Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 7 – Ein Winternachtstraum

   Durchgefroren von dem knapp einstündigen Spaziergang heizte ich den Kamin an und ließ mich in einem der Ledersessel davor nieder. In gewisser Weise zufrieden, dass ich mit meiner Vermutung, Chris hatte mit Irina niemals abgeschlossen richtiggelegen hatte, streckte ich meine Hände in Richtung des wärmenden Feuers und dachte daran, was Chris mir alles erzählt hatte. An diesem Nachmittag hatte mich Chris mit einigem überrascht, mit manchem entsetzt. Diese unglaubliche Geschichte, die bislang ihr vorläufiges Ende mit Chris Brief im letzten Sommer gefunden hatte, setzte sich fort. Ein Brief, über den ich mich damals ausgiebig und kontrovers mit Geraldine unterhalten hatte. An dessen Inhalt ich mich nur zu genau erinnerte und den Geraldine anders verstanden hatte, als ich. Er war der Schüssel zu allem. Chris hatte ihr damals geschrieben, sollte es positiv ausgehen würde sie eine Nachricht in ihrem Zauberwald finden, wo immer das auch war. Oder im schlimmsten der Fälle jene Schachtel Zigaretten bekommen würde, die er ihr noch schuldete. Nur die Monate vergingen ohne eine dieser Nachrichten. Beurteilte man die Situation auf Grundlage dieser Tatsache, war es ein eindeutiges Zeichen, dass noch nichts entschieden war und Irina eigentlich beruhigt ihr Leben hätte weiterführen können. Aber so war es nicht. Sowohl Chris als auch mir war bei der Einschätzung von Irina ein entscheidender Fehler unterlaufen. Entsprachen Chris Schilderungen der Wahrheit und welchen Grund hätte er mich zu belügen, dann gab es für Irinas Albträume und Ängste, die diese Kontrollfahrten und letztlich ihre Rückkehr auslösten nur einen einzigen Grund. Sie liebte Chris nach wie vor und er war ihr viel wichtiger, als sowohl er als auch ich immer angenommen hatte. Eine jetzt absolut unstreitige Tatsache. Das bedeutete wiederum, dass Geraldine mit ihrer Einschätzung der Gefühle Irinas für Chris Recht gehabt hatte. Wenigstens aber auch, dass ich Recht behalten hatte, auf einen solchen Brief reagiert jeder. Früher oder später. Irina hatte sehr spät reagiert, aber sie hatte reagiert. Die Art und Konsequenz ihrer Reaktion rang mir großen Respekt ab. Meine Achtung vor dieser Frau, die ihren Gefühlen gegen alle Widrigkeiten, vor allem gegen das für sie bestimmt höchst absonderliche Verhalten von Chris in den letzten Monaten gefolgt war, war groß geworden. Der Gedanke, diese Frau letzten Sommer verurteilt und ihre Gefühle derart in Frage gestellt zu haben, war mir jetzt äußerst unangenehm. Meine Hände waren wieder warm geworden. Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und versuchte unsere Unterhaltung zu rekapitulieren. Mir fiel es ungewohnt schwer alles in geordnete Gedanken zu fassen. Stichwortartig sausten Fragmente unserer Unterhaltung in meinem Kopf umher, bis mir mein Instinkt urplötzlich sagte, irgendetwas stimmte hier nicht. Chris Zweifel mussten noch eine andere Ursache haben, als jene, die er mir gegenüber genannt hatte. Überdies war mir wichtig herauszufinden, warum Chris gegenüber Irina von 2 Jahren gesprochen hatte und ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte. Dafür musste es ein Motiv geben und wie ich vermutete ein sehr gewichtiges. Was immer Chris damit auch bezweckte, ich konnte über seine möglichen Beweggründe nachdenken so viel ich wollte. Für mich ergab es keinen Sinn. Das unablässige Knurren meines Magen erinnerte mich daran, dass ich unbedingt etwas essen sollte. Ich ging in meine Küche, schob eine Tiefkühlpizza in den Backofen, stellte den Timer auf 13 Minuten und setzte mich wieder vor meinen Kamin. Warum passte der Eindruck den ich heute von Chris hatte nicht zu der Situation? Würde Geraldine plötzlich vor meiner Türe stehen und mir in die Arme fallen, wäre ich der glücklichste Mensch auf der Welt. Allein die Tatsache, dass sie wieder in meinem Leben wäre, würde ausreichen mich glücklich zu machen und die ersten Tage mich sicher viele der Dinge, die mich beschäftigten vergessen lassen. Chris hatte dieses unglaubliche Glück, dass Irina zurückkam, weil sie ihn genauso liebte, wie er sie. Der Timer des Backofens riss mich kurzzeitig aus meinen Gedanken. Mein Essen war fertig. In Viertel geschnitten aß ich die Pizza stehend in der Küche und dachte weiter über den Spaziergang mit Chris nach. Immer stärker beschlich mich das Gefühl, dass Chris mir einiges verschwiegen haben musste. Wieder, wie schon so oft zuvor in dieser Geschichte, hatte ich mehr Fragen als Antworten. Ich wollte unbedingt wissen, was in Chris tatsächlich vor sich ging. Es gab einen Weg schnell und ohne viel Aufwand Antworten auf diese Fragen zu finden. Ich müsste nur wieder Chris Tagebuch und seine E-Mails lesen. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass Chris meinen Remotezugang nicht längst geschlossen hatte. Ich biss ein Stück von meiner Pizza ab und überlegte, welche Wege es noch gab in Erfahrung zu bringen, warum Chris so eigenartig reagiert hatte. Sandra zu fragen machte wenig Sinn. Sie wusste noch nicht einmal das Chris und Irina wieder ein Paar waren. Wie sollte sie dann wissen, was in Chris vorging und welchen Ursprung seine Zweifel hatten. Somit blieb nur ein Weg. Ich steckte den Rest meiner Pizza in den Mund und verließ die Küche. Auf dem Weg in mein Arbeitszimmer kamen mir große Bedenken. Schon mit der Art der Recherche für mein Buch hatte ich mich über alle Grenzen des vertretbaren hinweggesetzt und zu dieser Zeit war Chris noch ein Fremder für mich. Heute war Chris mein Freund. Das machte einen großen Unterschied und alles viel komplizierter. Durfte ich, wenn es zum Besten eines Freundes war, diese Grenzen erneut überschreiten? Es war die alte Frage, wieviel Böses muss ich tun, um Gutes zu erreichen. Eine Frage über die sich schon klügere Köpfe als ich Gedanken gemacht hatten, ohne dabei je auf eine allgemeingültige Lösung gekommen zu sein. Zudem ließ sich die Frage, was am Ausspähen von Chris Daten überhaupt für ihn gut sein sollte, primär kaum anders beantworten, als mit der Befriedigung meiner Neugierde. Unschlüssig ging ich minutenlang in meinem Flur auf und ab. Chris Wohl lag mir sehr am Herzen und ich wollte wissen, wie es ihm wirklich ging. Was ihn tatsächlich beschäftigte. Folglich musste ich alles tun, um das herauszufinden. Zur Not Gesetze brechen, Regeln missachten und in letzter Konsequenz Vertrauen missbrauchen. Sollte Chris mit seinen Befürchtungen Recht behalten, musste ich vorbereitet sein. Dazu sollte ich Entwicklungen früh genug erkennen können, um zum richtigen Zeitpunkt für ihn da zu sein. Ich beruhigte mein überaus schlechtes Gewissen damit, dass der Remotezugang ohnehin nicht mehr funktionieren würde, ich es aber wenigstens versucht hatte. Ich startete mein Computer, öffnete das Terminalfenster und das Programm begann eine Verbindung aufzubauen. Nach wenigen Sekunden erschien jedoch nicht die von mir erwartete Fehlermeldung, sondern das Verzeichnis von Chris PC. Zu meiner großen Verwunderung hatte er den Remotezugang nicht geschlossen. Dass er vergessen hatte ihn zu schließen war absolut unwahrscheinlich, genauso wie dass er ihn nicht gefunden hatte. Er kannte die Programme, welche die Firma einsetzte in und auswendig, musste wissen, wie ich mir Zugang zu seinem Rechner verschafft hatte. Für ihn wäre es ein leichtes gewesen diesen zu sperren. Dennoch war er nach wie vor geöffnet. Noch eine Frage auf die ich eine Antwort finden musste. Zuerst widmete ich mich Chris E-Mails. Weitestgehend stimmte ihr Inhalt, mit dem was Chris erzählt hatte überein. Nur dass Irina, wie schon so oft zuvor, auch diesmal wieder Musik gebraucht hatte um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen hatte Chris nicht erwähnt. Noch immer etwas, dass mir ausnehmend gut an ihr gefiel und mich erneut beeindruckte. Aber nicht nur Irina hatte das in der Vergangenheit bereits wiederholt getan, sondern auch Chris. Eine einfache und wunderschöne Form der Verständigung. Gleichzeitig eine bleibende Erinnerung an den anderen, wann immer einer der beiden eines dieser Lieder hörte. Ich beneidete die beiden um diese Form der Kommunikation, für die man allerdings den richtigen Partner braucht. Mit Geraldine, die sich nicht viel aus Musik machte und im Wesentlichen die aktuellen Charts hörte, wäre eine solche Kommunikation kaum möglich. Wie sie bestimmt zwischen vielen Menschen nicht möglich war. Die E-Mails vom 21. Januar waren die üblichen E-Mails zweier Verliebter. Wobei mir auffiel, dass ihre eine Spur gefühlvoller waren, als seine. So, als würde Chris sich zurückhalten, ihr seine Gefühle für sie nicht in vollem Umfang zeigen wollte. Mir leuchtete das nicht ein, passte aber zu meinem Eindruck von heute Nachmittag. Die Kette, das Armband, ihre Sachen, die er in seinem Bad stehen lassen hatte. All das sprach eine andere Sprache als seine Zurückhaltung in den E-Mails. Der Ablauf, so wie ihn Chris mir berichtet hatte stimmte also dem ersten Anschein nach und ich hatte keinen Anhaltspunkt gefunden, der Chris Zweifel nur annährend erklären könnte. Mit der Struktur seines Computers noch vertraut, navigierte ich anschließend zu dem Ordner mit seinen Tagebüchern. In der Hoffnung hier eine Erklärung für Chris ungewöhnlich gedrückte Stimmung zu finden, öffnete ich das Verzeichnis 2015 und anschließend die sich darin befindende Datei Q1. Der erste für mich interessante Eintrag war der vom 20. Januar. An diesem Montag hatte mit Irinas E-Mail alles wieder begonnen. Sein Tagebucheintrag begann auf Seite 17 ganz oben. Alles was Chris mir über den Verlauf dieses Tages im Park berichtet hatte, deckte sich mit seinen Aufzeichnungen, er hatte nur ein paar nicht unwichtige Details weggelassen. Zunächst endete sein Eintrag vom 20. Januar mit den Sätzen:

„…Kurz vor 10 kam noch eine E-Mail. „Wäre gerne mal wieder in deinem Arm eingeschlafen“. Noch eindeutiger geht es nicht mehr. Nun liegen ihre Karten auf dem Tisch und ich frage mich, wie ich damit umgehen soll? Obwohl ich sie mehr liebe, als sie sich je vorstellen kann, habe ich ihr nicht mehr geantwortet, weil ich nicht weiß, was ich darauf sagen soll. Mit jemanden einzuschlafen zu wollen, heißt eine Beziehung zu wollen. Und eine Beziehung will ich nicht mehr. Mit niemand. “

Um 3:28 folgte der alles verändernde Nachtrag:

„Statt zu schlafen habe ich mich jetzt 4 Stunden im Bett hin und her gewälzt und mit einer Frage beschäftigt, von der ich ausging, dass ich sie nie wieder neu entscheiden muss. Ich war überzeugt ich hätte alles getan, das Denkbare und das Undenkbare, um diesen Tag zu verhindern. Ich habe nicht vergessen, warum das alles so passiert ist und es gab tausend und einen Grund dafür. Aber meine Sehnsucht nach ihr ist so groß, dass ich sie bei mir haben möchte. Meine Gefühle für sie haben sich nicht geändert und sie werden es auch nie. Das weiß ich schon viel zu lange viel zu gut. Dieses große Gefühl, dass ich nie abstellen konnte, der große Wunsch sie an meiner Seite zu haben, er ist heute Nacht stärker als je zuvor. Ich habe sie schon viel zu lange vermisst. Und jetzt? Zieht man alles in Betracht, wäre es am Vernünftigsten, den Kontakt mit dem Vorwand, dass ich eine neue Freundin habe oder sonst einem fadenscheinigen Grund wieder abzubrechen. Aber ich will sie nicht anlügen. Was hat Vernunft am Ende überhaupt gebracht? Nichts, rein gar nichts. Ich hätte es besser wissen müssen. Nach 9 Monaten Funkstille, wer weiß wie vielen unbeantworteten E-Mails und Anrufen solche Sätze zu schreiben dazu gehört eine ganze Menge und nicht nur Mut. Ich weiß nicht, ob ich es an ihrer Stelle getan hätte. Vermutlich nicht. In dieser langen Zeit kann sich sehr viel verändert haben. Die Chance gegen eine Wand zu laufen und dabei verletzt zu werden wäre mir wahrscheinlich zu groß. So sehr könnte ich nie über meinen Schatten zu springen. Einfach zurückkommen und sagen ich liebe dich. Genau diese Seite an ihr, die sie leider viel zu selten zeigt, viel zu wenig lebt, liebe ich so sehr an ihr. Warum nicht die verbleibende Zeit nutzen und sehen was passiert? Ob ich mit den Gründen für meine Entscheidung Recht oder Unrecht hatte? Die Zeit zeigen lassen, welche Dinge sich geändert haben und welche nicht. Vielleicht hat sich ja etwas geändert? Ich weiß heute nur, dass mein Plan nicht so funktioniert hat, wie ich es mir vorgestellt hatte und dass sie mich offensichtlich liebt. Über beides bin ich heute Nacht sehr froh. Deshalb kann es nur eine Antwort auf ihre Frage geben. Ich auch gerne in deinen. Sie hat diese Antwort mehr als verdient. Aus tausend und einem Grund. Wohin uns dieser Weg auch immer führen wird, es wird ein schwerer Weg werden und ich weiß nicht, ob meine Zeit und ihre Kraft dafür ausreichen. Trotzdem bin ich jetzt bereit ihn mit ihr zu gehen und ich werde alles dafür tun. Ich will sie nie wieder vermissen müssen.“

Mit diesem bemerkenswerten Eintrag rückte Chris vollkommen von der Position ab, die er seit letztem Frühjahr innehatte. Er musste erkennen, dass sein Plan Irina aus seinem Leben fernzuhalten nicht funktioniert hatte und revidierte diese Entscheidung jetzt. Auch wenn sie erkennbar mit Zweifeln, deren Ursprung mir unklar blieben, verbunden war. Dennoch war es in Anbetracht dessen, was sich an diesem Tag zugetragen hatte die absolut richtige Entscheidung. Gleichzeitig war dieser Eintrag der finale Beweis dessen, was ich immer vermutet hatte. Chris hatte nie aufgehört Irina zu lieben. Sie war stets ein Teil seiner Welt geblieben und würde, das stand heute fest, es immer sein. Ob Irina überhaupt eine Vorstellung davon hatte, wie sehr Chris sie liebte? Bei vielen Paaren hatte ich als Antwort auf den Satz ich liebe dich, schon gehört, ich dich mehr. Auch bei Beurteilungen Dritter, war mir die Aussage er oder sie liebt ihn mehr häufig begegnet. War das überhaupt möglich? Wenn ja, dann sicher nicht bei diesen beiden. Niemand, der auch nur eine winzige Spur Verstand besaß, würde bei Chris und Irina je sagen können, dass einer den anderen mehr liebt. Nicht nach diesem Tag. Diese Beiden hatten etwas Einzigartiges um dass ich sie aufrichtig beneidete. Die große Liebe, die alle Hindernisse überwinden konnte. Eine, wie ich sie mir für Geraldine und mich ebenfalls wünschte. Erwartungsvoll las ich weiter. Seine Aufzeichnung über den 21., eine mit fast zwei Seiten sehr umfangreiche, enthielt noch erheblichere Abweichungen. Dort standen Dinge, die Chris mir wohlweislich verschwiegen hatte. Irina hatte noch einen Freund, als sie diese Nacht mit Chris verbrachte. Für einen Augenblick überkam mich beim Lesen dieser Zeilen ein unangebrachtes Gefühl der Genugtuung. Meine Vermutung im letzten Frühsommer, auch wenn es nicht ihr Exfreund war, war also doch richtig gewesen. Sie hatte einen anderen und Chris hatte es damals geahnt. Welch eine Ironie des Schicksals, dass sie ihn in dieser Nacht mit Chris betrog. Mir war klar, warum Chris mir das verschwiegen hatte. Es zeichnete nicht gerade ein positives Bild von Irina. Oder gerade doch? Ich war mir nicht sicher. Man konnte es durchaus so sehen, dass sie, wie dieser Freund von Chris einst über sie gesagt hatte, nahtlos von einer Beziehung in die nächste überging. Oder aber so, dass sie dem stärksten ihrer Gefühle folgend wieder zu Chris zurückkehrte und aufgrund der für sie unerwarteten, sich überschlagenden Ereignisse nur noch keine Zeit gehabt hatte, diese andere Beziehung zu beenden. Dem Grundsatz in dubio pro reo folgend entschied ich mich für die zweite, in meinen Augen sehr viel wahrscheinlichere Variante. Im Gegensatz zu mir schien sich Chris über diesen durchaus wichtigen Sachverhalt keinerlei Gedanken zu machen. Er schrieb darüber wie in einem Bericht. Ohne Wertung und ohne Kommentar. Mir war nicht ganz verständlich, warum Chris sich über einen in meinen Augen so wichtigen Punkt nicht äußerte. Etliche Zeilen weiter schrieb er über ein neues Tattoo, welches sich Irina auf ihr linkes Schulterblatt stechen lassen hatte. Das Wort Liebe in drei Sprachen. Chris machte sich einige Gedanken über dieses Tattoo.

„…man muss sie in sich tragen, nicht auf sich. Sonst verkommt sie zu einem Statement mit rein dekorativem Charakter. Sie ist wie ein roher Diamant. Wertvoll und einzigartig. Viele erkennen ihn nicht und werfen den in ihren Augen wertlosen Stein achtlos weg, um ewig weiter nach dem Diamanten ihrer Vorstellung zu suchen. Geschliffen und funkelnd. Aber so kommt er in der Natur nicht vor. Es muss viel Arbeit, Zeit und Geduld investiert werden, um aus einem rohen Diamanten den glänzenden Stein unserer Träume zu machen. Ich wünsche dir, dass du einen Weg findest, die Worte deines Tattoos eines Tages in ihrer wahren Bedeutung leben zu können. Sei mutig und glaube einfach an sie. Ohne die dich umgebenden Einschränkungen.“

Chris hatte einen poetischen Vergleich gewählt. Lediglich die Bedeutung des letzten Satzes erschloss sich mir nicht. Was genau meinte Chris mit diesen umgebenden Einschränkungen? Etwas weiter unten stand die Bestätigung meiner Vermutung, die ich an Neujahr geäußert hatte, dass Frauen fast alles bemerkten und im Zweifel Fragen stellten. Irina hatte Chris auf sein Armband mit den beiden S angesprochen und zu meinem Erstaunen hatte ihr Chris die Wahrheit über dessen Bedeutung erzählt. Anders als bei seiner Halskette, nach der ihn Irina ebenfalls gefragt hatte. Hier verschwieg er Irina einige wichtige Details. Wo er sie sich gekauft hatte und besonders die finale Bestimmung der Kette. Im Anschluss daran schrieb Chris über seine falsche Zeitangabe. Leider war diese Erklärung wenig aufschlussreich. Chris ging nicht im Geringsten auf seine Beweggründe ein, sondern stellte ausschließlich die Notwendigkeit fest.

„…obwohl Zeit einer der wichtigsten Faktoren hier ist, wäre die Wahrheit im Augenblick nicht hilfreich. Ganz im Gegenteil. Sie muss das Gefühl haben, genug Zeit zur Verfügung zu haben, um sich nicht eingeschränkt zu fühlen. So leid mir diese Lüge tut, sie war in vielerlei Hinsicht notwendig. Eines Tages wird sie verstehen warum.“

Chris Tagebuch bestätigte meine Vermutung, dass er Irina nicht grundlos die Unwahrheit gesagt hatte. Seine Gründe dafür blieben jedoch im Dunkeln. Ohne Hinweis darauf, weshalb er diese Entscheidung getroffen hatte, konnte ich nur raten, was Chris damit bezweckte. Sicher war ich mir nur, Chris verfolgte ein Ziel. Gegen Ende des Eintrages befanden sich die unglaublichsten Zeilen. Die beiden hatten sich in ihrer ersten gemeinsamen Nacht seit Monaten über das Heiraten unterhalten. Und zwar nicht nur so irgendwie im Allgemeinen, sondern sogar über einen möglichen Termin. Den 18. November. Allerdings schränkte Chris gleich darauf ein, dass er sich sicher sei, dass dies nur einer von Irinas nicht ernstzunehmenden Späßen war. Mir blieb die Luft weg und ich verspürte den Drang mir dringend ein Glas Whisky holen zu müssen. Darüber konnten die beiden nicht im Ernst gesprochen haben. Nicht in ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Ich lehnte mich in meinen Stuhl zurück und wippte unruhig auf und ab, als mir Geraldines nachdrücklicher Hinweis auf eine Textstelle in diesem Lied, das Irina vor fast einem Jahr Chris geschickt hatte wieder in den Sinn kam. Genauso, wie sie dieser Stelle besonderes Augenmerk geschenkt hatte, hatte sie auch einer Zeile in Chris letztem Brief an Irina große Beachtung geteilt. In guten, wie in schlechten Zeiten. Im Gegensatz zu mir, maß Geraldine dieser Zeile eine enorme Bedeutung zu. Für sie war diese Zeile sehr eindeutig und von ungeheurer Wichtigkeit. Was wenn Irina diese Zeile genauso verstanden hatte wie Geraldine und deshalb in ihrer ersten E-Mail diese ungewöhnliche Formulierung gebraucht hatte? Vielleicht war es den beiden viel ernster, als ihnen bewusst war? Oder sie sich selbst gegenüber zugeben wollten? Jedenfalls war dieses Thema nicht neu und bei genauerer Betrachtung noch nicht einmal unerwartet. Ein paar Zeilen widmete Chris auch den Einschränkungen, die er aufgrund seiner Medikamente beim Sex mit Irina hatte. Seine Hoffnung war, dass ihr in dieser glücklichen Nacht nichts aufgefallen war. Es war deutlich zu spüren, wie traurig er in dieser Nacht darüber war und wie sehr er seine Medikamente als Beschränkung empfand. Mich hatte ohnehin gewundert, dass Chris in dem Bewusstsein seines Handicaps überhaupt mit Irina schlafen konnte. Chris Liebe zu Irina schien sogar diese Nebenwirkungen überwinden zu können. Er beendete seine Aufzeichnung über diesen denkwürdigen Tag mit äußerst liebevollen Worten für Irina und einer wunderschönen Beschreibung des alles andere überdeckenden Gefühls, sie wieder in den Armen zu halten.

„ …das Gefühl mit Irina wieder eins zu sein ist überwältigend. Beinahe surreal. Ich finde keine Worte, die nur annährend geeignet wären, dieses unendliche Glück zu beschreiben. Der Geschmack ihrer Küsse, der Duft ihrer Haut, der Klang ihrer Stimme, ihren Atem zu spüren. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt für mich. Irina heute Nacht in den Armen zu halten lässt mich im Augenblick alles vergessen. Jeden Schmerz, jede Angst. Diese Nacht ist mein wahrgewordener Winternachtstraum und Irina der Engel darin. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass diese Nacht ewig dauert.“

Tief bewegt von diesen Worten verließ ich kurz meinen Schreibtisch, um mir nun doch ein Glas Whisky zu holen. Gespannt darauf, was mich noch alles erwarten würde, kehrte ich mit einem Glas Bruichladdich Laddie Twenty Two gleich darauf zurück.

   Der Eintrag vom 22. Januar beinhaltete nicht ganz so Überraschendes. Irina hatte die Beziehung mit ihrem Freund beendet. Über den Verlauf dieses Tages notierte Chris, dass Irina ihm im Anschluss an die Trennung eine E-Mail geschrieben hatte, in der sie sich als schlechter Mensch und Monster bezeichnet hatte und sie jetzt auf den Sturm wartet, der von allen Seiten auf sie hereinbrechen würde. Ich wunderte mich über diese Wortwahl Irinas und überprüfte zur Sicherheit Chris E-Mails. Irina hatte genau diese Worte über sich gebraucht und mir erschloss sich nicht, warum sie sich selbst derart schlecht redete. Niemand bezeichnet sich gerne als Monster oder schlechter Mensch. Ich trank einen Schluck meines Bruichladdichs, bevor ich weiterlas. Drei Zeilen später schrieb Chris über ein Telefonat, welches er am späten Nachmittag mit Irina geführt hatte. Irina hatte ihm in dessen Verlauf eröffnet, dass sie ihrem Exfreund und seiner Tochter in der nächsten Zeit bei dessen bevorstehenden Umzug helfen würde, wie sie es ihm versprochen hatte. Des Weiteren erklärte sie Chris, dass sie ihren Exfreund ohnehin noch öfter treffen müsse, da sie in seinem Haus eine größere Menge an Kleidung, Kosmetikartikel und anderer Gegenstände zurückgelassen hatte. Ich lehnte mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und dachte über diese Zeilen nach. Ich erinnerte mich an einen Eintrag in seinem Tagebuch Anfang November 2011. Damals hatte Chris ausführlich über ein aus seiner Sicht einschneidendes Ereignis geschrieben. Irina hatte ihre Nachtcreme bei ihm abgeholt und er hatte dies als Zeichen der bevorstehenden Trennung gewertet. Mir war dieser Eintrag gut im Gedächtnis geblieben. Da Irina an diesem Tag nur diese Creme, nicht aber den Rest ihrer Sachen abgeholt hatte, konnte ich seine Gedanken damals nicht ganz nachvollziehen. Dennoch hatte sich Chris über dieses Ereignis viele Gedanken gemacht. Aber er hatte nie davon geschrieben, dass Irina ihre Kleider oder andere Dinge abgeholt hatte, weder im Winter 2011, noch im Frühjahr 2013. Demzufolge hatte Irina in Chris Wohnung niemals irgendwelche Kleidung gelassen. Irgendwie passte dazu auch die geringe Menge an Kosmetik, die ich bei meinen Besuchen in Chris Wohnung in seinem Bad gesehen hatte. Ich war anfänglich davon ausgegangen, dass Irina zu den Frauen gehört, die nur wenig Pflegeprodukte benötigen. Betrachtet man aber seine heutige Aufzeichnung hinterließ das einen fahlen Beigeschmack. Auch die Tatsache, dass Irina ihrem ehemaligen Freund noch bei seinem Umzug helfen wollte missfiel mir. Welchen Sinn macht es, wenn man sich trennt und im Anschluss daran mehr oder weniger so weitermacht, wie bisher? Sonderbarerweise ging Chris mit keinem Wort darauf ein. Er nahm weder Stellung zu diesem ungewöhnlichen Verhalten von Irina, noch kommentierte er es in irgendeiner Weise. Stattdessen machte er sich an diesem Tag mehr Gedanken darüber, warum Menschen dazu neigen vor großen Gefühlen eher wegzulaufen. Ich war mir nicht sicher, ob er damit sich oder Irina meinte. Im Zweifel wahrscheinlich beide. In ein paar Zeilen brachte Chris auch wieder seine Bedenken der Beziehung gegenüber zum Ausdruck. Diese Bedenken setzten sich in seinem Eintrag vom folgenden Tag deutlicher fort.

„…Mir geistert immer noch das im Kopf rum, was sie einmal über sich und ihr Helfersyndrom gesagt hat. Was wäre wenn das hier nur ein temporärer Ausbruch dieses Helfersyndroms, verbunden mit zugegeben großartigem Sex ist? Wäre das wirklich denkbar? Rational betrachtet auf keinen Fall. Für sie hätte es vollkommen ausgereicht, zu wissen wie es mir geht und gelegentlich Kontakt zu haben. Vielleicht hin und wieder auf einen Kaffee vorbeizuschauen. Deswegen eine Beziehung anzufangen, zu sagen, ich liebe dich, wäre mehr als eine überflüssige Übertreibung. Es gehört immer eine Menge Mut, Selbsterkenntnis und noch viel mehr Liebe dazu, zu einem Menschen zurückzukehren. Ganz besonders in dieser Situation. Ich habe immer gefühlt, dass sie es kann, ihr aber nie zugetraut, dass sie es überhaupt noch versuchen würde. Aber so wie eine Schwalbe noch lange keinen Sommer macht, bleibt offen, wie lange sie sich selbst leben kann, bevor alles andere wieder die Oberhand gewinnt.“

In meinen Augen waren Chris Zweifel verständlich, aber nicht berechtigt. Selbst wenn man die Vorgeschichte der beiden, mit all ihren Ungereimtheiten in den letzten 3 Jahren betrachtete. Die Tatsache, dass Irina wieder zu ihm zurückgekehrt war, sprach eine unmissverständliche Sprache. Sie liebte Chris.

   Der bislang letzte Eintrag stammte vom 24. und stimmte mich außerordentlich nachdenklich. Chris schrieb über eine Äußerung von Irina. Sie hatte während eines gemeinsamen Spaziergangs: Mal sehen, wann ich dir wieder weglaufe, zu Chris gesagt. Normalerweise ein Satz, der dazu geeignet ist, das Vertrauen in den Partner und die Beziehung auf das Nachhaltigste zu beschädigen. Doch Chris Reaktion darauf war mehr als unerwartet. Genau wie seine Wortwahl mit der er sie beschrieb.

„..Ich weiß, dass dieser Satz keine Drohung oder Spaß war, es ist eine Ankündigung. Normalerweise mehr als Grund genug für einen nahtlosen Übergang von DefCon 5 zu DefCon 2. So sehr er mich entsetzt hat, er war nicht überraschend. Daher sehe ich im Augenblick keine Notwendigkeit von DefCon 4 abzuweichen. Es war ein vorhersehbares Szenario, das im Moment keine weitere Reaktion erfordert.“

Diese Sätze lasen sich wie ein Tagesbericht der Firma, in der eine bestimmte Situation eingeschätzt wird. Kühl und sachlich. Auch seine Wortwahl, die mir nicht sonderlich gefiel, stammte aus dem Wortschatz, den die Firma verwendet. DefCon steht für Defense Condition und gibt Auskunft über den allgemeinen Alarmzustand auf Basis der augenblicklichen Einschätzung der politischen Lage. Normalerweise steht diese auf Stufe 5, gleichbedeutend mit Frieden. In der ganzen Zeit seit der Einführung dieses Systems wurde nur einmal DefCon2, das für Verteidigungsbereitschaft und Mobilmachung steht, ausgerufen. Im Oktober 1962 während der Kuba-Krise. Selbst DefCon 3 gab es nach meinem Wissen nur zweimal, 1973 während des Jom Kippur Krieges und 2001 nach den Anschlägen auf das World Trade Center. Mich erstaunte aber, dass Chris seinen Ausgangspunkt bereits DefCon 4 und nicht DefCon 5 beschrieb. Erhöhte Alarmbereitschaft passte überhaupt nicht zum Anfang einer Beziehung. Viel eher zu einer am Horizont aufziehenden Krise. Ganz offensichtlich war Chris schon vor dieser Äußerung ausnehmend wachsam und ich fragte mich warum. Die Aufrichtigkeit von Irinas Gefühlen für Chris konnte niemand bezweifeln, auch er selbst nicht. Das stand für mich fest. Die Tatsache, dass Irina zu Beginn der Beziehung noch einen Freund hatte, kam ebenfalls nicht in Betracht. Chris selbst maß dieser Angelegenheit in seinem Tagebuch kaum eine Bedeutung zu. Er hatte sie, genau wie den ungewöhnlichen Ablauf der Trennung, lediglich festgestellt, ohne sie zu kommentieren. Blieben seine Zweifel, ob Irina sich bewusst war, was auf sie zukommen wird und ob sie damit umgehen konnte. Diese hatten sich im Grunde seit letzten April nicht verändert. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass Chris nicht bewusst war, dass Irina Monate Zeit gehabt hatte sich ausreichend über seine Krankheit zu informieren. Er hatte in seinem letzten Brief die exakte medizinische Bezeichnung gebraucht, mit deren Hilfe es für Irina sehr einfach gewesen sein sollte, alle für sie notwendigen Informationen zu finden. Ich war überzeugt, sie hatte sich über für und wider ausführlich Gedanken gemacht und am Ende eine bewusste Entscheidung getroffen. Solange ich auch darüber nachdachte, letztlich fand ich keine ausreichende Erklärung dafür, warum Chris seinen Ausgangszustand mit DefCon 4 klassifiziert hatte. Es hätte, um bei dieser Ausdrucksweise zu bleiben, DefCon 5 sein müssen. Lediglich seine ungewöhnlich gedrückte Stimmung konnte ich mir jetzt bis an einen gewissen Punkt erklären. Ungeachtet der Tatsache, dass Chris dieser Äußerung keine große Wichtigkeit zumaß, schloss das nicht aus, dass sie ihn unterbewusst mehr beschäftigte, als ihm bewusst war. Für mich stand außer Frage, dass Chris Vertrauen in Irina durch diese Aussage beschädigt worden sein musste. Ein Riss im Fundament der noch frischen Beziehung. Einen, von dem Irina im Zweifel keine Ahnung hatte, den sie unter keinen Umständen gewollt haben konnte. Im weiteren Verlauf dieses Eintrags beschäftigte er sich mit der Frage, ob er Irina geringfügig mehr darüber aufklären sollte, wie es ihm tatsächlich ging. Anders, als Chris mir bei unserem Spaziergang erzählt hatte, musste er nach allem was ich bislang gelesen hatte noch sehr viel weniger über seinen Zustand mit ihr gesprochen haben. Im Gegenteil. Soweit sich das beurteilen ließ, hatte er im Großen und Ganzen versucht ihr die gleiche Show von Normalität vorzuspielen, wie Sandra und mir in den letzten Wochen. Mit großer Sicherheit sogar eine noch größere. Eine Show von der er wissen musste, sie nicht lange durchhalten zu können. Daher las ich mit besonderem Interesse, was Chris über einen seiner Anfälle notierte, den er an diesem Abend in Irinas Gegenwart gehabt hatte. Dass dieser Anfall eine Folge der Überanstrengung der letzten Tage gewesen sein musste, stand außer Frage. Strengten Chris schon lange Spaziergänge über alle Maßen an, mussten Liebesnächte und damit verbunden zu wenig Schlaf noch weitaus verheerender für ihn sein. Anders als bei Sandra, mit Ausnahme dieses einzigen Mal in Frankreich, war es ihm nicht möglich gewesen diesen vor Irina zu verbergen. Sie verbrachten zu viele Stunden gemeinsam und Chris standen diese Zeitfenster, wie Sandra sie bezeichnete, mit deren Hilfe er gewisse Dinge verbergen konnte nun nicht zur Verfügung. Chris beschrieb die Reaktion von Irina als beinahe panisch, leider ohne darauf einzugehen, wie er diesen Anfall Irina gegenüber erklärt hatte. Nach den Aufzeichnungen dieser vier Tage hatte ich genug gelesen, um zu wissen, wie kompliziert diese Beziehung werden konnte. Da war zum einen Chris, der Irina auf die gleiche Weise manipulierte, wie Sandra und mich. Er spielte auch ihr etwas vor, das nicht der Realität entsprach. Offenkundig hatte er, obwohl dieser Neuanfang alleine von ihr ausging, große Bedenken, wie Irina mit der Situation umgehen würde. Auch der Sinn mancher Sätze in seinem Tagebuch erschloss sich mir nicht. Sie waren kryptisch, mir nicht verständlich. Mit Abstand am Ungewöhnlichsten war aber, dass Chris wichtige Ereignisse und Begebenheiten, die normalerweise eine größere Beachtung finden sollten, lediglich protokolliert hatte. Andere hingegen, die nach meiner Ansicht eher unwichtig waren, wie zum Beispiel das Tattoo schienen Chris überaus wichtig zu sein. Welche Gründe er auch immer dafür hatte, ich konnte sie nicht nachvollziehen. Auf der anderen Seite war Irina, die sich zwar unstrittig ihrer Gefühle für Chris absolut sicher sein musste, aber erkennbar mit der Situation und Chris Zustand Probleme hatte. Ein wenig drängte sich mir der Eindruck auf, dass sie möglicherweise doch ohne schwimmen zu können ins Wasser gesprungen war, in der Hoffnung es wird schon nicht so tief sein und wenn doch, sich ein Weg finden lassen würde, schwimmen zu lernen. In diese Richtung musste auch ihre verunglückte Äußerung über das Weglaufen zu deuten sein. Konnte es nicht ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit gegenüber Chris Zustand sein, für den sie noch keinen Umgang gefunden hatte? Häufig neigen Menschen dazu, ihre Unsicherheit mit Späßen, so deplatziert sie auch an dieser Stelle sein mögen, zu überspielen. Höchstwahrscheinlich hatte sie in diesem Augenblick einfach nur Angst vor ihrem eigenen Mut gehabt? Das diese Äußerung einen ernsten Hintergrund haben könnte erschien mir absurd. Aus ihrer Sicht musste bereits zu viel kostbare Zeit unwiederbringlich verloren gegangen sein. Am meisten Kopfzerbrechen machte mir jedoch, dass sich Chris sehr ausgiebig mit Fragen beschäftigte, anstatt einfach mit Irina glücklich zu sein. Die Zeit, die blieb nutzte, um das Beste zusammen mit ihr daraus zu machen. Das große Problem für die beiden, neben dem alle anderen nichts als unwichtige Kleinigkeiten waren, würde noch früh genug kommen. Eine Zeitlang saß ich noch vor meinem PC und dachte über das gelesene nach, als mir dieses Blatt, auf dem ich während des Flugs nach Phoenix alle offenen Fragen notiert hatte, wieder in den Sinn kam. Es musste noch in meiner Jackentasche sein. Ich ging zu meiner Garderobe, holte den Zettel aus meiner Jacke und kehrte zurück an meinen Schreibtisch. Mehr als die ganzen Wochen zuvor war es jetzt notwendig geworden Antworten auf diese Fragen zu finden. Da ich nicht die ganze Recherche Remote durchführen wollte und mir nicht mehr sicher war, welche Jahrgänge seiner Tagebücher ich schon auf meinen Computer gezogen hatte, kopierte ich alle Tagebücher ab 1986 und sein gesamtes E-Mail-Verzeichnis auf meinen PC. Solange die Daten auf meinen Rechner übertragen wurden holte ich mir ein weiteres Glas Whisky, eine Zigarre und die letzten Weihnachtsplätzchen. Als ich wieder zurückkam war die Übertragung vollständig und ich beendete die Remote Sitzung. Zuerst begann ich mit der Suche nach Hinweisen auf Sandra. Chris hatte letzten Herbst als er das erste Mal von Sandra erzählte hatte gesagt, sie würden sich seit 5 Jahre kennen. Also seit 2008. Ich öffnete alle Tagebücher dieses Jahres und gab den Suchbegriff „Sandra“ ein. Nach wenigen Sekunden war die Suche ergebnislos beendet. So kam ich nicht weiter. Chris hatte mir berichtet, dass er Sandra am Geburtstag seiner damaligen Freundin kennengelernt hatte, leider ohne deren Namen zu erwähnen. Ich versuchte mein Glück mit dem Wort „Geburtstag“. Es gab einige Treffer, die sich aber aufgrund des Kontexts zweifelsfrei anderen Personen, wie zum Beispiel dem von Freunden zuordnen ließen. Schließlich war es der letzte Treffer der mir weiterhalf. Am 11. Dezember schrieb Chris über den Geburtstag seiner damaligen Freundin. Über das Geschenk und darüber, dass er in seiner Hektik eine Frau in der Parfümerieabteilung eines Kaufhauses umgerannt hatte. Jetzt wurde es spannend. Laut Chris Angaben hatte ihn Sandra zwei Tage später angerufen, also am 13. Ich scrollte zu seinem Eintrag vom 13.12. und fing an zu lesen. Nichts, kein Wort über ein Telefonat. Unter Umständen hatte sich Chris um ein oder zwei Tage vertan. Aber auch die folgenden 5 Tage brachten keinerlei Hinweise auf ein Telefonat mit einer Frau oder irgendetwas anderes Ungewöhnliches. Hätte ich Sandra an meinem Geburtstag nicht kennengelernt, und in den folgenden Wochen mit ihr gemeinsam gekocht, Karten gespielt oder mit ihr Plätzchen gebacken, wäre ich geneigt zu sagen, Sandra ist ein Geist. In Chris Tagebuch jedenfalls fand sich nicht der kleinste Hinweis auf sie und das Jahre bevor Irina wieder in sein Leben getreten war. Ratlos lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und dachte nach. Möglicherweise hatten sich Chris und Sandra E-Mails geschrieben anhand deren ich Rückschlüsse ziehen konnte. Ich durchsuchte zuerst den Posteingang, sowie jeden darin befindlichen Unterordner von Chris E-Mail-Verzeichnis mit allen nur erdenklichen Kombinationen, dann den Ordner für gesendete E-Mails, ohne dabei fündig zu werden. Allem Anschein nach hatten sich Chris und Sandra nie E-Mails geschrieben, sondern immer nur telefoniert. Für mich bestand jetzt kein Zweifel mehr, dass Chris Aussage, er hätte Sandra während der Zeit mit Irina nur deshalb nicht in seinem Tagebuch erwähnt, weil er nicht wollte, dass sollte Irina jemals sein Tagebuch lesen sie im Zweifel verletzt werden würde, nur ein Teil der Wahrheit war und das Versprechen, das er erwähnt hatte der andere, aber viel wichtigere Teil war. Ich schloss das E-Mail-Verzeichnis wieder und wandte mich gespannt dem zu, was Chris in seinem Tagebuch über den Urlaub der beiden im letzten September geschrieben hatte. Schnell hatte ich die entsprechenden Einträge gefunden. Chris schrieb über Lisieux, Saint-Laurent-sur-Mer und Saint-Lô, aber kein Wort über eine Begleitung. Alles las sich so, als sei Chris alleine im Urlaub gewesen. Demzufolge gab es auch nicht den kleinsten Hinweis auf den nach meiner Ansicht nicht unwichtigen Streit zwischen Chris und Sandra über diese Kette. Mein besonderes Augenmerk bei diesen Aufzeichnungen galt aber nicht nur der Frage, ob Chris vielleicht versteckt über Sandra geschrieben hatte, sondern ebenso dem, was er über seine Kette notiert hatte. Nach wie vor konnte ich mir nicht ganz erklären, warum Chris sie wirklich gekauft hatte. Nur der Geist dieses Strandes und die Erinnerung daran niemals aufzugeben war in meinen Augen keine hinreichende Erklärung. Genauso wenig, wie die lapidare Feststellung, dass Irina sie eines Tages bekommen sollte. Chris musste sich mehr dabei gedacht haben, davon war ich überzeugt. Allein wegen der Prägung, Psalm 23, Liebe besiegt alles und ewige Treue. Die Zeilen in seinem Tagebuch über diese Kette brachten halbwegs Klarheit. Chris hatte sie nicht nur als Erinnerung an diesen Strand gekauft, die Irina eines Tages als Nachricht bekommen sollte, wie er mir im November gesagt hatte. Diese Kette war viel mehr. Sie sollte nach dem Tag X für Irina ein Andenken an ihn und seine ewige Liebe zu ihr sein. Ein Versprechen für die Ewigkeit, egal was geschehen war. Er bedauerte sehr, dass er ihr in der ganzen Zeit seit April 2011 nie etwas Persönliches geschenkt hatte, das seine Liebe zur ihr zum Ausdruck brachte und dies nun ganz am Schluss geschehen musste. Mit liebevollen Worten beschrieb er seine Hoffnung, diese Kette würde für Irina irgendwann etwas ganz Besonderes sein, wenn sie den Sinn der Prägung für sich richtig deuten kann und sie diese dann hüten wird wie einen Schatz. Wie ich vermutet hatte ging es Chris um die Prägung, aber nicht nur um Omnia vincit amor und Semper Fidelis, wie ich ursprünglich angenommen hatte, sondern auch Psalm 23 richtete sich an Irina. Nur welchen Sinn außer dem Offensichtlichen, sollte sie in darin noch erkennen können? Dass alle 3 miteinander in Verbindung stehen mussten, war jetzt zwingend. Aber wie? Darauf ging Chris zu meinem Bedauern nicht ein. Das war jedoch nicht das einzige bemerkenswerte an diesen Zeilen. Einzigartig war auch der Zeitpunkt, an dem sie entstanden sein mussten. Chris hatte erwähnt, dass sich Sandra, nachdem sie die Kette bemerkt und er ihr gesagt hatte, für wen sie bestimmt sei, die halbe Nacht im Bad eingeschlossen hatte. Ein annähernd unvorstellbarer Gedanke, dass Chris mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in dieser Zeit diese Zeilen geschrieben haben musste.

   Berührt von den letzten Zeilen, die ich gelesen hatte, zugleich unzufrieden damit, weder eine Antwort darauf gefunden zu haben, welchen tieferen Sinn die Prägungen der Marken seiner Kette hatten, noch auf alle Fragen die mit Sandra in Zusammenhang standen, zündete ich mir die Zigarre an. Die Fülle von Ereignissen und Informationen hatten mich beinahe vergessen lassen, dass ich kontrollieren wollte, wie es Chris gesundheitlich tatsächlich ging. Doch die Beschreibung seines Anfalls in Irinas Gegenwart hatte dies überflüssig gemacht und bekräftigte Sandras Verdacht. Zur Sicherheit überflog ich zwei seiner Aufzeichnung vom Dezember, als Chris sein Arbeitszimmer renoviert hatte. In ihnen fand sich die endgültige Bestätigung. Außer über seine Kopfschmerzen, schrieb Chris in diesen Tagen über kurzfristige Ausfälle von Gliedmaßen, Krampfanfällen und diesen Kälteattacken. Ich fragte mich, wie sich Chris das in Zukunft vorstellte? Körperliche Überanstrengungen, zu wenig Schlaf über mehrere Tage, diese Anfälle mussten sich häufen. Er konnte Irina, um diese vor ihr zu verbergen, unmöglich nur Zeitfenster zuteilen, wie Sandra und mir. Das war in einer Beziehung nicht möglich. Würde Chris weiterhin viel Zeit mit Irina verbringen, müsste er ihr irgendwann erklären, was diese Symptome auslöste. Dann müsste er offen mit ihr reden und konnte ihr nicht weiter Normalität vorspielen. Wenn sie wirklich so gefährlich waren, wie Sandra gesagt hatte standen wir alle vor einem großen Problem. Betroffen begann ich die Dateien zu schließen, als mir unvermittelt die Idee kam, nach dieser Eleonore zu suchen. Die Art und Weise, wie Chris von ihr erzählt hatte legten den Schluss nahe, dass ihre Rolle in Chris Leben größer gewesen sein musste, als er zugegeben hatte. Eine Vermutung, die dadurch bestärkt wurde, dass Chris ausgerechnet sie ausgewählt hatte, um Sandra vor Irina zu verheimlichen. Da ich keine Ahnung hatte, in welchem Jahr ich suchen musste, ließ ich ihren Namen in sämtlichen Dateien suchen. In der Hoffnung, diese Beziehung würde nicht soweit zurückliegen, dass noch aus der Zeit der eingescannten handschriftlichen Aufzeichnungen stammte, die nicht nach bestimmten Worten durchsucht werden konnten. Ich lehnte ich mich zurück und zog genüsslich an meiner Zigarre, während das Suchprogramm seine Tagebücher durchforstete. Nach kurzer Zeit wurde mir eine Fülle von Treffern angezeigt. Die ersten stammten aus dem Sommer 1992. Sie reichten fast ohne Unterbrechung bis in den Mai 1993. Daraufhin folgte eine Unterbrechung bis zum Sommer 1997. Vereinzelt welche aus den Jahren 1998, 1999 und 2000. Danach lange Zeit nichts mehr, bis August 2007 und schließlich der letzte vom Oktober 2010. Der Blick auf diese Unmenge Treffer machte mir sofort klar, Eleonore war keine Eintagsfliege in Chris Leben gewesen. Von all diesen Treffern waren jedoch nur die beiden letzten für mich von Interesse. In diesen musste erwartungsgemäß der Grund zu finden sein, warum Chris nicht mehr über Eleonore reden wollte. Am 4. August 2007 hatte Chris notiert, dass er sie zusammen mit ein paar alten Bekannten auf dem jährlichen Sommerfest in der Innenstadt getroffen und sich lange mit ihr unterhalten hatte. Chris beschrieb ihr Verhalten als für sie äußerst befremdend. Sie wirkte auf ihn überdreht und redete für ihre Verhältnisse ungewöhnlich viel. Sobald sie sich von den anderen unbeobachtet fühlte kam sie ihm sehr nahe. Seiner Aufzeichnung nach zufolge für ihn etwas zu Nahe. Chris schrieb, er wollte keine Neuauflage dieser Beziehung mehr. Vollkommen gegensätzlich war der Eintrag vom 10. Oktober 2010. Hier hatte Chris geschrieben, dass er sie abends in einem Restaurant getroffen hatten und sie, obwohl sie ihn erkannt hatte, wortlos an ihm vorbeigegangen war. Ich konnte nun halbwegs verstehen, warum Chris keinen Kontakt mehr zu ihr hatte und nicht mehr über sie reden wollte. Was ich allerdings nach wie vor, trotz Chris Erklärungsversuchen, nicht nachvollziehen konnte war, warum er Sandra gegenüber Irina ausgerechnet als diese mittlerweile komplett irrelevante Eleonore ausgegeben hatte. In seiner Aufzählung der Personen, die ihm geholfen hatten, hätte er sie ebenso gut weglassen können oder irgendeinen Namen erfinden, ohne dass dies Irina aufgefallen wäre. Mir erschien auch seine Begründung, er hätte sie deshalb ausgewählt, weil er schon früher schon von ihr gesprochen hatte und sich die beiden ohnehin niemals begegnen würden, als nur bedingt schlüssig. Selbst wenn seine Theorie mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig war, barg sie ein Restrisiko. Diese Stadt ist nicht so groß, dass ein verrückter Zufall diese beiden nicht zusammenführen könnte. Ich war mir sicher, dass Chris dies entweder falsch beurteilt oder noch schlimmer, ganz zu Anfang übersehen haben musste. Am Ende war ich nicht wesentlich weiter als vorher. Ich hatte jetzt nur in Erfahrung gebracht, dass diese Eleonore Chris lange Jahre beschäftigt hatte. Der Reihe nach begann ich die unzähligen Fenster der Suchergebnisse auf meinem Monitor zu schließen. Beim Schließen eines der letzten Fenster fiel mein Blick zufällig auf das Datum, der 2. August 1992. Ich hielt kurz inne und staunte. Chris Beziehung mit Eleonore hatte wie meine mit Geraldine am selben Tag ihren Anfang genommen. Eine weitere, höchst unerwartete Duplizität hatte mein Interesse geweckt. Ich wollte wissen, was damals geschehen war. Aufmerksam begann ich seine Aufzeichnungen zu lesen. Eine verrückte Geschichte stellte ich bereits nach kurzer Lektüre fest. Ganz besonders seine Beschreibung ihrer ersten gemeinsamen Nacht ließ mich vor Lachen in Tränen ausbrechen. Chris Schilderung zufolge war das Ganze so spannend, dass er nebenher Fruchtgummis gegessen hatte. Ebenfalls lustig las sich die Entstehung dieser gemeinsamen Nacht. Der Versuch mir dieses Szenario bildlich vorzustellen brachte mich noch mehr zum Lachen. Nicht einmal Hollywood könnte das in einer seiner Beziehungskomödien besser machen. Genauso verdreht ging es weiter. Am zweiten Abend, nach der unvermeidbaren Okkupation von Chris Bad durch Eleonore, hatte sie ihm im Bett die wichtigsten Unterschiede zwischen englischen und französischen Kinderwägen erklärt und ihm zu verstehen gegeben, dass sie französische bevorzugte. Ich musste erneut herzhaft lachen. Gab es eine todsichere Methode einen Mitzwanziger bereits am zweiten Abend in die Flucht zu schlagen, dann war es dieses Gesprächsthema. Auf diese Art setzte sich die Woche bis zum Samstagabend fort. An jenem Abend war Chris mit Freunden unterwegs gewesen und kam reichlich über eine Stunde verspätet zu seiner Verabredung mit Eleonore. Das Ergebnis war eine Ohrfeige und das Ende der Beziehung. Es folgten verschiedene teils sehr romantische, aber dennoch erfolglose Versuche von Chris Eleonore wieder umzustimmen, bis Chris nach einigen Wochen aufgab. Das wiederum schien Eleonore, die sich in der Rolle der umworbenen Traumfrau wohl sehr gut gefallen hatte, überhaupt nicht zu passen und sie suchte wieder Kontakt zu Chris. Der nächste Höhepunkt fand an Chris Geburtstag statt. Er hatte abends ein paar Freunde und Bekannte eingeladen und nach längerem Zögern Eleonore ebenfalls. Als diese erfuhr, dass eine gewisse Sabrina ebenfalls anwesend sein würde, sagte Eleonore ihre Teilnahme ab. Ihre Absage hatte sie damit begründet, dass eine Tante am Abend zuvor verstorben war und die Beerdigung am darauffolgenden Nachmittag stattfände. Dies konnte natürlich durchaus der Wahrheit entsprochen haben, sofern diese Tante entweder jüdischen oder muslimischen Glaubens war. Dennoch war es mit Abstand eine der dämlichsten Ausreden die ich je gehört hatte. Dieser Eintrag lieferte aber noch eine andere Information. Der Vorname Sabrina ist eher selten. Chris hatte, als wir vor ein paar Wochen über Sandra und die Frauen, die bislang in seinem Leben eine zentrale Rolle gespielt hatten, eine Sabrina erwähnt. Es bestand also eine große Wahrscheinlichkeit, dass Eleonore und Sabrina sich kannten und die eine die andere aus einem mir unbekannten Grund ersichtlich mied. Chris kommentierte Eleonores Verhalten in seinem Tagebuch mit den Worten: Hör auf mich für dumm verkaufen zu wollen. Damit war die Geschichte des Geburtstags aber nicht zu Ende. Drei Tage später, es war ein Montag, rief Eleonore Chris an und lud sich mit der Begründung, sie hätte noch ein Geschenk für ihn, das sie ihm unbedingt persönlich übergeben wollte, mehr oder weniger zum Abendessen ein. Eine Zeile später wusste ich warum sie das Geschenk Chris unbedingt alleine geben wollte. Es war eine Boxershorts und ein Marzipanschwein, das auf einem Marzipanherz saß. Für eine ehemalige Freundin, sofern man sie in Anbetracht der Dauer dieser Beziehung überhaupt so nennen konnte, ein sehr persönliches und eindeutiges Geschenk. Meine Erwartung an den typischen Verlauf dieses Abends machte Chris schon in der übernächsten Zeile zunichte. In einem unbeobachteten Moment hatte er einen Blick in Eleonores Handtasche geworfen und darin unter anderem frische Unterwäsche entdeckt. So nicht Fräulein. Es geht nicht vorwärts und rückwärts, wie es dir gerade in den Sinn kommt, schrieb Chris in seinem Tagebuch über diesen Fund. Gegen 23 Uhr schickte er Eleonore mit der Begründung, er hätte Migräne bekommen nach Hause. Kopfschüttelnd saß ich vor meinem Computer. Chris hatte offenbar schon immer seine Prinzipien, die nicht unbedingt mit jenen der meisten Männer deckungsgleich waren. Bis Weihnachten setzte sich dieser Beziehungs-Ping-Pong fort. An Nikolaus hatte Chris Eleonore einen Weihnachtsmann aus Schokolade nebst Karte auf den Fenstersims ihres Schlafzimmers gestellt. Der zu erwartende Dank von Eleonore blieb aber aus und Chris war verärgert. Vier Tage vor Weihnachten trafen sich die beiden zufällig. Eleonore erzählte Chris, dass sie sich sehr über den Weihnachtsmann gefreut hatte und ihm zum Dank ein paar Weihnachtsplätzchen gebacken hatte. Da sie Chris in der Zwischenzeit jedoch weder gesehen hatte, noch ihn erreichen konnte, hatte sie diese mittlerweile vor Wut an einem einzigen Abend alleine aufgegessen. Den Höhepunkt erreichte dieses überaus seltsame Verhältnis an Silvester 1992. Beide waren auf der gleichen Party eingeladen. Chris überlegte bis etwa 23:30, ob er überhaupt hingehen wollte. Letztlich kam er zu dem Entschluss, dass es eine Kinderei sei, nur wegen Eleonore nicht zu dieser Party, auf der alle seine Freunde waren, zu gehen und traf dort kurz vor Mitternacht ein. Die Beschreibung der ersten Minuten nach seinem Eintreffen brachte mich abermals schallend zum Lachen. Wie in einem Western gingen die Partygäste links und rechts zur Seite, als Chris und Eleonore auf einander zugingen. Jeder schien gespannt zu sein, was nun passieren würde. Eleonore begrüßte Chris mit einem Kuss auf die Wange, lächelte und ging weiter. Damit hatte Chris, wie er geschrieben hatte nicht gerechnet. Einige Zeit später kam Eleonore zu Chris, der sich mit Freunden unterhielt und bat ihn um etwas Geld. Die Damen wollten im Wohnzimmer Bridge spielen. Chris gab ihr einen Zwanziger und Eleonore verschwand wieder. Nach einer guten Stunde kehrte sie zurück. In anordnendem Ton sagte sie vor seinen Freunden zu Chris, dass sie das Familienvermögen verspielt hatte und sie jetzt mit ihm nach Hause gehen wolle. Aber anstatt sie mit zu sich nach Hause zu nehmen, fuhr Chris sie zu ihren Eltern. Mit einigen zu erwartenden kurzen Unterbrechungen ging es in diesem Stil weiter bis Mitte April. Der Grund für dieses Durcheinander, dass Chris Tagebuch zufolge den gesamten Freundeskreis der beiden beschäftigte, war Eleonores dauerhaft widersprüchliches Verhalten, welches sie konsequent beibehielt. Mal umgarnte sie Chris, dann strafte sie ihn wieder tagelang mit Missachtung. Ende April lernte Chris schließlich Katharina kennen. Ein, wie er schrieb unkompliziertes, zielorientiertes und aufrichtiges Mädchen, frei von allen Allüren und divenhaftem Verhalten. Schmunzelnd schloss ich die Datei. Ich hatte selbst einige verrückte Geschichten erlebt und noch mehr gehört. Aber diese war mit weitem Abstand die verrückteste. Sollte ich eines Tages auf die Idee kommen eine Komödie schreiben zu wollen, dann war die Geschichte von Chris und Eleonore als Grundlage dafür nahezu prädestiniert. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und begann auf und ab zu wippen. Wie diese Eleonore wohl ausgesehen hatte? Wenn mich meine Erinnerung nicht im Stich ließ, gab es im Fotoverzeichnis von Chris PC einige nach Namen sortierte Ordner, die ich letztes Jahr nicht zuordnen konnte. Ich starte die Remote-Verbindung erneut, öffnete dieses Verzeichnis und scrollte zu diesen Ordnern. Neben dem Ordner mit der Bezeichnung Irina gab es noch drei weitere. Eleonore, Sabrina und Katharina. Voller Spannung öffnete ich sie nach einander. Eleonore war wirklich ein wunderschönes Mädchen gewesen. Das musste ich vorbehaltlos anerkennen. Vielleicht sogar so schön, dass sie schon wieder ein wenig langweilig wirkte. Den Bildern nach zu schließen war sie fast so groß wie Chris, hatte eine beinahe atemberaubende Figur und war mit sehr langen Beinen gesegnet. Sie hatte große braune Augen und lange seidige Haare, die farblich irgendwo zwischen dunkelblond und hellbraun lagen. Beeindruckt schloss ich den Ordner. Ein ganz anderer Typ Frau, aber nicht minder attraktiv, war Katharina. Etwas kleiner, mit schwarzen lockigen Haaren. Fast wie eine Südeuropäerin. Ich war erneut beeindruckt. Jetzt blieb noch Sabrina. Auch sie war ein ausnehmend hübsches Mädchen. Lange blonde Haare, eine tolle Figur und ein umwerfendes Lächeln. Das auffälligste an ihr war aber, dass sie Sandra verblüffend ähnlich sah. Diese beiden könnten durchaus Schwestern sein. Ließ man Katharina einmal als die Ausnahme, die die Regel bestätigt außen vor, waren alle Frauen, die in Chris Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten einander in gewisser Weise ähnlich. Sie bildeten eine Gerade. Die Linie seines bevorzugten Frauentyps. Sabrina, und in gewisser Weise Sandra auch, bildeten das eine Ende, Eleonore das andere. Genau dazwischen im Zentrum lag Irina. Sein Ausgangspunkt und schließlich nach vielen Jahren auch wieder sein Endpunkt. Ich hatte interessante Details über Chris und sein Leben erfahren, die ich bisher nicht kannte. Mittlerweile war es weit nach 2 Uhr nachts geworden und ich fuhr meinen Rechner herunter. Alles, was ich in Chris Tagebuch über die letzten Tage gelesen hatte, bestätigte mich in der Erkenntnis am Ende richtig gehandelt zu haben. Ich war zu der Überzeugung gekommen, Chris würde weder mir und vermutlich Sandra ebenfalls nicht alles erzählen, was ihn beschäftigte. Das Lesen seines Tagebuches und seiner E-Mails, auch wenn es eine äußerst fragwürdige Maßnahme, verbunden mit ernsthaften moralischen Problemen war, stellte eine nicht abzuwendende Notwendigkeit dar, wenn ich Chris Verhalten und Entscheidungen auch in Zukunft einigermaßen verstehen wollte.

 

 

Schreibe einen Kommentar