Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 10 – John Wayne

Mein Einkauf diente an diesem Freitag mehr der Ablenkung, als dem Auffüllen meiner Vorräte. Es war der Tag von Chris monatlicher Untersuchung und ich wusste, dass dies ein entscheidender Tag für uns alle werden könnte. Ich schlenderte abwesend durch die Reihen verschiedener Marktstände, ohne ihnen wirklich Beachtung zu schenken und dachte an Chris. Wenn er tatsächlich im April an den Voruntersuchungen für diese Behandlung teilnehmen wollte, müssten jetzt die Weichen dafür gestellt werden. Während ich ein eigentümliches Sammelsurium verschiedener Käsesorten kaufte, fragte ich mich, wann Chris Sandra davon in Kenntnis setzen wollte. Er konnte kaum eine solche langfristige Behandlung antreten, ohne mit ihr darüber im Vorfeld gesprochen zu haben. Zudem musste er Vorbereitungen treffen. Mable musste versorgt werden und vieles mehr. Ich ging weiter zu einem Obststand, als mir auffiel, dass ich schon wieder zuerst an Sandra gedacht hatte. Dabei war es wesentlich wichtiger, wann Chris Irina von seinen Plänen unterrichten würde. Vor allem, wie diese darauf reagieren würde. Bei Sandra war ich mir sicher. Ohne jede Frage würde sie wie schon im letzten Sommer für Chris da sein. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Was Irina anbelangte war es wesentlich komplizierter. Ich kannte sie viel zu wenig, um eine Vorhersage treffen zu können und alleine auf Chris Einschätzungen wollte ich mich nicht verlassen. Schon ihre unerwartete Rückkehr im Januar hatte gezeigt, dass Chris nicht immer Recht hatte. Auf dem Weg nach Hause machte ich mir über eine andere wichtige Frage Gedanken. Welche Begründung würde Chris für seine unerwartete Entscheidung gegenüber den beiden anführen? Auf den ersten Blick schien es bei Irina einfacher zu sein. Chris hatte geschrieben, dass der Auslöser für seine Überlegung der Satz von Irina war, du willst doch mit mir alt werden. Eine größere Liebeserklärung konnte es kaum geben. Aber sie hatte eine Kehrseite. Führte er dies als Begründung für seine Entscheidung an, konnte das einen enormen Druck auf Irina aufbauen. Besonders wenn es im Verlauf der Behandlung zu Komplikationen kommen sollte. Sie könnte sich womöglich als Auslöser für eine Entscheidung sehen, für die sie objektiv betrachtet absolut nichts konnte. Ich war überzeugt, dass nicht nur ich, sondern auch Chris dieses Problem erkannt hatte und er ihr sicher eine Begründung liefern würde, die dieses Problem umging. Das war aber nicht die einzige Schwierigkeit. Daneben musste Chris unbedingt darauf achten, dass seine Begründung so ausfiel, dass Irina nichts von seiner falschen Zeitangabe erfuhr. Nichts wäre an diesem wichtigen Punkt im Leben der beiden ungünstiger, als wenn diese Lüge ans Licht kommen würde. Irina wäre dann zu Recht wütend und enttäuscht. Diese Schwierigkeiten gab es was Sandra anbelangte nicht. Dafür andere. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Chris derart taktlos sein würde und Sandra den wahren Grund für seine Entscheidung mitteilen würde. Unabhängig davon, ob ich mit meiner Vermutung, dass Sandra Chris heimlich liebte richtig lag oder nicht, so etwas macht man nicht.

   Nachdem ich mir am Nachmittag die Zeit mit diversen Tätigkeiten im Haushalt vertrieben hatte, wartete ich ungeduldig darauf, dass es Abend wurde und ich Chris Tagebuch lesen konnte. Mitten in den Vorbereitungen zu meinem Abendessen klingelte mein Telefon. Der vorhersehbare Anruf von Sandra. Gespannt, was Chris Sandra über den Verlauf seines Termins zu berichten hatte, nahm ich ab. Mein erster Eindruck war, dass Sandras Stimme nicht ungewöhnlich besorgt klang. Gefasst erzählte sie mir in aller Ausführlichkeit, was Chris ihr über die Ergebnisse seiner Untersuchung berichtet hatte. Wie zu erwarten war, hatten sich seine Werte wieder etwas verschlechtert. Beruhigt vernahm ich, dass Chris im Gegensatz zum Februar diesmal Sandra diesmal wieder die Wahrheit gesagt haben musste. Mit keinem Wort erwähnte Sandra jedoch, dass Chris ihr gegenüber nur die geringste Andeutung über diese Behandlung gemacht hatte. Dafür konnte es zwei denkbare Gründe geben. Entweder Chris hatte sich doch noch nicht endgültig entschieden oder, für mich genauso nachvollziehbar, er war noch nicht soweit, mit Sandra darüber zu reden. Eine derart wichtige Entscheidung für sich selbst zu treffen ist eine Sache, sie nahestehenden Personen mitzuteilen eine ganz andere. Man muss den richtigen Zeitpunkt dafür finden, die passenden Worte und den entsprechenden Rahmen. Im Anschluss an dieses wichtige Thema unterhielten wir uns noch über allerlei Allgemeines, als mir augenblicklich einfiel Sandra zu fragen, ob sie uns morgen nicht auf die Oldtimer Messe begleiten wollte.
„Geht da mal alleine hin. Das ist eine Männersache“, lehnte sie lachend mein Ansuchen ab, um dann in ernstem Tonfall hinzuzufügen: „Du musst mir unbedingt versprechen auf Chris zu achten. Bleibt bitte nicht allzu lange auf der Messe. Zwei, auf gar keinen Fall länger als drei Stunden. Denk bitte an das Risiko einer Überanstrengung und der damit verbundenen Gefahr für Chris.“

   Das ganze Abendessen dachte ich über das Telefonat mit Sandra nach. Sie hatte sehr besonnen geklungen, als sie mir von Chris Untersuchung berichtet hatte. Als wäre sie auf das nach ihrem Wissenstand Unvermeidliche, das später in diesem Jahr auf sie zukommen würde bereits sehr gut vorbereitet. Etwas Anderes, sehr viel Ungewöhnlicheres an unserem Gespräch fiel mir erst jetzt auf. Sandra hatte auf meine Frage, ob sie Chris und mich auf die Messe begleiten wollte, nicht danach gefragt, ob Irina ebenfalls mitkommen würde. Eine zwingend logische Frage, wenn man sich die Rollen der beiden Frauen in Chris Leben vor Augen hielt. Wahrscheinlich ging sie davon aus, dass Irina mit uns gehen würde und wollte uns aus diesem Grund nicht begleiten. Nachdem ich mit Essen fertig war, öffnete ich eine Flasche Wein und nahm vor meinem Kamin Platz. Bis Chris in seinem Tagebuch über die Ereignisse seines Tages geschrieben hatte, wollte ich weiter „The Catcher in the Rye“ lesen. Mit einem Glas Wein in der Hand ging ich kurz nach 23 Uhr in mein Arbeitszimmer und startete meinen Computer. Ich loggte mich auf Chris PC ein und öffnete sein Tagebuch. Meine Anspannung auf das, was ich zu lesen bekommen würde kannte kaum Grenzen.

„Es gibt eine Menge Zitate, die zu dem heutigen Tag passen würden. Der Würfel ist gefallen zum Beispiel. Wahrscheinlich das am meisten genannte. Abhängig von der endgültigen Entscheidung im April, die letzten Endes nicht bei mir liegt, habe ich heute entschieden mich für das Programm anzumelden. Letztlich haben zwei Faktoren, die untrennbar miteinander verwoben sind den Ausschlag gegeben. Ein Versprechen und Zeit. Ohne Zeit kann ich dieses Versprechen nicht einlösen. Daher war die bestimmende Frage für meine Entscheidung, der richtige Umgang mit der Zeit. Ist die Behandlung nicht erfolgreich, bleibt genauso viel Zeit, wie ohne sie. Das haben die Ergebnisse heute eindeutig gezeigt. Sie stellt also kein Risiko in Form eines Zeitverlustes dar. Ist sie erfolgreich und für mich gibt es keinen anderen denkbaren Ausgang, bleibt der Zeitpunkt zwar unmöglich, nicht aber sein Inhalt. Vor mir liegen jetzt viele wichtige Entscheidungen, von denen ich noch keine einzige getroffen habe. Von allen die wichtigste ist, was sage ich Irina über den heutigen Tag. Am besten die Wahrheit würde jetzt jeder sagen. Nur so einfach ist das nicht. Die letzten Wochen haben mir das sehr deutlich gezeigt. Aber genauso wenig kommt eine Wiederholung des letzten Jahres in Betracht. Ich muss also einen neuen, besseren Weg finden. Vorerst ist es jedoch am klügsten nichts zu sagen und abzuwarten. Möglicherweise hat sie meinen Termin sogar vergessen und fragt nicht mehr danach. Das würde mir Zeit geben darüber nachzudenken, wie die Monate bis nächsten März ablaufen könnten.

Es ist viel Wahres in dem Zitat: „Der Mensch begegnet seinem Schicksal oftmals auf der Straße, die er nahm, um ihm auszuweichen.“

Um einigermaßen umreißen zu können, was Chris geschrieben hatte musste ich diesen für seine überaus große Wichtigkeit durchaus kurzen Eintrag dreimal lesen. Seine definitive Entscheidung an diesem Programm, wie er es jetzt nannte, teilzunehmen kam für mich nicht unerwartet. Seit seiner Untersuchung im Februar hatte sich diese Entwicklung abgezeichnet. Damals hatte Chris über eine Frage von Irina geschrieben, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging und mit der sie die Kette seiner Überlegungen in Gang gesetzt hatte. Im Gegensatz zum Februar aber stand von dieser Frage heute nichts mehr in seinem Tagebuch. Stattdessen sprach er jetzt von einem Versprechen. Das Chris Versprechen sehr ernst nahm, hatte ich im Zusammenhang mit Sandra gelernt. Aber wie bei diesem, hatte ich auch hier keine Vorstellung um welches Versprechen es sich handelte oder wem gegenüber er es abgegeben hatte. Aus dem Kontext ließ sich nur entnehmen, dass es mit Irina zu tun haben musste. Allerdings konnte ich mich nicht daran erinnern, dass Chris in den letzten Wochen je über ein Versprechen geschrieben hatte. Worum es in diesem Versprechen auch immer ging, sein Inhalt war heute bestenfalls zweitrangig. Viel wichtiger war die Tatsache, dass Chris offenkundig nicht vor hatte Irina über seine Entscheidung zu unterrichten. Er sogar davon ausging, dass sie seine monatliche Untersuchung vergessen hatte. Als ob eine Frau einen solchen Termin vergessen würde mein Freund, dachte ich in diesem Moment. Ich trank einen Schluck Wein und steckte mir eine Zigarette an. Wie stellte sich Chris vor, Irina nicht über seine Pläne zu unterrichten, wenn er gleichzeitig den Weg, den er letztes Jahr gewählt hatte ausschloss? In meinen Augen und gewiss auch in Irinas, nicht nur ein eklatanter Widerspruch, sondern ein großer Fehler. Irina war bestimmt nicht zurückgekehrt um erneut, wie es Geraldine einmal so treffend ausgedrückt hatte, aus Chris Leben herauskatapultiert zu werden. Sicher, sie hat in den vergangenen Wochen vieles gesagt, dessen Sinn mir sich nicht erschlossen hatte. Sätze, die mehr als geeignet dazu waren eine Beziehung besonders, wenn sie mit derart schwierigen Bedingungen zu kämpfen hatte, zu zerstören und damit mehr als einmal mein Misstrauen geweckt. Erstaunlicherweise aber nicht das von Chris. Gerade so, als ob er diese erwartet hätte. Zudem wusste Irina, im Gegensatz zum letzten Jahr um Chris Gesundheitszustand. Ein entscheidender Unterschied. Ich drückte meine Zigarette aus und fuhr meinen Computer herunter. Die nächsten Tage würden ohnehin zeigen in welche Richtung sich das Ganze weiterentwickeln würde und ich sollte ins Bett gehen, um für die Messe morgen ausgeschlafen zu sein.

   Wie verabredet, holte ich Chris kurz vor 10 Uhr ab. Es war kühler und regnerischer Vormittag. Um Chris eine Freude zu machen hatte ich meinen Mustang genommen. Zudem durften historische Fahrzeuge umsonst auf einem bewachten Parkplatz direkt am Eingang parken, was die lästige Parkplatzsuch ersparte. Auf der Fahrt erkundigte ich mich nach den Ergebnissen seiner gestrigen Untersuchung. Ich war neugierig, wie Chris heute auf diese Frage reagieren würde. Im Gegensatz zu seinen früheren Terminen war Chris mir gegenüber diesmal überraschend auskunftsfreudig. Er berichtete mir ausführlich von seiner Untersuchung und erstaunlich offen über die Ergebnisse, die sich, wie er sich ausdrückte, im zu erwartenden Rahmen verschlechtert hatten. Dass er dabei kein Wort über seine weitergehenden Pläne verlor, überraschte mich keineswegs. Im Gegenteil. Nach der Lektüre seines Tagebuchs und dem Telefonat mit Sandra hatte ich nichts Anderes erwartet. Ich wusste, dass Chris noch nicht soweit war, mit irgendjemand darüber zu reden. Umso bemerkenswerter, besonders in Anbetracht dieser schwierigen Situation war, dass Chris heute einen ausgesprochen ausgeglichenen Eindruck auf mich machte und sich augenscheinlich sehr auf die Messe freute. Dort angekommen machten wir uns direkt auf den Weg in Halle 8. In dieser standen überwiegend Youngtimer aus den späten 70er und frühen 80er Jahren. Autos, die heute weitestgehend aus dem Straßenbild verschwunden waren. Leicht nostalgisch, oft mit verklärtem Blick betrachtete Chris diese Autos. Sie schienen in Chris viele Erinnerungen an jene Jahre wieder wachzurufen. Im Verlauf unseres Rundgangs erzählte mir Chris begeistert von seinen ersten Autos, dem er heute noch auf eine Art nachzutrauern schien. Auffällig lange blieb er bei einem VW Coupé stehen, dass sich Chris sehr genau ansah.
„So einen hatte ich einmal“, sagte Chris zu mir in schwärmerischem Ton. „Es war mein erstes Auto und ich hatte eine Menge Spaß damit.“
Er berichtete ausführlich von einer Urlaubsfahrt nach Frankreich und was sich dort alles zugetragen hatte. Eine wirklich amüsante Geschichte. Als wir den Stand verließen, drehte sich Chris nochmals nach dem Wagen um.
„Weißt du, was das wirklich besondere an diesem Wagen war?“, fragte mich Chris als wir weitergingen.
„Nein, woher auch?“, erwiderte ich.
„In diesem Auto haben Irina und ich uns zum ersten Mal geküsst. Ist schon sehr lange her, aber immer, wenn ich so ein Auto sehe, erinnere ich mich an diesen verregneten und kühlen Tag im September, als sei es gestern gewesen.“
Anstatt ihm eine Antwort darauf zu geben, schmunzelte ich still vor mich hin. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, was Chris meinte. Seit es wärmer geworden war und wieder vermehrt Motorräder unterwegs waren, erinnerte mich jede Rennmaschine die ich sah an Geraldine. Mit diesen Gedanken an die Frauen in unserem Leben machten wir uns auf den Weg zu den amerikanischen Klassikern, die in Halle 9 zu bewundern waren. Die Menge der ausgestellten Fahrzeuge war für eine europäische Messe erstaunlich groß. Chris blieb zunächst zwischen einem 70er Mustang 302 Boss und einer 69er Chevelle SS stehen, um sich dann ausgiebig einem orangenen Challenger 440 R/T Magnum zu widmen.
„Den solltest du unbedingt kaufen!“, rief mir Chris begeistert zu. „Der Preis ist in Ordnung und der Wagen befindet sich in einem außergewöhnlichen Zustand.“
„Aber dann hätte ich zwei Challenger“, erwiderte ich.
„Und wo liegt das Problem?“, fragte mich Chris verständnislos. „Du hast doch genug Platz.“

   Bevor Chris mir noch weitere Vorschläge zu Erweiterung meines Fuhrparks machen konnte, schlug ich vor eine Kleinigkeit zu Essen. Im Innenhof zwischen den Hallen befand sich ein Stand, an dem man Grillwürste essen konnte und auch rauchen durfte. Zwischen zwei Bissen von meiner Wurst sprach ich Chris auf seine Ablehnung an, Irina zu fragen, ob sie uns nicht begleiten wolle. Mich hatte seine Begründung dafür wenig überzeugt.
„Wäre es nicht schön gewesen, wenn Irina mitgekommen wäre? Es wäre bestimmt lustig geworden.“
Chris sah mich nachdenklich an.
„Ich habe dir doch gesagt, dass Irina keine Messen mag. Außerdem fährt sie Montag für eine Woche geschäftlich nach Paris und muss noch eine Menge dafür vorbereiten. Daher werden wir uns das ganze Wochenende nicht sehen. Wie du siehst, war es die richtige Entscheidung, sie gar nicht erst zu fragen.“
Chris schob den letzten Bissen seines Brötchens in seinen Mund, dann griff er in seine Jackentasche und holte seine Zigarillos hervor.
„Weiß Irina eigentlich, dass du heute auf der Messe bist?“
Chris sah mich so erstaunt an, als ob meine Frage vollkommen widersinnig wäre.
„Nein, weiß sie nicht“, entgegnete er, bevor er ein Zigarillo anzündete. „Wieso sollte ich ihr solche Nebensächlichkeiten erzählen?“
„Vielleicht weil es sie interessiert was du machst?“, erwiderte ich.
Statt meine Frage zu beantworten sagte Chris:
„Wir sollten wieder reingehen, bevor es zu voll wird.“
Er hatte Recht. Es war Samstag und erfahrungsgemäß war spätestens am frühen Nachmittag außer Menschenmassen nichts mehr zu sehen. Wir bummelten noch durch die Hallen 1 bis 4, in den historischen Rennwagen und Klassiker aus den 50er und 60er Jahren standen, bevor wir gegen 13:30 die Messe verließen. Auf dem Weg nach Hause erkundigte ich mich nach Mable. „Wie lange kannst du sie denn alleine zuhause lassen?“
„Sechs Stunden sind kein Problem“, antwortete Chris gelassen. „Wenn ich nicht da bin schläft sie. Mable ist sehr zuverlässig. Sie hat noch nie Unsinn gemacht, wenn ich sie alleine gelassen habe.“

   Das Wetter am Sonntag lud nicht zu Aktivitäten im Freien ein. Es regnete immer wieder und der kühle Wind war alles andere als angenehm. Ein idealer Tag für einen gemütlichen Filmnachmittag auf dem Sofa. Nach den letzten Wochen stand mir der Sinn weder nach einer Komödie, noch nach einem Film mit zu viel heiler Welt. Daher entschied ich mich für einen Nachmittag mit klassischen John Wayne Western. Schon während meiner Kindheit, damals zusammen mit meinem Vater, hatte ich gerne Western angeschaut. Meine Mutter, die kein großer Freund dieses Genre ist, mit Ausnahme von „Rio Bravo“, was mit Sicherheit an Dean Martin lag, hatte sich dann zumeist in unser Esszimmer zurückgezogen, um zu lesen. Sie ist der Feingeist in unserer Familie, von der ich meine Liebe zu Büchern hatte. Ich hatte mich oft gefragt, wie die beiden überhaupt zusammenpassten. Mutter, Tochter eines Professors für Anglistik, eine für ihre Zeit sehr emanzipierte Frau, mit umfassender humanistischer Bildung und einem Universitätsabschluss in amerikanischer Literatur und Vater, Sohn eines Berufssoldaten und als Offizier des Marine Corps ebenfalls Soldat. Obwohl sie überaus unterschiedlich waren, hatte ich meine Eltern während meiner Kindheit immer als Einheit wahrgenommen. Als Yin und Yang, die in ihren unterschiedlichen Charakteren sich nicht nur perfekt ergänzten, sondern sich gegenseitig bedingten. Ich war nie in der Lage gewesen zu sagen, welcher der beiden, die bestimmende Persönlichkeit war. Vater mit seinen gradlinigen, strengen Ansichten, oder Mutter, mit ihrer erklärenden, stets vermittelnden und warmherzigen Art. Mit diesen Erinnerungen an jene, wenn auch leider seltenen Familiennachmittage schaute ich mir zuerst „Rio Bravo“ an. Im Verlauf des Filmes hatte ich immer wieder das Gefühl den Duft von Mutters heißer Schokolade und ihren geliebten Hershey Keksen riechen zu können. Zum ersten Mal kam mir ein Gedanke, der mich zuvor noch nie beschäftigt hatte. Was Mutter wohl zu Geraldine sagen würde? Wäre sie die Schwiegertochter, die sie sich immer gewünscht und nie bekommen hatte? Eine Frage, die sich nicht einfach beantworten ließ, doch ich war mir sicher, sie würde Geraldine mögen. Bei meinem Vater war ich mir eher in die andere Richtung sicher. Ihm wäre der ganze Zirkus der letzten fast 23 Jahre, hätte er ihn mitbekommen, zu viel gewesen. Im Grunde funktionierte bei ihm alles nach ein und demselben Muster. Eine Frage, eine Antwort, eine Ausführung. Nach dieser sentimentalen Reise in meine Vergangenheit setzte ich mein Westerntag mit „Die Gewaltigen“ und nach einem kurzen Abendessen mit „Red River“ und „Chisum“ fort.

   Entgegen der Wettervorhersage strahlte am nächsten Tag die Sonne und die Temperaturen erreichten schnell angenehme Werte. Mit meiner zweiten Tasse Kaffee setzte ich mich an meinen Rechner. Ich war neugierig, was Chris seit Freitag geschrieben hatte. Zuerst jedoch wollte ich die E-Mails der beiden aus den vergangenen Tagen lesen. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es klug zuerst die E-Mails der beiden zu lesen. Allzu oft schon hatte sich Chris in seinem Tagebuch auf E-Mails bezogen, deren Inhalt ich noch nicht kannte. Beim Lesen der E-Mails fiel mir auf, dass seit etlichen Tagen überwiegend Irina Chris kontaktierte und er nur noch antwortete. Dabei für seine Verhältnisse häufig genug ungewöhnlich kurz. Diese Entwicklung hatte schon vor Chris Untersuchung begonnen und setzte sich seitdem fort. Eine der E-Mails erregte dabei meine Aufmerksamkeit. Am späten Sonntagabend hatte Irina nach zwei Tagen Arbeit ihre Präsentation, die sie in Paris der Geschäftsleitung ihrer Firma vorstellen wollte, stolz an Chris geschickt. Für mich war das ein eindeutiges Zeichen, wie wichtig ihr Chris war und gleichzeitig vermutlich ihre Art sich für das durchgearbeitete Wochenende zu entschuldigen. Ich verstehe nicht sehr viel von Power-Point Präsentationen, aber ich weiß wieviel Arbeit hinter einer solchen steckt und wie wichtig solche Präsentationen in Firmen heutzutage sind. Die Art und Weise, wie sie Chris geschrieben hatte, ließ nur den Schluss zu, dass Irina dieses Wochenende lieber mit Chris verbracht hätte, anstatt sich zwei Tage vor ihrem Computer zu sitzen und zu arbeiten. Ich war gespannt, ob Chris das ebenso sah wie ich.

„…Obwohl ich Irina heute sehr vermisst habe und am liebsten den ganzen Tag in ihren Armen gelegen wäre um ihre Wärme und Nähe zu spüren und an nichts weiter denken zu müssen, als an dieses unbeschreiblich schöne Gefühl, bin ich doch unglaublich stolz auf sie. Sie leistet außergewöhnliche Arbeit, die leider nach meiner Meinung in diesem Irrenhaus für das sie arbeitet keiner richtig würdigt. Ich hoffe sehr, sie hat mit ihrer Präsentation den von ihr gewünschten Erfolg und kann dann endlich ein bisschen in Ruhe arbeiten, ohne dauernd terrorisiert zu werden. Es gibt wahrlich genug anderes in ihrem Leben, dass sie belastet. Nach allem, was ich in den letzten Wochen mitbekommen habe, verdienen ihre Chefs eher die Bezeichnung karrieresüchtige Ehrgeizlinge, als Führungspersönlichkeit. Mir ist nicht klar, ob sich Irina darüber bewusst ist, dass sie für die Interessen dieser Herren nicht mehr ist als ein willfähriges Instrument, das zu der Umsetzung deren Karrierepläne dient. So lobend sie auch hin und wieder von dem einen oder anderen spricht, menschlicher Umgang mit Mitarbeitern sieht anders aus. Sie wird gnadenlos verheizt und ich frage mich, wann sie das endlich bemerkt? Aber die wichtigste Frage für mich ist heute, hat sie mich ebenso sehr vermisst, wie ich sie?“

Ich traute meinen Augen kaum. Chris hatte nicht nur sehr deutlich geschrieben, wie sehr er Irina an diesem Tag vermisst hatte und dass sehr er sich wünschte, Irina würde ihn ebenso vermissen, sondern er hatte auch zum ersten Mal, seit ich sein Tagebuch las, seine Meinung über das Gebaren ihrer Firma und insbesondere über das ihrer Chefs mit äußerst deutlichen Worten kundgetan. So ungewöhnlich, in vielerlei Hinsicht bezeichnend und sicherlich wichtig das war, für mich war an diesem Eintrag das bedeutendste, dass Chris sehr offen über seine Gefühle geschrieben hatte. Beruhigt über diese Worte wandte ich mich seinem Eintrag vom Samstag, dem Tag unseres Messebesuches zu. Dieser hielt eine weitere Überraschung parat. Wie zu erwarten war schrieb Chris zunächst über die Messe und die vielen Autos, die wir gesehen hatten. Besonders ausführlich schrieb er über jenes alte VW Coupé und der mit diesem Auto verbundenen Erinnerung an seinen ersten Kuss mit Irina. Chris schilderte dieses Ereignis so lebhaft, als wären seitdem erst ein paar Monate und nicht beinahe 28 Jahre vergangen. Diese schön zu lesenden Zeilen freuten mich. Sie zeigten, ohne pathetisch oder romantisch verklärt zu sein, wie groß Chris Liebe zu Irina war und immer noch ist. Es waren diese Art Worte, die ich zu gerne für Geraldine finden würde und bislang nie gefunden hatte. Doch was diese Worte anging teilten Geraldine und Irina in gewisser Weise das gleiche Schicksal. Geraldine konnte sie nie hören, weil ich unfähig war sie zu finden und Irina konnte sie nicht lesen, weil Chris sie vor ihr in seinem Tagebuch verborgen hielt. Ich fragte mich, warum Chris Irina davon nichts erzählte. Nach meinem Wissen freute sich jede Frau, wenn ihr Mann nach so vielen Jahren sich noch ganz genau an den ersten Kuss erinnern konnte. Bevor ich weiterlas versuchte ich mich an meinen ersten Kuss mit Geraldine zu erinnern. Aber es gelang mir nur sehr vage. Es musste irgendwo auf dem Weg von der Bar, in der wir uns damals getroffen hatten, zum meinem Auto passiert sein. Vielleicht lag der Mangel einer konkreten Erinnerung daran, dass mir damals nicht bewusst war, welche Bedeutung dieser Kuss für mein weiteres Leben haben sollte. Nach dieser kurzen Reise in meine Vergangenheit wandte ich mich wieder Chris Tagebuch zu. Zum Abschluss seiner Schilderung über die Messe notierte er, dass er es sehr bedauert hatte ohne Irina auf der Messe gewesen zu sein und wie sehr ihr sie vermisst hatte. Er brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass sie eines Tages solche Vorhaben gemeinsam unternehmen würden. Ich musste diese Sätze zweimal lesen. Sie standen in exaktem Widerspruch zu der Begründung die Chris vor einigen Tagen mir gegenüber angeführt hatte, warum er Irina nicht fragen wollte ob sie uns begleiten wolle. Doch nicht nur diese Zeilen waren ungewöhnlich, sondern auch die folgenden. Zum ersten Mal schrieb Chris deutlich, dass er sich an diesem Tag überanstrengt hatte. Der Besuch der Messe und der anschließende Spaziergang mit Mable waren zu viel für ihn gewesen. Am Abend hatte er einen jener Anfälle von denen mir Sandra berichtet hatte. Er beschrieb ihn als außerordentlich schwer und lange anhaltend. Ich erschrak über diese Zeilen. Bislang hatte ich immer den Eindruck, dass abgesehen von den langen Nächten mit Irina, die nur allzu verständlich waren und der überflüssigen Renovierung seines Arbeitszimmers Chris seine Grenzen immer exakt kannte und seine Kräfte sehr gut einteilen konnte. Ich trennte die Verbindung zu Chris Computer und ging in meine Küche. Hatte ich nicht genug darauf geachtet, dass unser Messebesuch nicht zu lange wurde? Wir waren nur knapp eine halbe Stunde länger auf der Messe, als jene maximal drei Stunden, die Sandra als äußerste Obergrenze genannt hatte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und fühlte mich verantwortlich. Immerhin hatte Sandra mich ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass ich aufpassen solle, dass Chris sich nicht überanstrengt und mich eindringlich vor den Folgen gewarnt. Ich ließ unseren Messebesuch nochmals Revue passieren. Chris hatte zu keinem Zeitpunkt auf mich den Eindruck gemacht, dass er sich überanstrengen würde. Anderseits war er aber auch ein hervorragender Schauspieler und sehr geschickt darin zu verbergen, wie es ihm wirklich ging. Dennoch hätte ich bemerken müssen, dass wir zu lange auf der Messe geblieben waren. Ebenso hätte ich zumindest daran denken müssen, dass er im Anschluss noch mit Mable spazieren gehen musste. Ich fing an mir Vorwürfe zu machen, auf meinen Freund nicht richtig aufgepasst zu haben. Während ich mir noch eine Tasse Kaffee eingoss dachte ich, dass es vielleicht gut war, dass Irina an diesem Abend gearbeitet hatte und Chris in diesem Zustand nicht gesehen hatte. Aber war es das wirklich? Wäre es nicht besser gewesen, wenn Irina ihn so gesehen hätte und sie Chris solange gefragt hätte, was wirklich mit ihm ist, bis er ihr eine ehrliche Antwort gegeben hätte? Wahrscheinlich wäre die zweite Variante die bessere gewesen. Dann hätte Irina endlich definitiv gewusst, wie es Chris wirklich ging. Eine für die weitere Entwicklung der Beziehung der beiden nach meiner Auffassung überaus wichtige Tatsache.

  Als ich mich am Abend des 19. März auf Chris Computer einloggte, las ich wiederum zuerst seine E-Mails. Trotz der stressigen Tage, die hinter Irina lagen, war ihr Chris Kommunikationsverhalten der letzten Zeit nicht verborgen geblieben. Sie hatte ihm geschrieben, dass sie darüber die letzten Tage unglücklich war und bezeichnete den Zustand sogar als totale Funkstille. Ich war gespannt, was Chris dazu in seinem Tagebuch geschrieben hatte. Interessanter Weise stellte Chris Irinas Vorwurf nicht in Abrede. Im Gegenteil. Fast schon entschuldigend schrieb er, dass er im Moment einfach nicht wisse, wie er mit Irina über das was ihn beschäftigte reden solle und er daher so schweigsam sei. Nie zuvor, nicht einmal im letzten Jahr, hatte ein Eintrag die innere Zerrissenheit in Chris derart deutlich widergespiegelt. In einer Zeile schrieb er, wie sehr er Irina, die für ein paar Tage in Paris war vermisste, um drei Zeilen später zu schreiben, dass er froh sei, dass sie weg war und er somit Zeit zum Nachdenken hatte. Ich konnte mir nur schwer vorstellen was in Chris vor sich gehen musste. Es war so, als wäre nicht Irina überfordert, sondern Chris. Ich trennte die Verbindung, fuhr meinem Computer herunter, ging in mein Wohnzimmer und machte das, was ich gerne tat, wenn ich abschalten wollte. Mit einem Glas Wein, einer Zigarre und Musik setzte ich mich vor meinen Kamin.

   Zu meiner großen Freude rief Chris mich am nächsten Vormittag an und lud mich für den Nachmittag zu einem gemeinsamen Spaziergang mit Mable ein. Um 16 Uhr trafen wir uns am Eingang des alten Parks. Als mich Mable erkannte, rannte sie wild mit ihrem Schwanz wedelnd auf mich zu und begrüßte mich, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Ein Anblick, der Chris sehr erfreute. Ich hatte in den letzten Wochen selten so lächeln gesehen. Trotz dieser Freude war gut zu erkennen, dass Chris an diesem Tag sehr müde aussah. Ich war mir nicht sicher, wie ich das zu deuten hatte, aber der Anblick von Chris, im Zusammenhang mit den Einträgen seines Tagebuchs war besorgniserregend. Wir gingen ein paar Schritte, als uns diese Gruppe Hundehalter entgegen kam, mit der Chris früher öfters unterwegs war. Anders als noch vor ein paar Wochen, als wir uns der Gruppe angeschlossen hatten, grüßte Chris beiläufig und schritt an ihnen vorbei. Ich fragte mich, ob das mit dem Streit mit der jungen Frau von neulich wegen Irina und Baghira zu tun haben konnte oder ob sich Chris mit mir unterhalten ungestört alleine wollte? Einige Meter weiter gab er mir die Antwort in Form einer Frage.
„Wie haben dir die ersten Kapitel unseres Buchs gefallen? Wir haben bislang noch gar nicht darüber gesprochen. Ich hoffe gut?“
Chris ging es also um das Buch. Seit mir Chris die ersten Kapitel gegeben hatte, hatten wir keine Gelegenheit gehabt, uns darüber zu unterhalten.
„Sehr gut. Auch wenn ich mir bei manchem nicht sicher bin. Speziell bei der Schilderung der Gartenparty ist mir unwohl und manchmal weiß ich nicht, worauf du anspielst.“
Chris grinste kurz vor sich hin.
„Das musst nicht du verstehen, sondern Geraldine. Es ist ihr Buch, nicht deines. Aber ich erkläre es dir gerne, wenn du etwas nicht begreifst.“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht verstehe“, erwiderte ich gereizt. „Sondern nur, dass ich mir manchmal nicht sicher bin.“
Jetzt lachte Chris leise vor sich hin.
„Na, dann bin ich mal gespannt, was du dazu sagst?“
Chris griff in seine Jackentasche und holte einen blauen USB Stick heraus.
„Bitte, Kapitel 9 bis 11.“
Ich nahm den USB Stick, bedankte mich und steckte ihn in meine Hosentasche.

   Wir hatten fast den toten Baum erreicht, als Chris sich erkundigte, welche seiner Ostereier ich bislang entdeckt hatte. Der Reihe nach zählte ich sie auf und erklärte Chris, was ich dahinter versteckt sah.
„Nicht schlecht“, bemerkte Chris anerkennend. „Das sind etwa 60 Prozent. Das hätte ich nicht erwartet.“
Ich war mir nicht ganz im Klaren, worüber sich Chris mehr freute. Darüber, dass ich 60 Prozent gefunden hatte oder darüber, dass mir 40 Prozent entgangen waren.
„Ich nehme an, dass du in diesen drei Kapiteln wieder eine Menge versteckt hast, oder?“
„Nicht mehr so viel, wie in den ersten, Dennoch, ein paar sind es schon geworden. Du musst doch etwas zum Nachdenken und Geraldine etwas zum Verstehen haben.“
Chris wandte sich kurz von mir ab, um nach Mable zu sehen, die brav etwa 5 Meter hinter uns herlief.
„Wie viele Kapitel fehlen jetzt eigentlich noch?“
„2“, antwortete Chris knapp.
„Dann hat das Buch insgesamt 13 Kapitel? Warum ausgerechnet 13 und nicht 12? Ein Dutzend fände ich schöner.“
Chris blieb stehen und sah mich ernst an.
„Es muss 13 haben! Es geht gar nicht anders!“, verkündete er mit tiefer Überzeugung. „Hätte das Buch nicht 13 würde es seine Bedeutung verlieren. Gerade die Tatsache, dass es 13 Kapitel hat, macht dieses Buch aus.“
Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, warum dieses Buch ausgerechnet 13 Kapitel haben musste, aber ich war mir sicher, dass Chris nicht ohne Grund diese Zahl gewählt hatte. Ich traute Chris sogar zu, dass selbst die Anzahl der Kapitel etwas zu bedeuten hatte und er gerade deshalb diese Zahl gewählt hatte. Mir war nur nicht klar was. Um Chris nicht weiter Fragen zu stellen, auf die ich ohnehin jetzt keine Antwort bekommen würde, wechselte ich das Thema. „Kommst du nachher noch auf einen Sprung mit zu mir? Die Corvette ist fertig und du wolltest sie dir doch anschauen?“
„Auf jeden Fall will ich das.“
Obwohl ich die Antwort kannte erkundigte ich mich bei Chris, ob er sich heute mit Irina treffen würde.
„Nein, sie ist in Paris und kommt erst in ein paar Tagen wieder.“
„Dann seht ihr euch zurzeit nicht oft?“
Chris entging einer Antwort, in dem er Mable zur Ordnung rief, die im Begriff war ein großes Loch in der Wiese auszuheben.
„Mable lass das und komm her! Diese verdammte Buddelei. Das muss ich ihr unbedingt wieder abgewöhnen.“
Chris Ärger über Mable amüsierte mich. Viel mehr aber noch der unschuldige „ich habe doch gar nichts gemacht“ Gesichtsausdruck von Mable, als sie wieder zu Chris kam.

   Leise surrend öffnete sich das Garagentor. Während sich Mable auf eine Erkundungstour durch meinen Garten machte, gingen Chris und ich in die Garage. Andächtig betrachtete Chris die Corvette, bevor er um sie herumging und sie sich genau anschaute.
„Ist sie offen?“
„Ja, setzt dich ruhig rein.“
Chris öffnete die Türe und nahm auf dem Fahrersitz Platz.
„Ein tolles Armaturenbrett. Damals konnten die Designer noch machen, was sie wollten.“
Chris spielte wie ein kleines Kind an den Schaltern herum und bewegte den Schalthebel. Seine Freude war unübersehbar und ich erinnerte ihn an mein Versprechen.
„Wir können sie fahren, wann immer du willst.“
Chris strahlte über beide Ohren.
„Darauf komme ich zurück, da kannst du dir sicher sein.“
Zufrieden stieg Chris aus und schloss die Türe.
„Möchtest du zum Essen bleiben? Ich habe Steaks und Salat.“
„Gerne, dann muss ich schon nichts kochen“, nahm Chris dankend meine Einladung an. Er rief Mable zu sich und wir gingen ins Haus.
„Kann ich dir helfen?“, erkundigte sich Chris, als wir die Küche betraten.
„Nein, ich muss nur die Steaks anbraten. Der Salat ist schon gewaschen und im Kühlschrank steht eine Flasche vorbereitete Sauce Vinaigrette.“
Aus Bequemlichkeit hatte ich einen dieser Beutel mit gemischten Salat, der bereits gewaschen und geschnitten war gekauft. Eine viertel Stunde später war das Essen fertig und wir nahmen an der Bar in der Küche Platz. Wir unterhielten uns zunächst über Autos, bevor ich Chris auf den Grund für seinen eingeschränkten Kontakt zu Sandra und mir in den letzten Wochen ansprach. Eine Frage, die Chris wenig zu überraschen schien.
„Im Moment ist alles etwas schwierig für mich. Da ist zu viel, das mich beschäftigt, von dem ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ich muss erst für mich einen Weg finden und dafür brauche ich Zeit. Meine Gedanken fliegen seit Wochen wie Würfel in einem Becher umher. Ich bekomme sie einfach nicht sortiert. Ihr müsst bitte ein bisschen Geduld mit mir haben.“
Mir war bewusst, worauf Chris angespielt hatte und ich hätte gerne mit ihm darüber gesprochen. Ihm einige Fragen gestellt. Ich war der festen Überzeugung, dass es für Chris gut gewesen wäre mit jemand zu reden. Solche wichtigen Entscheidungen alleine zu treffen birgt stets die Gefahr wesentliche Punkte zu übersehen, oder sie falsch zu bewerten. Trotz dieser Überzeugung beließ ich es dabei und wandte mich einem anderen Punkt zu, der mir zunehmend wichtiger wurde. Ich wollte endlich Irina kennenlernen.
„Was hältst du davon, wenn du Irina abends mitbringst und wir essen gemeinsam? Ich würde sie wirklich gerne kennenlernen. Ihren Hund kann sie natürlich gerne mitbringen.“
Bislang kannte ich Irina nur von dem Abend in Mailand, der kaum ausreichend gewesen war sie kennenzulernen. Zudem versprach ich mir von diesem, dann offiziellen Kontakt, dass ich, sollte es die Situation erfordern, direkt mit ihr reden konnte um ihr Chris Verhaltensweisen und Reaktionen erklären zu können. Auch wenn das bedeuten würde, dass ich ihr gegenüber aufdecken müsste, wie ich zu meinen Informationen gekommen war. Im Prinzip eine wiederkehrende Überlegung. Sowohl Geraldine, als auch ich hatten im letzten Jahr unabhängig voneinander die Idee, ihr Chris Tagebuch zugänglich zu machen und ihr damit die Chance zu geben, das Verhalten von Chris verstehen zu können. Aus verschiedenen Gründen hatte ich damals davon Abstand genommen. Jetzt stellte sich der Sachverhalt anders dar. Chris Reaktion auf meinen Vorschlag fiel nicht so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Fast emotionslos erklärte Chris:
„Können wir machen. Falls sich die Gelegenheit dazu noch ergeben sollte.“
Ich war enttäuscht von dieser Antwort. Zum einen hätte ich diese Frau gerne näher kennengelernt, um mir ein eigenes Bild von ihr zu machen und nicht länger nur auf Chris Schilderungen in seinem Tagebuch und meinen kurzen Eindrücken aus Mailand angewiesen zu sein. Zum anderen war der Weg eines direkten Gespräches mit ihr damit weiter verbaut. Ich verstand Chris nicht. Sandra, die keiner seiner Freunde kannte, die er noch nicht einmal in seinem Tagebuch erwähnte, hatte er mir vorgestellt. Irina hingegen sollte ich aus einem Grund, für den ich keine Erklärung fand, nicht kennenlernen.

   Unmittelbar nachdem Chris gegangen war steckte ich den USB Stick an mein Laptop und druckte die Kapitel 9 bis 11 aus. Ich wollte unbedingt noch heute Abend wissen, wie die Geschichte weiterging. Mit weiteren 40 eng beschriebenen Seiten und einem Glas Wein setzte ich mich auf mein Sofa und begann zu lesen. Wieder hatte Chris ein paar unerwartete Wendungen parat und zu meinem großen Erstaunen sogar die Orchidee in die Handlung eingebaut. Der Ausführlichkeit nach zu schließen, mit der Chris auf sie einging musste sie eine wichtige Rolle in der weiteren Handlung spielen, die mir aber nicht ganz klar wurde. Sicher war diese Orchidee mit einer der Wendepunkte in meiner Wahrnehmung von Geraldine gewesen. Aber warum war sie Chris so wichtig, dass er sich fast eine halbe Seite damit befasste? Ich vermutete, dass ich den Zusammenhang erst am Schluss des Buchs erfahren würde. Nach dem Stand der Dinge am Ende des 11. Kapitels war ich beruhigt zu wissen, dass das Buch ein glückliches Ende nehmen wird. Denn danach sah es zu diesem Punkt nicht aus. Ohne auf ein Ergebnis zu kommen, überlegte ich eine ganze Weile hin und her, welche Wendung Chris aus dem Ärmel zaubern könnte, die schließlich zum Happyend führen werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er das bewerkstelligen wollte. Aber noch hatte er 2 Kapitel übrig um alles aufzulösen.

   Die beiden nächsten Tage verbrachte ich vorwiegend mit Gartenarbeit. Für die zweite Märzhälfte herrschte erstaunlich gutes Wetter, das direkt zur Arbeit im Garten einlud. Meine Rosen hatten schon viele Triebe entwickelt und es war höchste Zeit endlich das Reisig zu entfernen. Sollte das gute Wetter weiter anhalten, würden sie sich in diesem Jahr sicher prächtig entwickeln. Wie immer, wenn ich im Garten arbeitete, dauerte es nicht lange, bis auch mein Nachbar in den Garten kam und mich in ein Gespräch verwickelte. Eine Ablenkung über die ich nicht traurig war. Hielten mich diese Gespräche doch davon ab, auch bei der Gartenarbeit weiter abwechselnd über Geraldine, das Buch oder Chris nachzudenken. Diese Themen beschäftigten mich schon abends genug und Geraldine oft auch noch im Schlaf. Ich konnte mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so viel von einer Frau geträumt hatte. Wahrscheinlich noch nie in meinem Leben.

   In der Zwischenzeit war Irina aus Frankreich zurückgekehrt und 2 Tage nach unserem Abendessen eskalierte die Situation zwischen den beiden nicht ganz unerwartet. Irina hatte Chris auf sein in sich Zurückziehen der letzten 3 Wochen angesprochen. Zudem hatte sie den berechtigten Verdacht geäußert, dass Chris ihr die wahren Ergebnisse seiner Untersuchung verschwiegen hatte. Nach längerem Schweigen folgte eine längere Diskussion via E-Mail. Ein Medium das nach meiner Meinung dafür ungeeignet ist, aber in diesem Falle ausnahmsweise zur Deeskalation beitrug. Irina hatte Chris sehr deutlich geschrieben, wie sie die letzten Wochen wahrgenommen hatte und was sie an Chris Verhalten nachhaltig störte. Keiner dieser Vorwürfe war für sich betrachtet unberechtigt, behandelte Chris doch Sandra und mich genauso. Aber Irina war seine Freundin, wir nur seine Freunde. Wider Erwarten gab Chris ihr in vielen Punkten Recht. Er rechtfertigte jedoch sein Verhalten nicht mit seiner Krankheit und allem was damit zusammenhing, sondern mit einer Reihe von Erklärungen, die er sinngemäß so schon im letzten März benutzt hatte. Interessanterweise räumte Chris stark eingeschränkt sogar ein, dass er ihr in den letzten Wochen, was seinen Zustand anging, teilweise etwas vorgespielt hatte. Ohne dabei aber auf für Irina sicher wertvolle Details einzugehen. Auch den wesentlichsten Punkt, seine Pläne für die Behandlung und wie sehr ihn die Entscheidung beschäftigte erwähnte er mit keinem Wort. Genauso wenig, wie die nach meiner Überzeugung ebenfalls mit seinem Verhalten in Zusammenhang stehenden Äußerungen Irinas. Er verlor nicht ein einziges Wort darüber. Nicht einmal eine kleine versteckte Anspielung war zu finden. Am Ende dieser Diskussion war es Chris gelungen Irina davon zu überzeugen, er hätte ihr alles gesagt, was ihn in den letzten Wochen beschäftigt hatte und Irina fragte nicht mehr weiter nach. In seinem Tagebuch beschäftigte sich Chris hingegen kaum mit diesem Disput, sondern überwiegend mit der Frage, wie er mit Irina ab April umgehen sollte. Mit Gefühlen zwischen resigniert, enttäuscht und traurig über all das, was ich heute zu lesen bekam, fuhr ich meinen Computer herunter und ging zu Bett. Ich lag etwa eine Stunde wach, in der ich versuchte Ordnung in das gelesene zu bekommen, bis ich wieder aufstand. Mir war es unmöglich Ruhe zu finden. Alles war zu verworren, um es zu verstehen. Es gab keinen Sinn. Beide verhielten sich widersprüchlich, besonders aber Chris. Ich ging hinunter in mein Esszimmer, holte mir ein Glas Aberfeldy und eine kleine Zigarre, setzte mich vor meinen Kamin und fing an, von neuem nachzudenken. Was ging in Chris vor? Wieso gab Chris Irina in vielen Punkten recht, erzählte ihr aber nichts von seinen Plänen? Waren Irinas unglückliche Äußerungen in den letzten Wochen doch der Anlass dafür? Prinzipiell wären sie dazu geeignet. Wer möchte schon einem Menschen, der einem derartige Dinge an den Kopf wirft, seine intimsten Gedanken anvertrauen? Aber Chris hatte nie darauf reagiert und somit schieden diese als Begründung nahezu aus. Wollte Chris Irina einfach nur ablenken? Auch dieser Plan konnte nach meiner Überzeugung nicht funktionieren. Spätestens mit dem Beginn seiner Behandlung würde die Wahrheit ans Licht kommen. Oder, und das erschien mir nicht unwahrscheinlich, die psychischen Auswirkungen seiner Krankheit wurden stärker. Möglicherweise bedingt durch sein eigenmächtiges Absetzen dieses Medikamentes. Was es immer es auch war, ich verstand nicht, warum Chris sich gegenüber Irina so verhielt. Sein Verhalten war in jeder Hinsicht kontraproduktiv.

   Der Montag brachte unerwartet die Fortsetzung der Auseinandersetzung vom Wochenende. Irina hatte Chris am Morgen noch einmal in freundlichen Worten sachlich dargelegt, wie sie sich im Augenblick fühlte. Wie nicht anders zu erwarten war, hatte Chris auch diese E-Mail ihr zustimmend, am Ende aber doch mehr oder weniger ausweichend beantwortet. Irinas darauffolgende Antwort spiegelte eine unerwartete und für mich überraschende Form von Unsicherheit wider. Ich musste sie dreimal lesen, um zu erfassen, worum es ihr wirklich ging. Letztlich war es fast so etwas, wie sonderbarer Hilferuf, der vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Wochen keinen Sinn ergeben wollte. Wenn man diese E-Mail so verstehen wollte, dann konnte sie in einem kurzen Satz zusammenfasst werden: Warum machst du meinen Traum kaputt? Aus ihrer Perspektive eine nicht ganz unberechtigte Frage, auf die nur Chris die Antwort kannte. Wenn er sie kannte. Ich hoffte, Chris Tagebuch würde heute etwas mehr Klarheit bringen. Aber wie schon gestern befasste er sich mit dem Streit nur als Konsequenz der Gesamtsituation und setzte sich überwiegend mit der Frage auseinander, ob er als gesunder Partner das zu leisten im Stande wäre, was sich Irina von ihm wünschte. Er betrachtete jeden Aspekt unter dem Gesichtspunkt was für Irina und eine gemeinsame Zukunft mit ihr das Beste sein würde.

   Am darauffolgenden Abend war ich mit Sandra zum Essen verabredet. Wir trafen uns diesmal in einem Restaurant, das Sandra ausgesucht hatte und ich bislang nicht kannte. Worüber ich nicht unglücklich war. Waren doch fast alle Restaurants, die mir bekannt waren mehr oder weniger stark mit Erinnerungen an Geraldine verknüpft. Erinnerungen, die mir an diesem Abend lästig gewesen wären. Wie bei unseren vorherigen Treffen tauschten wir uns auch heute Abend darüber aus, was Chris uns wissen ließ. Ich war erstaunt zu hören, dass Chris in den letzten Tagen zu Sandra wesentlich mehr Kontakt unterhielt als zu mir. Zum Teil bis zu fünfmal pro Tag. Sie holte ihr Handy aus ihrer Handtasche und las mir eine SMS vor, die ihr Chris Sonntagnacht um 2:31 Uhr gesendet hatte.
„Ich wollte nur wissen, ob du noch da bist?“
Ich war einigermaßen sprachlos.
„Was würdest du von einer SMS halten?“, fragte mich Sandra mit nachdenklicher Miene.
Eine berechtigte Frage, deren Antwort ich mir nur zu gut vorstellen konnte. In dem für mich erkennbar aufziehenden Sturm suchte Chris wieder Halt bei seiner besten Freundin. Ein Vorgang der durchaus verständlich war, ließ man die Problematik außen vor, dass Irina als die Frau an seiner Seite eigentlich sein Halt sein sollte. Ich versuchte Sandra zu beruhigen. „Wahrscheinlich hat er nur schlecht geschlafen oder, und das halte ich für viel wahrscheinlicher, es war seine Art sich bei dir zu entschuldigen, dass er sich in letzter Zeit so wenig um dich gekümmert hat.“
Sandra packte ihr Handy wieder in ihre Handtasche.
„Glaubst du das wirklich? Nein, ich kenne Chris viel zu gut um nicht zu wissen, dass ihn etwas sehr beschäftigt. Zuerst dieses Schweigen und jetzt das. Zuletzt habe ich solche Nachrichten letzten April und Mai erhalten. Die Zeit, als die Beziehung mit Irina in die Brüche ging. Daher weiß ich, was sie zu bedeuten hat. Nichts Gutes.“
Was sollte ich Sandra darauf erwidern? Dass sich Chris und Irina das ganze Wochenende gestritten haben? Oder dass Chris seit längerem über eine neue und noch kaum erprobte Behandlung nachdachte? Wie schon vor ein paar Wochen war ich Opfer meines Wissensvorsprungs, oder genauer gesagt der Art, wie ich ihn erlangt hatte.
„Bist du dir sicher?“, erwiderte ich und versuchte dabei besorgt zu klingen.
„Ja, bin ich mir. Chris macht so etwas immer, wenn ihn etwas beschäftigt. Das war schon im Frühjahr 2010 bei seiner ersten Diagnose so. Auch im darauffolgenden Frühling, als er lange nicht wusste, ob er mit Irina eine Beziehung anfangen sollte. Ich könnte die Liste noch fortsetzen.“
„Und im Oktober 2012?“, unterbrach ich Sandra.
„Ja, da besonders. Warum?“
Meine Frage hatte Sandra sichtlich überrascht und ich brauchte schnell eine Erklärung für ihren Grund.
„Es war die Zeit, in der festgestellt wurde, dass das Ding.“
„Das Ding heißt Tumor! Ich lasse mir weder von Chris noch von dir diese Verharmlosung aufzwingen!“, fiel mir Sandra hart ins Wort.
„Entschuldige bitte. Aber Chris nennt es immer so und ich habe mir angewöhnt, es ebenso zu nennen. Vielleicht ist mir das Wort ebenso unangenehm, wie ihm.“
Sandra sah mich kritisch an.
„Ich erzähle dir jetzt im Vertrauen etwas, das du mit Sicherheit nicht weißt. Nach der ersten Diagnose im Februar 2010 hatte Chris große Angst. Phasenweise war es selbst für mich sehr schwer überhaupt noch an ihn heran zu kommen. Richtig schlimm wurde es, als er Anfang Mai erfuhr, dass seine damalige Freundin ihn seit Monaten betrogen hatte. Der damalige Sommer war eine einzige Katastrophe. Chris war argwöhnisch und verschlossen geworden. Tagelang sprach er fast überhaupt nicht mehr.“
Das müssen die Geister der Vergangenheit gewesen sein, über die Chris im November 2012 in seinem Tagebuch geschrieben hatte, als er anfing zu glauben Irina würde ihn betrügen. Jetzt wurde mir einiges klarer. In Chris Vorstellung musste sich die Geschichte wiederholt haben. Wahrscheinlich hatten die Ereignisse des Sommer 2010 in Chris ein latentes Grundmisstrauen hervorgerufen, ohne dass er Irinas Verhalten möglicherweise anders interpretiert hätte.
Sandra fuhr fort.
„Nach der erfolgreichen Behandlung im September besserte sich vieles. Chris wurde ruhiger und ausgeglichener. Aber er war längst noch nicht wieder so, wie ich ihn kennengelernt hatte. Als im folgenden Winter Raschka krank wurde fing alles wieder von vorne an.“
Vor dem Wort krank hatte Sandra eine winzige Pause gemacht. Offensichtlich wollte sie mir die wahre Ursache für Raschkas Erkrankung nicht mitteilen.
„Aus dem Chris, der den Menschen die ihm nahe standen vertraute, wurde wieder ein zutiefst misstrauischer Mensch. An manchen Tagen hatte ich das Gefühl, er misstraute sogar mir. Dann tauchte Irina in seinem Leben auf und ich konnte beobachten, wie es Chris wieder besserging. Ihr schien er zu vertrauen.“
„Weißt du, ob Irina darüber Bescheid weiß? Ich meine nicht nur, dass der Tumor schon einmal da war, sondern vor allem was er mit seiner ehemaligen Freundin erlebt hat?“, stoppte ich Sandras Erklärung.
„Soweit ich weiß ja. Chris hat mir Anfang April 2011 gesagt, dass er Irina alles erzählt hatte. Wie ihn seine damalige Freundin hintergangen hatte, über die dreisten Lügen, die sie versucht hatte ihm zu verkaufen, bis hin zur wahren Ursache für Raschkas Tod. Irina weiß alles, auch das er schon einmal erkrankt war.“
Interessante Information, die mir Sandra ohne es zu ahnen gab. In diesen Sätzen steckte eine Unzahl entscheidender Hinweise über deren Tragweite ich mir in Ruhe Gedanken machen musste.
Sandra hielt kurz inne, als wollte sie sich vergewissern, dass ich ihr weiter aufmerksam zuhörte, bevor sie ihre Gedanken weiter ausführte.
„Obwohl diese Beziehung vom Sommer 2011 bis in den Frühsommer 2012 schwierig war und nach meiner Meinung überhaupt nicht existierte, blieb Chris trotzdem guter Dinge. Er reagierte, in Anbetracht seiner Erfahrungen aus dem Vorjahr, für mich unerwartet und hielt weiter vorbehaltlos zu Irina. Als die beiden dann im Sommer 2012 wieder zusammenkamen, war er für ganz kurze Zeit zum ersten Mal seit Anfang 2010 wieder der Chris, den ich kannte. Schwierig mit ihm wurde es wieder ab Oktober 2012, als der Tumor erneut diagnostiziert wurde. Chris veränderte sich rasant. Dann begannen diese SMS wieder.“
Sandra trank einen Schluck ihres Orangensaft und erzählte weiter.
„Im Gegensatz zu 2010 hielt sich Chris Angst diesmal in Grenzen. Oder er versteckte sie gut. Das kann ich nicht mit Sicherheit beurteilen. In allen unseren Gesprächen, nachdem feststand, dass es sich nur noch um ein paar Monate handeln würde, richtete er sein ganzes Augenmerk ausschließlich auf Irina. Für ihn stand nur noch im Fokus, wie er Irina, der er nicht zutraut mit dieser Situation umgehen zu können, oder es ihr nicht zumuten wollte, darüber bin ich mir nie ganz klargeworden, so loswerden konnte, dass sie keinen Verdacht schöpfte.“
Ein winziges Detail in Sandras Schilderung erweckte meine Aufmerksamkeit. Sie hatte gesagt: nicht zutraut, dabei hätte es nicht zutraute heißen müssen. Ich war mir nicht sicher, ob das nur ein kleiner Fehler war oder ob Sandra dies mit Absicht so formuliert hatte.
„Kurz bevor die Beziehung zu Ende ging bekam ich wieder diese SMS. Was mich damals am meisten erstaunte war, dass Chris nachdem Irina ihn verlassen hatte, seltsam erleichtert wirkte. Er versuchte sogar mir das Gefühl zu vermitteln, dass ihm jetzt alles weitestgehend egal war. Ich wusste aber genau, dass das nicht der Wahrheit entsprach.“
„Was machte dich so sicher?“, unterbrach ich Sandra abermals.
„Seine Liste von Orten, die er unbedingt noch sehen wollte zum Beispiel“, erwiderte Sandra mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Einige der Orte passten nicht zu dem Chris, den ich kenne. Deshalb war ich mir sicher, dass hinter ihr viel mehr stecken musste, als er zugab.“
Sandra wusste weitaus mehr als ich bislang angenommen hatte. Sie kannte jedes Detail aus Chris Leben. Deshalb war sie sich auch sicher, wie sie diese SMS zu deuten hatte. Chris kommunizierte mit ihr auf eine sehr spezielle Art.
„Und was schließt du daraus?“, interessierten mich Sandras Rückschlüsse auf die jüngsten Vorgänge.
Sandra begann nervös ihren Ring hin und her zu drehen.
„Genau kann ich dir das noch nicht sagen. Ich vermute, dass Chris über irgendetwas grübelt, dass entweder mit seiner Krankheit oder mit Irina zu tun haben muss. Wahrscheinlich mit beidem. Was es auch ist, ich vermute stark, er wird wieder alles für Irina tun. Wie er es letztes Jahr auch getan hat.“
Sandra kannte Chris wirklich sehr gut. Ohne einen Blick in sein Tagebuch werfen zu müssen, von dessen Existenz sie mit Sicherheit ohnehin nicht wusste, waren ihre Schlussfolgerungen richtig.
„Was hältst du eigentlich von Irina?“
Sandra schaute mich nachdenklich an.
„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Obwohl mir Chris sehr viel über sie erzählt hat, ergibt vieles was sie macht in meinen Augen keinen Sinn. Ich habe in den letzten Jahren oft über diese Frau nachgedacht und bin nie zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen. Manches spricht dafür, dass sie Chris liebt. Viel zu viel aber dagegen. Sie benimmt sich selten so, wie man es von einer liebenden Frau erwarten würde.“
„Zum Beispiel?“
„Eigentlich möchte ich dazu nichts sagen.“
Sandra schien kurz zu überlegen.
„Chris braucht eine bestimmte Nähe zu seiner Freundin. Wie die meisten Menschen zu ihrem Partner. Er hat mir das oft gesagt. Mit einer losen Beziehung, in der man sich nur dann und wann sieht, kann er nicht viel anfangen. Nicht dass du jetzt denkst Chris klammert. Das nicht tut er nicht. Er wünscht sich lediglich mit seiner Partnerin Zeit zu verbringen, mit ihr zu reden oder etwas mit ihr zu unternehmen. Nicht sich morgens und abends eine E-Mail zu schicken oder einen kurzen Spaziergang am Sonntagnachmittag und das war es dann.“
Sandras Blick wanderte unruhig durch das Restaurant, während sie wieder ihren Solitaire hin und her drehte.
„Immer, wenn sich die Beziehung mit Irina gut zu entwickeln schien, fing sie auf einmal an ihre freie Zeit ohne ihn zu verbringen. Ich erinnere mich an zu viele Wochenenden an denen Chris mir sagte, dass Irina ihn per E-Mail wissen ließ, dass sie wieder einmal keine Zeit für ihn hatte. Am Ende ging das so weit, dass sich Chris irgendwann nicht einmal mehr traute sie zu fragen, ob sie am Wochenende überhaupt Zeit für ihn hätte. Das Ergebnis davon war, dass Chris in den vergangenen Jahren an den Wochenenden wesentlich mehr mit mir unternommen hatte, als mit Irina. Grotesk nicht?“
Sandras Ausführungen passten zu dem Bild, dass ich mir im letzten Jahr, als ich Chris Tagebücher gelesen hatte von Irina und ihrer Art eine Beziehung zu führen gemacht hatte. Trotzdem war ich skeptisch und hakte nach.
„Bist du dir sicher, dass Chris viel Wert auf Nähe und gemeinsame Zeit mit seiner Freundin legt?“
Sandra verdrehte leicht ihre Augen und erinnerte mich damit ein bisschen an Geraldine.
„Ich bin mir absolut sicher!“, erwiderte sie in energischem Tonfall. „Als ich Chris kennenlernte hatte er eine Freundin und er verbrachte auf ganz wenige Ausnahmen jedes Wochenende mit ihr. Wenn wir uns in dieser Zeit getroffen haben, dann nur unter der Woche. Niemals an einem Wochenende. Das kam für Chris überhaupt nicht in Frage. Die Wochenenden waren immer voll und ganz seiner Freundin vorbehalten. Deshalb habe ich mich auch so für ihn gefreut, als er mir erzählt hatte, dass Irina sich selbst als Glucke bezeichnet hatte, die ihre freie Zeit am liebsten mit ihrem Freund verbringt. Ebenfalls diese Nähe wollte, die Chris so wichtig ist und die er braucht. Nur leider war ihr Verhalten, bis auf wenige Ausnahmen immer genau entgegengesetzt und Chris kam damit nie zurecht.“
Sandras Ausführungen hatten mich neugierig gemacht. Ich wollte hören, was Sandra noch über Irina und ihr Leben wusste.
„Was hat er dir denn alles von ihr erzählt? Ich würde gerne mehr über sie wissen.“
„Chris hat mir diese Dinge im Vertrauen erzählt“, erwiderte Sandra leicht ungehalten. „Ich werde sie nicht weitergeben. Wenn du mehr über sie in Erfahrung bringen willst, musst du Chris fragen.“
Mittlerweile begann sich das Restaurant langsam zu leeren und Sandra blickte auf ihre Uhr.
„Wir sollten jetzt gehen“, sagte sie nachdrücklich. „Aber vorher habe ich eine Frage an dich. Würdest du mich am Freitagabend ins Ballett begleiten? Eines will ich gleich klarstellen. Ich habe die Karten schon seit Dezember und wollte ursprünglich mit Chris gehen. Aber ich denke im Augenblick wäre es unpassend mit ihm dort hin zu gehen.“
Ich zögerte kurz. Ballett war gar nicht meine Welt und bislang hatte ich es immer erfolgreich vermieden mir dieses Getänzel ansehen zu müssen. Aber ich wollte Sandra diese Freude machen.
„Sehr gerne. Ich war zwar noch nie im Ballett, aber ich bin neugierig.“
Sandra freute sich über meine Zusage.
„Ich möchte dich aber darauf hinweisen, dass du einen Anzug anziehen musst.“
Jetzt hielt sich meine Freude doch mehr in Grenzen.

   Auf der Fahrt nach Hause ließ ich mir unser Gespräch nochmals durch den Kopf gehen. Manche Zusammenhänge waren mir jetzt zwar etwas deutlicher geworden, trotzdem hatte ich noch immer das Gefühl, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Wie bei einem Puzzle, das nicht richtig zusammenpassen wollte. In mir wuchs die Überzeugung, dass es etwas geben musste, das ich die ganze Zeit übersehen habe. Wie ich es gerne tat, trank ich auch an diesem Abend ein Glas Whisky bevor ich schlafen ging. Doch anstatt mich entweder vor meinen Kamin oder auf mein Sofa zu setzen, ging ich mit meinem Glas in der Hand zwischen Wohnzimmer und Esszimmer auf und ab und fragte mich: Was übersehe ich? Für beinahe jede Frage schien es eine Antwort zu geben. Doch schon wie im letzten Sommer gaben alles nur bedingt einen Sinn.
Ich hatte mein Glas leer getrunken und ging zurück zur Bar, um mir nachzuschenken. Irinas Rückkehr, Chris Reaktion darauf, seine Reaktionen im generellen, der ganze Verlauf der letzten Monate. Nichts schien einen logischen Grund zu haben. Grundsätzlich hatten sich auch die Umstände, die im letzten Frühjahr zu seiner Entscheidung geführt hatten, nicht geändert. Lediglich das Zeitfenster hatte sich verschoben. Dennoch musste es einen Unterschied in Chris innerer Haltung zwischen April 2013 und Januar 2014 geben. Obwohl er von Anfang an. Von Anfang an. In meinem Kopf klingelten diese Worte. Vielleicht war das der Schlüssel. Chris hatte bereits im Dezember von der neuen Behandlungsmethode erfahren. Mit Sicherheit unbewusst musste diese Kenntnis seine Entscheidung für Irina beeinflusst und Prozesse in Gang gesetzt haben. Chris musste mit seiner Entscheidung für Irina instinktiv angefangen haben den Kampf gegen das Ding aufzunehmen. Er wollte für Irina wieder der Mann sein, der er war, bevor sein Leben aus den Fugen geraten war. Der Mann von dem sie träumte, den sie im Sommer 2012 hatte, wie sie es einmal geschrieben hatte. Der finale Auslöser, der diesen begonnenen Prozess in Chris Bewusstsein gebracht hatte, war eindeutig Irinas Satz: Du willst doch mit mir alt werden. Das stand deutlich in seiner Aufzeichnung über den Tag seiner Untersuchung im Februar. Mir dämmerte langsam, dass Irinas erste E-Mail, die durchaus flapsig gemeint sein konnte, ebenso wie das Gespräch der beiden über einen möglichen Termin in ihrer ersten gemeinsamen Nacht gar kein Scherz war, sondern ernster, als ich damals angenommen hatte und Irina die Aussage ihrer E-Mail mit diesem Satz noch bekräftigt hatte. Das könnte ein Lösungsansatz sein. Mein Glas war schon wieder leer. Drei Gläser Whisky an einem Abend trank ich höchst selten. Dazu waren mir Malts viel zu sehr Genussmittel. Aber nicht heute Abend. Sieht man von der Tatsache ab, dass Irina, über Chris Krankheit Bescheid wusste, herrschte auf den ersten Blick beinahe derselbe Zustand, wie im vergangenen Frühjahr. Chris hielt alles was seine Krankheit betraf soweit er konnte von Irina fern. Was mich zu einer weiteren Frage führte. Obwohl es Irinas Rückkehr ihre alleinige und scheinbar durch niemand von außen beeinflusste Entscheidung war und sie damit eindeutig Position bezogen hatte, hatte Chris schon zu Beginn große Zweifel. Lange vor den unglücklichen Äußerungen Irinas, die mir nach wie vor viel Kopfzerbrechen bereiteten und die ich immer noch nicht einordnen konnte. Demzufolge konnten diese Chris Verhalten nicht erklären. Dagegen sprach auch, dass Chris diesen in seinen Aufzeichnungen kaum Beachtung geschenkt hatte. Langsam aber sicher reifte in mir die Erkenntnis, dass es etwas viel tiefgreifenderes geben musste. Etwas, dass Chris in seinem Tagebuch nie explizit erwähnte und das er schon länger beobachtete. Dass ihm großes Sorgen bereitete und für das er bislang keine Lösung gefunden hatte. Vieles wäre dann erklärbar. Chris Zweifel vom ersten Tag an, seine falsche Zeitangabe Irina gegenüber, seine ungenauen Auskünfte über seinen Zustand, das Verheimlichen seiner Ergebnisse, dass er mit Irina nicht über seine Pläne sprechen wollte und nicht zuletzt seine ungewöhnlichen Reaktionen auf Irinas Äußerungen. Ich trank meinen letzten Schluck Whisky und es stellte sich mir dieselbe Frage, wie schon vor Wochen. War Irina ein Mensch, der sich tatsächlich nicht mit Chris Krankheit beschäftigen wollte oder konnte? Und wenn ja, aus welchen Gründe? Außer Angst fiel mir keine vernünftige Erklärung ein. Desinteresse noch, aber das war kaum mit dem Verlauf der ganzen Geschichte in Einklang zu bringen. Eine Art Spiel möglicherweise. Aber auch das widersprach so ziemlich allem. Andere, einigermaßen plausible Begründungen wollte mir an diesem Abend dazu nicht mehr einfallen. Mit dem mulmigen Gefühl, dass hier nichts so war, wie es den Anschein hatte, ging ich an diesem Abend zu Bett.

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