wahrscheinlich schoss sie dabei hin und wieder über das Ziel hinaus.