Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 13 – Drei einfache Fragen

     Mit einem Teller Antipasti, Ciabatta und einem Glas Rotwein setzte ich mich vor meinen Fernseher. Nach den ereignisreichen letzten Tagen war ich froh diesen Samstagabend in Ruhe vor dem Fernseher verbringen zu können. Ich war gerade im Begriff mir einen Film auszusuchen, als es überraschend an meiner Haustüre läutete. Genervt von dieser unwillkommenen Störung ging ich zum Monitor der Videoüberwachungsanlage. Auf dem Bildschirm war Sandra zu sehen. Irritiert betätigte ich den Toröffner und öffnete die Haustüre. „Schön dich zu sehen. Was führt dich her?“, begrüßte ich Sandra. Sie umarmte mich kurz und ging dann wortlos an mir vorbei Richtung Küche.
„Ich sitze im Wohnzimmer“, rief ich ihr hinterher.
Sandra wechselte die Richtung und ging in mein Wohnzimmer. Als ich dort ankam, saß sie bereits auf meinem Sofa.
„Was möchtest du trinken? Einen Orangensaft wie immer?“
Sandra sah mich an, griff nach meinem Weinglas und trank einen großen Schluck.
„Ein Glas Wein natürlich“, stellte ich leicht verdutzt fest. „Ich bringe dir sofort eines.“
Ich ging in die Küche, holte ein Weinglas aus dem Schrank, nahm die geöffnete Flasche Barolo und kehrte in mein Wohnzimmer zurück. Sandra hatte sich inzwischen von meinem Ciabatta bedient.
„Hast du Hunger? Ich kann gerne etwas holen.“
Ohne mich anzusehen griff Sandra zuerst nach einer eingelegten Peperoni, dann nach den gebratenen Auberginen.
„Ich hole noch mehr aus der Küche. Entschuldige mich bitte einen Augenblick. Bin gleich wieder zurück.“
Statt durch den Flur, ging ich durch das Esszimmer in die Küche. Sandra benahm sich höchst eigenartig und ich hatte keine Ahnung warum. Offensichtlich war nur, dass sie extrem schlechte Laune haben musste. Ein paar Minuten später kehrte ich mit einem zweiten Teller Antipasti in das Wohnzimmer zurück. Sandra hatte mittlerweile meinen Teller halb leer gegessen und das Glas Wein ausgetrunken. Ich stellte den Teller auf den Wohnzimmertisch ab und nahm auf dem Sofa Platz. Ohne ein Wort zu wechseln aßen wir ein paar Minuten, bis Sandra ihr leeres Weinglas anhob und mir damit signalisierte, dass sie gerne ein weiteres Glas hätte. Bis zum heutigen Abend hatte Sandra nie mehr als ein Glas Wein getrunken, wenn sie bei mir war. Was immer hier vor sich ging, es gefiel mir nicht und ich begann mir Sorgen zu machen. Über 10 Minuten saßen wir mittlerweile schweigend auf meinem Sofa, in denen ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Sandra zwischen zwei Schluck Wein, ihren Solitaire hin und her drehte. Ein eindeutiges Zeichen, dass sie etwas beschäftigte. Beunruhigt über das, was ich sah, holte ich eine Zigarette aus der Schachtel die vor mir auf dem Wohnzimmertisch lag und zündete sie an. Nach dem ersten Zug fasste ich mir ein Herz.
„Was ist eigentlich heute los mit dir?“
Sandra wich meinen Blicken aus.
„Nichts. Was soll schon sein?“
„Ganz sicher?“, hakte ich nach.
„Ja“, erwiderte Sandra einsilbig.
„Aha, und deshalb sitzt du hier und trinkst schon dein zweites Glas Wein.“
„Genau deshalb!“, erwiderte Sandra in ungewohnt patzigem Ton, bevor sie ihr Glas mit einem großen Schluck beinahe leerte.
„Würdest du bitte aufhören mich für dumm verkaufen zu wollen“, raunte ich zurück.
Sandra sah mich betroffen an.
„Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Mir geht es heute nicht gut.“
„Das sehe ich, antwortete ich ruhig. „Möchtest du jetzt darüber reden?“
„Es ist wegen…“, Sandra zögerte und griff erneut nach ihrem Weinglas.
„Bevor du weiter trinkst, versprich mir bitte, dass du mit einem Taxi nach Hause fährst.“
„In Ordnung“, seufzte Sandra.
„Dann gib mir bitte deinen Autoschlüssel!“
Wortlos fasste sie in ihre Handtasche, die sie neben sich auf dem Sofa abgestellt hatte, kramte ihren Autoschlüssel hervor und legte ihn auf den Wohnzimmertisch.
„Es geht um Chris, nicht wahr? Ich bin mir sicher, dass alles gut werden wird“, versuchte ich Sandra zu beruhigen.
Ihre blaugrauen Augen, die sonst Wärme ausgestrahlten, sahen mich ausdruckslos an.
„Wird es das wirklich? Ich glaube du verstehst gar nichts!“
Sandras Ton hatte sich verändert. Er war jetzt bestimmender geworden.
„Was verstehe ich denn nicht? Ich halte Chris Entscheidung für vernünftig und richtig. Darüber haben wir doch vorgestern gesprochen.“
„Darum geht es nicht!“, erwiderte Sandra barsch.
„Und worum geht es dann?“
Sandra blickte mich ungläubig an.
„Du begreifst es wirklich nicht. Unfassbar!“
Sie schüttelte ihren Kopf und sah mich fassungslos an.
„Um diese Irina, ihre Spielchen und die Art wie sie Chris behandelt!“, fauchte sie. „Wie hast du denn ihre E-Mail verstanden?“
Ohne meine Antwort abzuwarten sprach Sandra weiter.
„Mit Sicherheit falsch. Wie solltest du sie auch richtig verstehen? Du bist schließlich ein Mann. Deshalb übersetze ich dir die wichtigsten Teile in eine für Männer verständliche Sprache!
Im Grunde hat sie nichts Anderes geschrieben, als dass Chris ihr nichts bedeutet. Sie hat ihm zu verstehen gegeben, dass er nur Ballast in ihrem Leben ist, den sie jetzt entsorgt hat. Neben ihrem Vergnügen sind ihr nur ihre Arbeit, ihre Familie und Freunde wichtig. Weißt du eigentlich, was der Ausdruck oberflächlichen Spaß haben zu wollen wirklich bedeutet? Das heißt nichts anderes als…“
Sandra hielt kurz inne.
„Du bist alt genug um das zu wissen. Ich muss dir das nicht im Detail erklären.“
Sandra hatte die Frage, die ich ihr vorgestern Abend nicht stellen wollte, heute in aller Deutlichkeit beantwortet. Sie hatte Irinas E-Mail genauso verstanden wie ich, als ich sie zum ersten Mal gelesen hatte. Im Gegensatz zu ihr waren mir aber, nachdem ich sie öfter gelesen hatte, gewisse Zweifel an dieser Interpretation gekommen.
„Aber sie hat doch geschrieben, dass sie ihn liebt und das, soweit ich mich erinnere, deutlich.“ „Ja und? Das ist nichts weiter als das übliche Geschwafel um das eigene Gewissen zu beruhigen, um vor sich selbst gut da zu stehen“, sagte Sandra betont abfällig.
Sandra war richtig in Fahrt gekommen. Ich versuchte mit einer sachlichen Frage wieder ein wenig Ruhe in unser Gespräch zu bekommen.
„Kann es nicht sein, dass Irina mit Chris, so wie er gerade ist einfach nicht zu Recht kommt? Du selbst hast vor kurzem gesagt, dass es auch dir hin und wieder schwer fällt ihn zu verstehen und mit ihm klarzukommen.“
Kaum hatte ich diesen Satz zu Ende gesprochen wurde mir bewusst, dass ich so eben Sandra offen mit Irina verglichen hatte.
„Hätte sie sich über seine Krankheit informiert, wüsste sie warum Chris so ist!“, keifte Sandra mich an. „Das hat sie aber offensichtlich nicht! Es hat sie nämlich nie interessiert! Sonst hätte sie schon im letzten Sommer auf Chris Brief reagiert. Wie das jeder anständige Mensch getan hätte! Das Einzige was sie interessiert sind ihre eigenen Wünsche. Chris hat nicht funktioniert wie er sollte, deshalb wurde er aussortiert. Beiseite gestellt wie Müll. Ob er krank ist oder nicht spielt für diese Frau doch überhaupt keine Rolle. Hauptsache ihr geht es gut und sie hat ihren Spaß. Genau das stand in der E-Mail. Das ist Egoismus pur!“
„Willst du damit sagen, sie hat das mit Chris gar nie ernst gemeint?“, unterbrach ich Sandras Redefluss. „Wenn sie Chris nicht liebt, warum ist sie dann überhaupt zurückgekommen?“
Sandra fing an eigenartig zu lachen.
„Das weiß wahrscheinlich nur Gott. Aber sicher nicht, weil sie ihn liebt.“
„Halt Sandra! Sie hatte wegen Chris ihren Freund verlassen. Das musst du doch wissen?“ Sandra verdrehte ihre Augen.
„Natürlich weiß ich das. Es ändert aber nichts daran. Sie betrachtet Chris als ihr persönliches Spielzeug, mit dem sie umgehen kann, wie es ihr beliebt. Wenn sie Lust auf ihn hat, darf er ein bisschen Zeit mit ihr verbringen. Hat sie keine mehr auf ihn, weil andere Männer interessanter sind, lässt sie ihn am ausgestreckten Arm verhungern. Ist dir nicht aufgefallen, dass es in der gesamten E-Mail nur um sie geht? Keine einzige Frage nach Chris! Sie spricht von Druck, den sie von allen Seiten auszuhalten hat. Das ist Chris gegenüber eine bodenlose Unverschämtheit. Er hat noch nie auf irgendjemand Druck ausgeübt seit er krank ist. Nicht einmal auf mich! Wer sie wirklich ist, hat sie mit dieser E-Mail eindrucksvoll unter Beweis gestellt! Und ihre Bitte am Schluss, dass Chris ihr verzeihen soll ist mit Abstand die größte Frechheit, die ich je gelesen habe! Ich bin der Überzeugung, dass sie ihn nie geliebt hat, sondern er immer nur Mittel zum Zweck für sie war. Der Backup-Mann, wenn gerade kein anderer da war. Kann ich bitte noch ein Glas Wein haben?“
„Selbstverständlich. Ich muss nur kurz eine neue Flasche holen. Entschuldige mich einen Augenblick.“
Ich griff nach der leeren Flasche und machte mich auf den Weg in die Küche. Schon Vorgestern war, wenn auch unterschwellig, erkennbar, dass Sandra, seit sie von der Trennung erfahren hatte, eine massive Abneigung gegen Irina hegte. Nun war diese in offenen Hass umgeschlagen für den es einen Anlass geben musste. Einen, den es vorgestern noch nicht gab. Dass dieser lediglich dem Prozess der Verarbeitung des Ereignisses geschuldet war konnte ich mir nicht vorstellen. Sicher war Sandra, wie ich ebenfalls, menschlich sehr betroffen. Dennoch sollten für sie die positiven Aspekte, dass Chris wieder frei für sie war und er alles daran setzte wieder gesund zu werden, deutlich überwiegen. Gespannt darauf, wie sich unser Gespräch weiterentwickeln würde, kehrte ich mit einer vollen Flasche in mein Wohnzimmer zurück und schenkte Sandra nach. Kaum hatte sie den ersten Schluck getrunken, sagte sie leise:
„Ich hätte Chris damals nicht abhalten dürfen. Das war ein großer Fehler.“
Ich schaute Sandra fragend an.
„Was meinst du mit damals abhalten dürfen?“
„Vor drei Jahren hatte Chris mich am Karsamstag zum Flughafen gefahren. Ich war gerade dabei mein Gepäck aufzugeben, als ich bemerkte, dass Chris fassungslos auf sein Handy starrte. Er hatte einen völlig leeren Gesichtsausdruck. Ich ging sofort zu ihm und fragte was los ist. Irina hatte ihm geschrieben, dass sie sich mit Händen und Füßen gegen diese Beziehung wehrte und sie keine Beziehung mit ihm haben will. Ich versuchte Chris zu beruhigen, vor allem aber ihn davon abzuhalten ihr eine Antwort zu schicken, die er später sicher bereuen würde. Nach viel gutem Zureden ist mir das auch gelungen. Ich dachte damals, das sind die üblichen Probleme am Anfang einer Beziehung. Die Freiheit des Single-Lebens für eine Partnerschaft aufzugeben fällt nicht jedem leicht. Damals waren die beiden erst knapp zwei Wochen zusammen, musst du wissen.“
Sandra machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Heute weiß ich, was diese Nachricht wirklich zu bedeuten hatte.“
Diese Episode aus Chris Leben kannte ich nicht. Ich konnte mich auch nicht erinnern in seinem Tagebuch darüber gelesen zu haben. Ein derart wichtiges Detail hätte ich bemerkt. Dass Sandra diese Geschichte erfunden hatte konnte ich mir allerdings auch nicht vorstellen. Dazu hatte ich sie als viel zu aufrichtigen Menschen kennengelernt. Nachdem sie einen weiteren Schluck Wein getrunken hatte, sagte Sandra:
„Du hast mich vor ein paar Tagen gefragt, was für ein Mensch ich in Irina sehe, erinnerst du dich? Einer ehrlichen Antwort bin ich damals weitgehend ausgewichen, weil sie noch Chris Freundin war. Heute brauche ich keine Rücksicht mehr zu nehmen.“
Sandra wirkte jetzt wieder etwas ruhiger und gefasster.
„Mir ist in den vergangenen Jahren viel unangenehm aufgestoßen, nicht nur das mit den Wochenenden.“
Der Gesichtsausdruck von Sandra zeigte, dass sie von mir die Frage erwartete, was ihr noch alles aufgefallen war.
„Willst du mir erzählen, was dich noch alles gestört hat?“
Bestätigend nickte Sandra leicht mit dem Kopf.
„Viele Menschen sind häufig geschäftlich unterwegs. Ich gehörte bis letzten April auch zu denen.“
Ich unterbrach Sandra.
„Warum hast du damit aufgehört?“
Sandra schaute mich ungläubig an.
„Wegen Chris natürlich. Warum denn sonst?“
Um ihrem Unverständnis für meine Frage Ausdruck zu geben, schüttelte sie merklich ihren Kopf, bevor sie weiter sprach.
„Im Gegensatz zu ihr hatte ich Chris immer gesagt, wohin ich ging und wann ich wieder zurück sein werde. Wo Irina war wusste Chris meist nicht. Sie ging irgendwo hin und kam irgendwann wieder. Häufig wusste er nicht, ob sie in der Stadt war oder nicht. Er hat sich oft bei mir darüber beklagt. Wenn ich ihn gefragt habe, wo Irina ist, bekam ich meist ein Schulterzucken zur Antwort. Dass Chris vergessen hatte wo sie war, oder er ihr schlicht nicht richtig zugehört hatte, kann ich mir bei Chris nicht vorstellen. Er merkt sich immer alles. Eines Tages riet ich ihm, er solle sie doch fragen, wenn sie ihm schon von sich aus kaum etwas sagte. Immerhin behauptete sie von sich seine Freundin zu sein. Weißt du was Chris mir geantwortet hat? Das habe ich getan und Irina hat mir gesagt, dass sie mir keine Rechenschaft schuldig sei, wo sie ist und was sie macht. So ähnlich verhielt es sich mit dem Thema Urlaub. Einmal ist Irina weggefahren und hat es Chris erst erzählt als sie bereits fort war. Wenn sie zurückkam war ihr nie wichtig Chris als erstes zu sehen, wie man annehmen sollte, sondern irgendwelche Freunde und Bekannte. Sie hat es sogar fertig gebracht nach ein paar Tagen Urlaub sofort wieder auf Geschäftsreise zu gehen ohne Chris dazwischen zu treffen. Stattdessen bekam er ein paar warme Worte per E-Mail oder SMS, wenn überhaupt. Apropos E-Mail, das mit Abstand geschmackloseste war, als Chris kurz vor Weihnachten 2012 von ihrem E-Mail Server informiert wurde, das sie Urlaub hatte. Die Dame hatte es wohl nicht für nötig befunden ihren ach so geliebten Freund im Vorfeld davon in Kenntnis zu setzen. Darüber rege ich mich bis heute maßlos auf!“
Sandra trank einen Schluck Wein, stellte aber diesmal das Glas nicht ab, sondern behielt es in ihrer rechten Hand.
„Mit den Geburtstagen war es ähnlich. Ihren, der ihr laut Chris angeblich so unwichtig ist, feierte sie grundsätzlich mit ihren Freunden. Natürlich ohne ihn!“
„Dieses Jahr haben sie sich aber an ihrem Geburtstag gesehen“, warf ich ein.
Sandra blickte mich ungläubig an, trank noch einen Schluck und stellte dann das Glas wieder auf dem Tisch ab.
„Diese Stunde oder etwas länger um die Mittagszeit nennst du sich sehen?“ sagte sie entrüstet.
„Das ist ein schlechter Witz, wenn sie davon ausgehen muss, dass es mit großer Sicherheit der letzte gemeinsame Geburtstag sein wird!“
Damit hatte Sandra nicht Unrecht. Ich hatte an diesem Tag das gleiche gedacht, als ich Chris Tagebucheintrag gelesen hatte.
„An Chris Geburtstag hat sie es ein einziges Mal geschafft für eine knappe halbe Stunde bei ihm zu sein. Eine knappe halbe Stunde Zeit für den Geburtstag des Freundes, unfassbar!“
„Das war 2012, nicht?“
Mein Mund war wieder einmal schneller als mein Verstand gewesen. Sandra wusste, dass Chris und ich uns damals noch nicht kannten.
„Ja“, erwiderte Sandra prompt. „Woher weißt du das?“
Ich kam etwas ins straucheln und brauchte schnell eine plausible Antwort darauf, woher ich diese Information hatte.
„Chris hatte das einmal beiläufig angeschnitten, als wir uns über Geburtstage unterhalten hatten.“
„Kann ich mir vorstellen, dass er das erwähnt hat“, erwiderte Sandra verständnisvoll. „Dieser Geburtstag geht ihm bis heute nach. Willst du wissen, wie dieser Tag zu Ende ging?“
Sandra griff nach einer Scheibe Ciabatta und biss ein Stück ab.
„Natürlich will ich das. Neugier ist einer meiner schlimmsten Fehler“, beantwortete ich ihre Frage grinsend.
Ich hoffte mit diesem Scherz unser Unterhaltung etwas aufzulockern. Sandra schmunzelte kurz.
„Chris kam an diesem Abend zu mir. Gegen 19:30 Uhr stand er plötzlich vor meiner Türe. Ich hatte an diesem Abend nicht mit ihm gerechnet, weil ich sicher war, er würde diesen Abend mit Irina verbringen. Chris ist sein Geburtstag nämlich sehr wichtig. Aber statt ihn mit seiner Freundin zu verbringen, saß er bei mir auf dem Sofa und schaute fast wortlos mit mir „8 Blickwinkel“ an.
„Guter Film“, rutschte mir heraus. Eine in diesem Moment reichlich deplatzierte Bemerkung, die Sandra kommentarlos überging.
„Mitten im Film bekam Chris dann eine Nachricht. Chris schaute sie sich kurz an, schüttelte den Kopf und legte dann sein Handy wieder beiseite. Ich wollte ihn nicht fragen, aber ich war mir sicher, dass diese Nachricht von Irina war. Die ja angeblich sterbenskrank zuhause im Bett lag. Sofern man den Teil mit sterbenskrank glauben wollte.“
Der Sarkasmus in Sandras letztem Satz war unüberhörbar.
„Auch an Weihnachten und Silvester haben sie sich nie gesehen. Irina sind diese Tage wohl nicht wichtig, dann haben sie Chris gefälligst auch nicht wichtig zu sein! Oder sie hatte jedes Mal besseres zu tun. Oder sie nahm das Fest der Liebe anderweitig war? Zutrauen würde ich es ihr!“ ätzte Sandra weiter

   Sandra bestätigte vieles, das ich durch das Lesen von Chris Tagebuch bereits gewusst oder zumindest ahnt hatte und leider manches, dass ich damals schon befürchtet hatte. Ich beobachtete sie eine Weile. Sie wirkte nicht nur zornig und aufgebracht, sondern auch auf eine eigenartige Weise nervös und diese Nervosität passte irgendwie nicht in das Bild des heutigen Abends.
„Mir ist noch einiges mehr aufgefallen“, fuhr Sandra fort, nachdem sie ein paar Oliven und eine Scheibe gebratene Zucchini gegessen hatte. „Zum Beispiel, war Irina immer, wenn sie von einer Messe zurückkam, wie ausgewechselt Chris gegenüber. Zum ersten Mal ist mir das im Herbst 2011 aufgefallen, dann im Herbst 2012, im Frühjahr 2013 und schließlich vorletzten Monat.“
„Sie wird müde vom Messestress gewesen sein“, wandte ich ein.
„Aber nicht von dem Messestress, den du meinst. Ich weiß von meinen Mitarbeitern genauer als mir lieb ist, was auf Messen abends und nachts abgeht. Glaubst du ausgerechnet Irina ist da eine Ausnahme? Wenn ja, dann träum weiter.“
Mir blieb kurz die Luft weg, aber Sandra war längst noch nicht fertig.
„Ich glaube auch nicht, dass sie an Depressionen oder sonst eine ihrer unzähligen Krankheiten leidet von denen Chris mir erzählt hat, wenn er sie wieder in Schutz genommen hat, weil es ihr angeblich schlecht ging und sie ihn nicht sehen wollte. Diese angeblichen Depressionen waren nichts weiter als Ausreden um Chris fernzuhalten, damit sie machen konnte, was sie wollte. Erstaunlicherweise hat sie, sobald diese angeblichen Depressionen vorbei waren, jedes Mal die Beziehung mit Chris beendet. Das spricht doch eine eindeutige Sprache.“
„Stopp!“ Ich fiel Sandra, die mich konsterniert ansah unsanft ins Wort. „Letztes Jahr war Chris für die Trennung verantwortlich. Er war es, der alles getan hatte, dass Irina ihn verlässt. Er wollte nicht, dass Irina von seiner Krankheit erfährt, weil er der Überzeugung war, Irina würde das nicht verkraften. Verdreh hier also bitte nicht die Tatsachen.“
„Jetzt bin ich es, die die Tatsachen verdreht. “
Sandras Tonfall klang jetzt aggressiv.
„Ihr kam es doch gelegen, was Chris getan hat. Auf die Art war sie in bequem losgeworden. Hör auf diese Frau in Schutz zu nehmen oder irgendwie zu verteidigen.“
Sandra schnaubte vor Wut.
„Chris verdammte Anständigkeit macht ihn blind. Man muss Irina nicht beschützen. Ich kenne solche Frauen, die können sehr gut auf sich selbst aufpassen! Was glaubst du, was Irina vor 2 Jahren in den 8 Monaten gemacht hat, als sie Chris nur noch E-Mails schrieb, sonst aber komplett aus seinem Leben verschwunden war? Soll ich es dir sagen? Sie hatte damals schon einen anderen. Wie letztes Jahr im Frühling und mit Sicherheit jetzt wieder. Überhaupt, diese Parallelen sind doch unverkennbar. Ihr Verhalten folgt immer einem bestimmten Muster. Sie lernt jemand kennen, dann fährt sie den Kontakt zu Chris herunter und macht ihm gleichzeitig Vorwürfe, dass er den Kontakt einschränke. Eine hinterhältige, aber effektive Taktik und Chris ist einfach zu gutgläubig und bemerkt das nicht. Oder er weigert sich schlicht das Offensichtliche zu erkennen. Ich kann mir nicht erklären, warum er sich bei Irina so verhält? Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Er müsste es doch besser wissen!“
Sandra zuckte leicht mit ihren Schultern.
„Irina ist über jede seiner dünnen roten Linien getreten und Chris reagiert einfach nicht. Als würde es bei ihm eine Lex Irina geben, die ihr alles erlaubt und verzeiht.“
Sandra schaute mir direkt in die Augen.
„Was sagst du jetzt? Bist du immer noch der Meinung, ich irre mich?“
Sandra in dieser Situation zu widersprechen hielt ich nicht für besonders klug. Sie hatte sich in Rage geredet. Ich trank einen Schluck Wein, zündete mir wieder eine Zigarette an und versuchte nachzudenken.
„Du weißt nicht, was du sagen sollst, stimmt’s?“
Sandra wartete meine Antwort nicht ab, sondern setzte ihre verbalen Attacken fort.
„Wenn du immer noch nicht überzeugt bist, dann sage ich dir noch etwas.“
Auch wenn ich keine Vorstellung hatte, was jetzt kommen sollte, war mir eines klar. Sandra, oder besser ihr böser Zwilling, rechnete heute mit Irina erbarmungslos ab.
„Sollte es zum Schlimmsten kommen, wird sie diejenige sein, die die größte Show abziehen wird. Wie sie ihn geliebt hat, was er ihr bedeutet hat, wie sie sich gekümmert hat und so weiter. Sie wird ihre verdammten Lügen Gott und die Welt wissen lassen!“
Noch nie hatte ich Sandra derart aufgebracht erlebt. Nicht nur ihre Wortwahl, ihr ganzes Benehmen war gänzlich atypisch für sie. Möglicherweise hatte sie bereits zu viel getrunken? Gleichzeitig erinnerte mich dieses Gespräch auf fatale Weise an eine Unterhaltung über genau dasselbe Thema, die ich vor knapp 10 Monaten mit Geraldine geführte hatte. Nur diesmal mit umgedrehten Vorzeichen. Sandra griff nach der Weinflasche, goss sich ihr Glas voll und trank es mit einem Schluck halb leer.
„Weißt du, warum ich davon überzeugt bin, dass sie ihn nie geliebt hat?“, sagte sie aus heiterem Himmel. „Sie hat ihre große Liebe nämlich schon lange gefunden und das ist jemand anderes als Chris!“
„Wer soll das nach deiner Meinung denn sein?“, fuhr ich dazwischen.
„Das weißt du wirklich nicht?“ Sandra sah mich fassungslos an. „Sie trifft ihre große Liebe jeden Tag beim Zähne putzen im Bad, wenn sie in den Spiegel schaut. Mein Gott, ist das so schwer zu begreifen? Wobei ich mich frage, wie sie überhaupt in einen Spiegel schauen kann?“, fügte Sandra verächtlich hinzu.
Wie fast zu erwarten war griff Sandra erneut nach ihrem Glas, stellte es aber ohne ein Schluck zu trinken wieder ab. Dann fasste sie an ihren Zopf, zog den Haargummi ab, streifte ihn über ihr rechtes Handgelenk und fuhr sich durch die Haare. Ich betrachtete Sandra in Ruhe.
„War es das jetzt?“, fragte ich nach ein paar Sekunden mit bewusst gedämpfter Stimme.
Sandra schaute mich an, antwortete aber nicht. Stattdessen drehte sie wieder ihren Ring hin und her.
„Ich verstehe dich sehr gut, aber können wir nicht etwas sachlicher sein?“, versuchte ich unser Gespräch, sofern man das bisher überhaupt so nennen konnte, fortzusetzen.
„Lassen wir einmal die letzten Jahre außen vor und konzentrieren uns nur auf das, was seit Januar geschehen ist. In ihrer E-Mail geht es doch hauptsächlich darum, oder nicht?“
„Nicht gerne, aber wenn es unbedingt sein muss“, erwiderte Sandra leicht patzig.
„Du findest sie egoistisch, selbstsüchtig und rücksichtslos. Nicht wahr?“
„Sie ist mehr als das. Sie ist eine einzige menschenverachtende Unverschämtheit!“
Sandra nahm schon wieder Fahrt auf. Sollte dieses Gespräch noch einigermaßen konstruktiv werden, musste ich sie sofort wieder einbremsen. Ganz ruhig setzte ich meinen Gedanken fort.
„Es gibt Menschen, die können mit Krankheiten ihres Partners, ganz besonders mit lebensbedrohenden nicht umgehen. Zuerst verschließen sie ihre Augen davor und wenn das nicht mehr geht, laufen sie weg. Sie können sich aus Gründen, die du und ich nicht verstehen können, auch nicht mit der Krankheit als solcher beschäftigen, Nicht einmal abstrakt. Sie ignorieren nicht nur ihre Existenz, sondern auch alle Symptome die mit dieser Krankheit verbunden sind. Man muss akzeptieren, dass es solche Menschen gibt. Es sind zwar wenige, aber es gibt sie.“
Ich war gespannt, wie Sandra darauf reagieren würde. Zunächst drehte sie wieder ihren Ring hin und her, dann strich sie sich eine in ihr Gesicht gefallene Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr. Anschließend wandte sie sich mir zu und schaute mich gedankenverloren an.
„Damit magst du vielleicht Recht haben“, sagte sie leise. „Möglicherweise gibt es solche Menschen, die nicht mit so etwas umgehen können. Akzeptabel ist ein solches Verhalten trotzdem nicht. Es gibt gesellschaftliche Normen und Regeln, die für uns alle gelten. Eine davon besagt, dass wir uns um unsere Freunde kümmern, besonders wenn es ihnen schlecht geht. Für den Partner werden diese Regeln gemeinhin sogar noch strenger ausgelegt. Warum glaubst du, dass es heißt, in guten wie in schlechten Zeiten? Das hat seinen Grund. Trifft man die Entscheidung für einen bestimmten Menschen, dann sollte man sie nicht leichtfertig treffen. Man muss bereit sein auch die Stürme des Lebens mit diesem Menschen durchzustehen und nicht nur die schönen und angenehmen Tage mit ihm zu verbringen. Man kann nicht kommen und gehen, wie es einem gerade beliebt. Chris Leben ist doch kein Fitness-Club!“
Sandra blickte mich prüfend an bevor sie weitersprach.
„Selbst, wenn Irina zu diesen wenigen Menschen zählt, die mit einer schweren Krankheit nicht umgehen können, was ich im Übrigen nicht glaube, rechtfertigt das ihr Verhalten in keiner Weise. Sie wusste im Januar sehr genau, was mit Chris ist und sie ist alt genug um sich so gut einschätzen zu können, dass sie hätte wissen müssen, dass sie damit nicht umgehen kann. Aus diesem Grund hätte sie gar nicht erst zurückkehren dürfen. Aber sie wollte ihren Egoismus befriedigen und das auf Kosten von Chris. Jetzt hat sie ihn verlassen, wieder aus Egoismus, weil ihr Spaß und Oberflächlichkeit mehr bedeuten. Das ist zutiefst verabscheuenswürdig. Sie ist kein Monster, wie sich selbst schon mehrfach bezeichnet hat. Sie ist ein sinisterer Narziss. Nein das ist nicht das richtige Wort. Es reicht nicht aus.“
Sandra verstummte für einen Augenblick.
„Für mich ist Irina ein Antichrist!“
Bei diesem Satz blitzte in Sandras Augen der blanke Hass auf.

   Mir war bei diesem Ausdruck förmlich das Gesicht stehengeblieben. Von allen denkbaren Bezeichnungen mit negativen Attributen, die man aus Sandras Perspektive finden konnte um Irina und ihr Verhalten zu beschreiben hatte sie ein Wort gewählt, dass auf den ersten Blick mehr als ungewöhnlich und ebenso schwer einzuordnen war. Der Antichrist ist eine Figur der Apokalypse und wird im neuen Testament ausschließlich in den Johannesbriefen erwähnt. Im Laufe der Geschichte erfuhr dieser Begriff viele verschiedene Deutungen und Auslegungen und war Gegenstand jahrhundertelanger philosophischer und literarischer Diskussionen. In der Neuzeit wurde die Bezeichnung Antichrist hauptsächlich für die großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts benutzt um ihre Unmenschlichkeit und Menschenverachtung mit einem Wort beschreiben zu können. Aber ich konnte mir weder vorstellen, dass Sandra diesen Ausdruck im biblischen, noch im neuzeitlichen Sinne verstanden wissen wollte. Naheliegender war, dass sie ihn im Sinne von Kant und Rousseau benutzt hat. Kant beschrieb den Antichristen als Person der Unmoral und Unvernunft. Rousseau als Figur von ekelerregender Phantasie und groteskem Glauben. Beide betrachteten diese Gestalt vor dem Hintergrund der sittlichen Auslegung menschlichen Handelns. Ich hatte Sandra als gebildeten, wertkonservativen Menschen mit festen moralischen Grundsätzen kennengelernt. In den Augen eines solchen Menschen musste Irina ein Mensch sein, der gegen jede Moral und Sitte handelte. So bedenklich dieser Begriff auch war, er passte zu Sandra und ihrem Wertesystem. Während ich mir noch ein paar Gedanken über diesen ungewöhnlichen Ausdruck machte, überkam mich die Frage, wie Chris auf diese Bezeichnung für Irina reagieren würde. Es fiel mir schwer zu glauben, dass er von irgendjemand diese Bezeichnung für Irina dulden würde. Nicht einmal von Sandra. Auch ich hatte meine Mühe mit diesem Begriff. Er hatte eine ganz besondere Qualität. Er brachte nicht nur Sandras Verachtung für Irina zum Ausdruck, er sprach ihr jede Menschlichkeit ab. Unterdessen schweiften Sandras Blicke ziellos durch mein Wohnzimmer, bis sie wieder zu ihrem Weinglas griff. Dafür, dass Sandra soeben für Irina eine Bezeichnung gebraucht hatte für die es keine Steigerung mehr gab, wirkte sie ungewöhnlich bedrückt. Dabei sollte sie, nach dem sie ihrer Abneigung gegen Irina heute Abend endlich Luft verschafft hatte, erleichtert wirken.

   „Wir sind doch Freunde“, sagte sie plötzlich. „Wir müssen verhindern, dass sie ihn kaputt macht! Dafür müssen wir alles tun! Sie darf nie wieder Teil seines Lebens werden!“
„Nein Sandra“, erwiderte ich stoisch.
„Soll das heißen, du lässt mich hängen?“, fuhr mich Sandra entsetzt an.
„Nein, soll es nicht“, antwortete ich ganz ruhig, bevor ich bestimmt und deutlich wurde.
„Du hasst Irina, weil du Chris liebst. Darum geht es hier und um nichts Anderes! Irina mag ihre Fehler haben, wie wir alle. Trotzdem darfst du sie nicht so verurteilen solange du deine Thesen, so schlüssig sie auch sind, nicht beweisen kannst. Du willst Chris für dich gewinnen? Dann kämpfe mit aller Macht um ihn! Aber bleib dabei fair. Fang nicht an Irina bei Chris zu denunzieren. Sei aber bereit seine Entscheidung zu akzeptieren.“
Sandra sah mich zuerst bestürzt an, um dann ihren Kopf in ihre Hände zu legen.
„Seit wann weißt du das?“, drang ganz leise durch ihre Hände.
„Ich hatte schon im Dezember den Verdacht. Er wurde stärker, als Irina wieder auftauchte und sicher war ich mir schließlich an jenem Abend, an dem wir im Ballett waren. War das die ganzen letzten Jahre so?“
„Ja und nein“, schluchzte Sandra. „Es fing in Frankreich wieder an. Genauer gesagt, dort wurde es mir bewusst. Chris hatte sich eine Kette gekauft, die Irina bekommen sollte, wenn er.“
Sandra brach in Tränen aus.
„Ich kann dieses Wort nicht aussprechen!“, klagte sie weinend.
Für einen kurzen Moment herrschte eine für diesen Abend ungewöhnliche Stille. Nachdem sich Sandra wieder gesammelt hatte, versuchte sie unterbrochen von etlichen schweren Atemzügen weiter zu sprechen.
„Ich war darüber so wütend, dass ich mich im Bad einschloss und ihn nicht mehr sehen wollte. In dieser Nacht wurde mir klar, wie sehr ich Chris liebe, aber ich wusste auch, dass er keine Beziehung mehr wollte. Nicht in Anbetracht der ihm noch verbleibenden Zeit. Ich habe daraufhin alles getan um meine Gefühle zu verstecken. Wohl nicht mit großem Erfolg.“ Plötzlich starrte mich Sandra mit weit geöffneten Augen an.
„Wenn du es bemerkt hast, dann weiß es Chris auch!“
Ihr Mund blieb halb offenstehen. Ich musste Sandra dringend beruhigen.
„Nein, er weiß es nicht. Ich bin mir absolut sicher.“
Erleichtert holte Sandra tief Luft.
„Du wirst es ihm aber eines Tages sagen müssen, fuhr ich fort. „Oder willst du ewig so weitermachen? Dann wird dich dein Hass auf Irina langsam auffressen und du wirst Chris keine Hilfe in seinem Kampf mehr sein. Denk darüber nach.“
Sandra senkte ihren Blick auf den Boden.
„Deshalb muss ich Chris sagen, was mir aufgefallen ist. Ich muss ihn vor dieser Frau beschützen. Wenn es sein muss, mit allen Mitteln! Man sagt doch im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt!“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein Sandra, ist es nicht. Selbst im Krieg gibt es die Regeln der Haager Landkriegskonvention. Man darf nicht machen was man will. Auch wenn es leider in der Realität oft anders ist. Verstehst du was ich meine?“
Sandra nickte. Dann trank sie den letzten Schluck ihres Weines.
„Ich glaube, ich bin betrunken“, sagte sie, als sie in das leere Glas blickte. „Kannst du Irina nicht wegmachen? Oder wenigstens Chris ausreden sie zu lieben? Bitte! Sie muss verschwinden und darf nie wiederkommen!“
„Ich bin nicht der große Houdini, Sandra. Dabei kann ich dir nicht helfen und ich werde mich auch nicht einmischen. Ich werde jede Entscheidung von Chris akzeptieren und du musst es auch. Es ist und bleibt sein Leben.“
Sandra sah mich enttäuscht an.
„Wenn du mir schon nicht helfen willst, dann ruf mir wenigstens ein Taxi“, erwiderte Sandra. „Ich will jetzt nach Hause. Für heute habe ich mich genug blamiert.“
Während ich aufstand um mein Telefon im Flur zu holen sagte ich zu ihr:
„Du hast dich nicht blamiert. Jemand zu lieben ist nichts, für das man sich schämen muss. Egal wem gegenüber.“

   Zehn Minuten später läutete der Taxifahrer an meinem Tor. Ich begleitete Sandra bis zum Taxi auf die Straße. Zum Abschied nahm sie mich in den Arm und bedankte sich.
„Ich werde um ihn kämpfen. Mit allen Mitteln. Egal was es kostet. Es ist mein Chris!“, sagte sie entschlossen, bevor sie die Türe schloss und sich das Taxi langsam in Bewegung setzte. Ich schaute dem Taxi nach, bis es auf die Hauptstraße abbog. Sandras letzte Sätze ließen keinen Platz für Ungewissheit. Sollte Irina tatsächlich nur eine Auszeit haben wollen um Kraft für sich zu sammeln, dann hatte sie jetzt eine erbitterte und zu allem entschlossene Gegnerin von der sie nichts ahnte und deren Einfluss auf Chris im Zweifel groß sein konnte.

   Mit einem mulmigen Gefühl ging ich zu Bett und konnte lange nicht einschlafen. Zu sehr beschäftigte mich das, was ich heute Abend gesehen und gehört hatte. Obwohl mir bewusst war, dass dieser Tag kommen musste, war ich doch über die Heftigkeit von Sandras Reaktion überrascht. Am schlimmsten war jedoch, sie heute so sehen zu müssen. Es tat mir regelrecht weh. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite meines Bettes zu der anderen. Irinas E-Mail hatte nicht nur zu verschiedenen Meinungen über ihre Auslegung geführt, sondern auch zu mehr oder weniger heftigen Reaktionen. Chris war äußerlich ruhig geblieben und hatte mit Bedacht reagiert. Was jedoch die Auslegung anbelangte schien er sich, ebenso wie ich, nicht sicher zu sein. Sandra hingegen verstand diese E-Mail ganz anders. Vor dem Hintergrund dessen, was sie über die Jahre alles mitbekommen hatte und der Meinung, die sie sich währenddessen über Irina gebildet hatte, war diese für sie eindeutig. Für dieses Verständnis gab es stichhaltige Argumente und ihre Auffassung war durchaus nachvollziehbar. Aber nicht die Frage, wie man Irinas E-Mail wirklich verstehen musste beschäftigte mich, sondern was mit Sandra an diesem Abend los war. Ich hatte sie kaum wiedererkannt, diese bislang stets freundliche, warmherzige und überlegte Frau. Noch vorgestern Abend hatte sie so ruhig und kontrolliert gewirkt, wie die ganzen Monate zuvor. Der ganze Verlauf des Abends ließ nur den Schluss zu, zu dem ich bereits vor ein paar Stunden gekommen war. Es musste in den vergangenen zwei Tagen etwas geschehen sein, von dem ich nichts wusste, das Sandra nicht erwähnt hatte und dass sie so sehr verändert hat. Oder waren es doch nur ihre Gefühle für Chris, die sie nach Monaten nicht mehr unter Verschluss halten konnte und die jetzt mit aller Macht unkontrolliert hervorgebrochen waren. Beides war möglich. Ungeachtet des wirklichen Auslösers für diese Veränderung, hatte Sandra heute ohne es zu ahnen manche meiner Befürchtungen des letzten Jahres und einige aktuelle bestätigt. Gewiss, ihre Aussagen waren mit Vorsicht zu genießen, nichtsdestotrotz klang jedes Wort überzeugend. Ich schüttelte mein Kopfkissen zurecht, legte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Durch die Ritzen meines Rollladens schien Licht. Eine streunende Katze musste den Bewegungsmelder der Beleuchtung in der Auffahrt meines Nachbarn ausgelöst haben. Wenn alles der Wahrheit entsprach, was Sandra heute erzählt hatte und ich die vielen Ereignisse über die Chris in den letzten Wochen geschrieben hatte hinzuzählte, dann wäre die Frage überflüssig, was für ein Mensch Irina sein musste. Es wäre eindeutig. Dann aber wäre auch diese E-Mail eindeutig so zu verstehen, wie Sandra es tat. Dennoch verspürte ich einen inneren Widerwillen, daran glauben zu wollen. Aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht erklären konnte, wollte ich Irina so nicht sehen. Es war nicht nur mein Instinkt und meine Erfahrung mit undurchsichtigen Vorgängen, die in eine andere Richtung deuteten. Es war noch etwas Anderes, dass ich nicht zu greifen in der Lage war. Aber selbst wenn ich das alles außer Acht ließ, stellte sich zwingend die Frage, warum Chris, der alle diese Fakten und vermutlich noch sehr viel mehr kannte, zu einem anderen Ergebnis gelangt war als Sandra. Die durch Liebe häufig hervorgerufene Verblendung und damit verbunden dem Ignorieren offensichtlicher Tatsachen konnte ich mir bei Chris nicht vorstellen. Er sah Irina realistisch, dafür gab es ausreichend Anhaltspunkte und im Prinzip gab sie mit ihre E-Mail nur seiner Einschätzung aus dem vergangen Jahr Recht. Eine finale Bestätigung, dass er sich letztes Jahr nicht in ihr geirrt hatte. In diesem Augenblick spürte ich noch stärker als zuvor das Bedürfnis mit jemand über die Vorgänge der letzten Wochen reden zu können. Mit einem Menschen, der mir helfen konnte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, dessen Meinung mir wichtig war. Aber dieser Mensch war nicht mehr Teil meines Lebens. Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, Geraldine würde neben mir liegen und wir würden uns über Chris, Irina und Sandra unterhalten. Welche Meinung hätte Geraldine? Wie würde sie diese begründen? Welchen Rat würde sie geben? Mit diesen Gedanken an die wundervollste Frau der Welt schlief ich irgendwann ein.

   Ich erwachte am nächsten Morgen kurz nach 10:30 Uhr unsanft vom Piepsen meines Telefons geweckt. Sandra hatte mir geschrieben, dass sie gerne ihr Auto abholen würde. Verschlafen tippte ich auf die am Morgen viel zu kleine Tastatur meines Handys, dass sie ab 11 Uhr kommen könne. Auf dem Weg in die Dusche fiel mein Blick in den Spiegel im Flur. Meine Haare waren für meine Verhältnisse ziemlich lang geworden und ich sollte dringend zum Friseur. Anders als Chris, der seinen 3 Millimeter Stoppelschnitt mit Hilfe einer Haarschneidemaschine selbst in Ordnung hielt, musste ich zum Friseur gehen. Nach einer ausgiebigen Dusche ging ich in meine Küche und setzte Kaffee auf. Es dauerte nicht lange bis es klingelte. Sandra war schneller hier, als ich erwartet hatte. Immerhin hatte sie Brötchen und Brezeln mitgebracht. Sie machte außer einem verkaterten auch einen reichlich verlegenen Eindruck. Der gestrige Abend hatte sichtbar seine Spuren hinterlassen.
„Wie geht es dir heute Morgen?“, wollte ich wissen, während sie an der Bar in der Küche Platz nahm. „Sei ehrlich!“
Sandras müde und verquollene Augen sahen mich an.
„Ziemlich mies. Ich habe viel nachgedacht und kaum geschlafen.“
„Das sehe ich“, erwiderte ich uncharmant.
„Es tut mir leid wegen gestern Abend“, sagte Sandra während sie ihren Kaffee umrührte. „Ich weiß nicht was in mich gefahren war? So kenne ich mich nicht.“
„Das nennt man Liebe“, versuchte ich Sandra aufzumuntern.
„Ich weiß“, antwortete sie mit einem gequälten Lächeln. „Ich will nur mit Chris zusammen sein. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“
„Nein, ist es nicht. Es ist nur nicht der geeignete Zeitpunkt Chris auch noch mit diesem Thema zu konfrontieren. Ihn beschäftigt wahrlich genug.“
Sandra nickte, bevor sie ein Stück ihrer Brezel abbiss.
„Darüber habe ich schon heute Nacht nachgedacht und auch darüber, was du über Hass gesagt hast. Ja, ich hasse Irina und ich könnte sie umbringen. Aber das hilft Chris nicht. Deshalb habe ich entschieden das Thema Irina und was ich von ihr halte bei Chris nicht anzuschneiden. Es ist klüger zu schweigen und zu warten, bis Chris von alleine aufwacht. Das sollte nach dieser E-Mail nicht mehr so lange dauern! Einstweilen werde ich weiter für Chris da sein, wie ich es immer war. Irgendwann kommt der richtige Zeitpunkt für mich und ich werde Chris für mich gewinnen.“
Im Wissen, dass Chris mir vor zwei Tagen gesagt hatte, dass es sein größter Wunsch ist, mit Irina alt zu werden, fiel mir eine passende Antwort schwer.
„Du bist eine sehr schöne, intelligente und überaus begehrenswerte Frau. Ein Mann, der dich nicht will muss schon blind und dumm sein. Würde ich Geraldine nicht über alles lieben, würde ich alles tun, um dich zu erobern.“
Sandra lächelte verlegen wie ein Teenager.
„Das ist sehr lieb von dir. Ich weiß das ungemein zu schätzen.“
Dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernster.
„Ich möchte zu unserem Gespräch von Gestern noch etwas anmerken. Vielleicht tue ich ihr mit einigem tatsächlich Unrecht, trotzdem bin ich mir sicher, sie interessiert sich nicht so für Chris, wie sie vorgibt. Stell ihr drei einfache Fragen über Chris. Was ist sein Lieblingsessen? Welcher ist sein Lieblingsfilm? Welches Auto will er unbedingt einmal haben? Sie wird keine beantworten können. Das sollte sie aber nach drei Jahren, selbst wenn sie nur gute Freunde wären. Ich kenne die Antworten auf diese Fragen!“
Sandra hat das Wort Ich in ihrem letzten Satz ganz besonders betont. Nicht nur ihr Gesichtsausdruck, sondern ihre ganze Körpersprache strotzten in diesem Augenblick vor Zuversicht eines Tages doch mehr für Chris zu sein, als seine beste Freundin. Sie schien sich Irina in jeder Hinsicht überlegen zu fühlen.

   Kurz nach 12 Uhr verließ mich Sandra. Ich räumte die Küche auf und machte mir nebenbei Gedanken über die drei Fragen von denen Sandra gesprochen hatte. Ich kannte Chris erst ein knappes halbes Jahr persönlich, doch selbst ich konnte 2 dieser Fragen beantworten. Sein Lieblingsessen hatte er mir neulich Abend verraten. Was das Auto anbelangte war ich mir seit meiner Rückkehr aus Scottsdale sicher, dass es nicht der Challenger 426 Hemi war, wie ich noch im Oktober vermutet hatte, sondern ein Pickup Truck sein musste. Nur seinen Lieblingsfilm kannte ich nicht. Ich war mir jedoch sicher, dass es ein älterer Film sein musste. Wenn schon ich zwei der drei Fragen beantworten konnte, dann musste Irina nach drei Jahren alle Antworten kennen. In dieser Zeitspanne erfährt man solche Dinge über einen nahestehenden Menschen. Das stand für mich außer Frage. Anschließend legte ich mich auf mein Sofa. Die vergangenen Tage forderten ihren Tribut. Ich war müde und brauchte Ruhe. Drei Stunden döste ich vor mich hin oder beobachtete gedankenverloren die Wolken, bis mein Handy erneut piepste. Diesmal war es eine Nachricht von Chris. Er wollte wissen, ob ich Zuhause sei und er im Anschluss an seinen Spaziergang mit Mable kurz bei mir vorbeikommen könne. Mit einem kurzen „Ja“ beantwortete ich seine Frage knapp und döste weiter, ohne mir darüber Gedanken zu machen, warum Chris mich an diesem Sonntag besuchen wollte.

   Es war etwa 18:20 als es läutete. Das konnte nur Chris sein. Mir den Blick auf den Monitor der Videoüberwachung sparend, drückte ich auf den Toröffner. Ich hatte die Haustüre kaum geöffnet, als Mable schon vor mir stand und ihren Begrüßungstanz aufführte. Chris, der heute nicht nur ungewöhnlich müde, sondern mindestens genauso schlecht wie Sandra heute Morgen aussah, folgte ihr langsam mit einigem Abstand. Ich begrüßte Chris.
„Schön dich zu sehen, komm rein.“
„Nein danke“, erwiderte er. „Ich wollte nur kurz vorbeikommen, um dir das zu geben.“
Chris zog einen USB-Stick aus seiner Hosentasche und gab ihn mir.
„Das Buch ist endlich fertig!“, sagte er nicht ohne Stolz. „Mir war es sehr wichtig, es unbedingt vor meinem Krankenhausaufenthalt fertigzustellen. Ich hoffe, dir gefällt der Schluss!“
Er rief Mable, die bereits in meine Küche gesaust war zu sich und verabschiedete sich.
„Viel Spaß beim Lesen!“, rief er mir zu, als er mit Mable die Auffahrt hinunterging.
Damit hatte ich heute ganz und gar nicht gerechnet. Im Gegenteil, ich war mir sicher, dass Chris es nicht schaffen würde das Buch vor seinem Krankenhausaufenthalt fertigzustellen. Sofort machte ich mich daran die Datei auszudrucken. Ungeduldig beobachtete ich wie Blatt um Blatt im Ausgabeschacht des Druckers landete, bis schließlich die 163. und letzte Seite gedruckt war. Mit dem Stapel Papier und einem Textmarker zum Korrigieren möglicher Fehler nahm ich in einem der Sessel vor meinem Kamin Platz und begann zu lesen. In den ersten 11 Kapiteln hatte Chris keine Änderungen mehr vorgenommen. Sie entsprachen jenen, die Chris mir am Mittwochabend gegeben hatte. Gespannt begann ich Kapitel 12 zu lesen. Da ich wusste, welches Ende wir vereinbart hatten, war ich neugierig zu welchen Kniffen Chris gegriffen hatte um das Happyend herbeizuführen. Bislang ließen die geschilderten Begebenheiten bei vernünftiger Auslegung nur den Schluss zu, die Geschichte findet kein gutes Ende. Auch die Hinweise, die Chris teils sehr unzweideutig gegeben hatte zeigten deutlich in diese Richtung. Doch ich wusste nur zu gut, dass bevor man nicht alle Informationen und Fakten kannte, man vorschnell zu falschen Bewertungen gelangen konnte. Ab Mitte des 12. Kapitels begann sich langsam alles zu drehen, ohne das neue Informationen dazu gekommen waren. Chris lenkte die Aufmerksamkeit jetzt auf Ereignisse, die er zuvor nur am Rande erwähnt hatte, während er andere, welche er für den Leser lange in den Fokus gestellt hatte und ihn damit auf falsche Fährten gelockt hatte, in den Hintergrund treten ließ. Ein ausgesprochen cleverer Trick. Chris hatte dem Leser längst alle Informationen gegeben, ließ ihn diese aber falsch bewerten. Durch diese Verschiebung veränderte sich der Blick auf das Gesamtbild und der Weg zu dem besprochenen Happyend wurde freigemacht. Am Ende von Kapitel 13 hatte sich uneingeschränkt alles zum Guten gewandt, ohne das nur der kleinste logische Bruch entstanden war. Chris war es gelungen durch den Kunstgriff der anfänglichen Verteilung der Eigenschaften von Geraldine und mir auf mehrere Figuren Spannung zu erzeugen. Im Laufe der Handlung ließ er zwei dieser Personen solche Veränderungen durchlaufen, dass sie am Ende jeweils über alle Eigenschaften von Geraldine und mir verfügten. Beeindruckt legte ich die Blätter zur Seite. Trotz meiner nach wie vor vorhandenen Bedenken, das Buch könnte an der einen oder anderen Stelle zu direkt und hart sein, war ich mehr als zufrieden. Chris hatte alles perfekt durchdacht. Daher entschied ich ohne eine Änderung, die womöglich die komplexe Handlung unlogisch machen würde, es so drucken zu lassen, wie Chris es geschrieben hatte. Für mich ebenfalls erstaunlich war, dass sein Manuskript fast gar keine Tippfehler enthielt und ich es somit am nächsten Tag direkt zu einer Druckerei bringen konnte. Die Zeit war wie im Flug vergangen und mittlerweile war es kurz vor 2 Uhr morgens. Nach einem kurzen Abstecher ins Bad, fiel ich müde in mein Bett. Ob dieses Buch Geraldine gefallen wird und wenn ja, welche Erkenntnisse wird sie daraus ziehen? Wird sie die Ostereier, wie Chris seine versteckten Hinweise genannt hatte, finden und richtig interpretieren? Oder war inzwischen doch zu viel Zeit vergangen und das alles für sie inzwischen bedeutungslos geworden? Eine Angst, die ich monatelang verdrängt hatte.

   Im Gewerbegebiet eines Nachbarvororts gab es eine kleine Druckerei, die auf solche Kleinaufträge spezialisiert hatte. Ich zog den USB Stick von meinem Rechner ab und machte mich auf den Weg. Zu meiner Freude wurde mein Auftrag sofort bearbeitet und ich konnte auf die Fertigstellung warten. Mit den fertigen Seiten fuhr ich weiter zu einem etwa 30 Kilometer entfernten Dorf. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass dort ein kleiner Handwerksbetrieb der aussterbenden Kunst der Buchbinderei nachging. Natürlich hätte ich alles auch online machen können, aber mir war der Einband sehr wichtig. Er musste nicht nur die richtige Form und das richtige Material besitzen, er sollte einzigartig sein, wie dieses Buch. Solche Sonderwünsche sind Online nur schwer umsetzbar und der Rat eines erfahrenen Buchbinder Meisters bezüglich Materialauswahl und Ausführung war nicht mit FAQs einer Internetseite zu ersetzen. Über zwei Stunden nahm sich ein älterer Herr, dessen wahres Alter schwer zu schätzen war, meiner an. Er zeigte mir verschiedene Buchrücken und Einbandmaterialien, erklärte mir geduldig die einzelnen Vor- und Nachteile und legte mir Beispiele zur Ansicht vor. Selten zuvor hatte ich eine so kompetente und geduldige Beratung erlebt, wie hier. Am Ende hatten wir eine Lösung gefunden, die meiner Vorstellung zu hundert Prozent entsprach. Am kommenden Freitag konnte ich das fertige Buch abholen und es endlich Geraldine schicken. Erleichtert verließ ich die Buchbinderei in der Hoffnung, dass die stummen Tage zwischen Geraldine und mir demnächst der Vergangenheit angehören würden. Zufrieden machte ich mich auf den Weg nach Hause.

   Während der Fahrt machte ich mir Gedanken über mein Abendessen. Mein Drang zu kochen hielt sich in starken Grenzen. Auch auf einen Lieferservice hatte ich keine Lust. Eine Weile überlegte ich hin und her, bis mir ein Steakhaus am Rande der Innenstadt in den Sinn kam. Es war nicht nur für seine Steaks bekannt, sondern auch für seine hervorragenden Folienkartoffeln und seine große Salatbar. Da es zudem über einen großen Parkplatz verfügte, entfiel die mir verhasste Parkplatzsuche. Wie erhofft fand ich sofort einen Parkplatz in der Nähe des Eingangs. Ich ging hinein und schaute mich nach einem freien Tisch um. Weit hinten in einer Ecke erkannte Direktor Parker alleine an einem Tisch sitzen. Als er mich bemerkte winkte er und signalisierte mir zu ihm zu kommen.
„Schön dich zu sehen Junge!“, begrüßte er mich freundlich. „Bist du alleine hier?“
Seit ich die Firma verlassen hatte duzten Direktor Parker, der ein langjähriger Freund meines Vaters ist und mich seit meiner Kindheit kannte, und ich uns wieder.
„Ja, bin ich. Ich hatte Lust auf ein Steak mit Folienkartoffeln und du?“
Mein Blick fiel auf das zweite, unbenutzte Gedeck auf dem Tisch.
„Ich war mit so einem Blödmann von Politiker verabredet, der mich im letzten Augenblick versetzt hat. Nun sitze ich alleine hier. Wollen wir zusammen essen?“
Dankend nahm ich seine Einladung an. Es war schon eine ganze Weile her, dass wir das letzte Mal gemeinsam zu Abend gegessen hatten. Nachdem ich meine Bestellung aufgegeben und wir uns Salat vom Büffet geholt hatten, unterhielten wir uns anfänglich über seine Familie. Seine Tochter war vor wenigen Monaten wieder Mutter geworden und Parker damit zum zweiten Mal Großvater. Stolz zeigte er mir Bilder seiner Enkel.
„Was ist mit dir? Willst du nicht heiraten und eine Familie gründen? Wäre langsam Zeit dafür.“ „Das ist so eine Sache, Dick“, entgegnete ich. „Mit den Frauen ist es nicht immer einfach.“
Er musste laut lachen.
„Wem sagst du das, mein Junge. Ich bin 35 Jahre verheiratet. Dafür sollte man einen Orden bekommen. Je nach Verlauf der Ehe, entweder das Verwundetenabzeichen, oder die Ehrenmedaille.“
Jetzt musste ich auch lachen und Parker amüsierte sich sichtlich über seine Äußerung. Er trank einen Schluck seines Bourbons, bevor sein Gesichtsausdruck wieder ernster wurde.
„Gut, dass wir uns heute getroffen haben. Erspart mir einen Anruf. Wir müssen dringend ein paar Dinge besprechen.“
Ich war einigermaßen überrascht, da ich mir nicht erklären konnte, worüber Parker ausgerechnet mit mir sprechen wollte. Er stocherte mit der Gabel in seinem Kidney Bohnen Salat herum, bis er drei Bohnen aufgespießt hatte.
„Wie geht es deinem neuen Freund? Ich habe gehört, du kümmerst dich um ihn. Finde ich gut. Sehr gut!“
Dass Parker über alle Vorgänge rund um die Firma Bescheid wusste war für sich betrachtet nichts Ungewöhnliches. Üblicherweise wurden die engeren sozialen Kontakte der Mitarbeiter intensiv überprüft und die Resultate Parker vorgelegt.
„Es geht ihm den Umständen entsprechend gut“, antwortete ich. „Bestimmt hast du gehört, dass er eine Behandlung machen will?“
„Natürlich weiß ich davon“, erwiderte Parker. „Wir bezahlen sie schließlich, sollte er genommen werden. Ich hoffe nur, das klappt. Würde ungern auf ihn verzichten.“
Ich war platt. Chris war bloß Leiter einer kleinen Abteilung, trotzdem wollte die Firma die Kosten für seine Behandlung übernehmen. Gewiss, diese Abteilung ist wichtig, aber nicht so wichtig, dass der Direktor ihn nicht einfach hätte ersetzen können. Noch etwas fiel mir dabei zum ersten Mal auf. Ich hatte mir bislang noch keine Gedanken darüber gemacht, wie Chris diese Behandlung überhaupt bezahlen wollte. Die Kosten dafür konnten schnell einen 6-stelligen Bereich erreichen und ich war überzeugt, so viel Geld konnte Chris nicht haben.
Meine Neugier war geweckt und ich wollte unbedingt die Hintergründe in Erfahrung bringen.
„Wieso kannst du nicht auf ihn verzichten? ConInt und diesen Kram kann doch jeder mit IT-Kenntnissen und A12 machen?“
„Was weißt du denn über ihn?“, wollte Parker wissen.
„Außer seiner Krankheit? Dass er IT-Fachmann ist und eine Zeit für Hardware zuständig war. Dass er Musclecars mag, einen Hund und eine Katze hat. Wie ich eine Vorliebe für Single Malts, Musik und Filme besitzt.“
„Das weiß ich auch!“, brummte Parker. „Das Wichtigste weißt du scheinbar nicht.“
Er schaute mich prüfend an.
„Was ich dir jetzt sage muss unter uns bleiben! Verstanden?“
Ich nickte.
„Er ist kein IT-Fachmann“, erklärte Parker. „Naja in gewisser Weise schon. Er hat sein Hobby zum Beruf gemacht. Studiert hat er Geschichte und Rechtswissenschaft.“
Ich war nicht wirklich überrascht das zu hören. Chris enorme Geschichtskenntnisse waren mir schon früh aufgefallen, aber jetzt konnte ich mir auch den Hintergrund seiner oft verklausulierten Ausdrucksweise erklären.
„Er hat eine interessante Magisterarbeit über politisch militärische Wechselwirkungen geschrieben. Er stellte die Fehler und Ziele, sowie die verfolgten Interessen auf Basis von Clausewitz Theorien über die Achse aus Zweck, Ziel und Mittel gegenüber. Er kam zu der Erkenntnis, das Primat der Politik, wenn sie sich der Mittel des Militärs bediente, dieses in operativ klar definierten Rahmen nicht einschränken durfte. Jede politische Einmischung in konkrete taktische Abläufe führt zwangsläufig zum Versagen. Es kann nicht funktionieren, wenn aus politischen Gründen bestimmte taktisch oder strategisch wichtige Ziele nicht angegriffen werden dürfen. Einfach gesagt, erklär dem Schuster nicht, wie er die Schuhe zu reparieren hat.“
Parker bedeutete dem Kellner, dass er gerne noch ein weiteres Glas Bourbon hätte.
„Jetzt bist du erstaunt Thom, nicht wahr? Aber das ist nicht der Hauptgrund. Der Junge ist einer der begabtesten Köpfe, die wir je hatten. Niemand den ich kenne kann Situationen so schnell erfassen und die richtigen Konsequenzen daraus ableiten. Vor drei Jahren hat er ein Memorandum über verdeckte Operationen unter Ausnutzung scheinbar zufälliger Ereignisse geschrieben. Einfach so. Und was soll ich dir sagen, es war brillant. Du weißt aus eigener Erfahrung, dass wir nie in der Lage waren schnell genug Entwicklungen zu möglichen Ereignissen zu erkennen um diese dann für unsere Zwecke auszunutzen. Er hat das grundlegend geändert. Deshalb ist er so wichtig für uns. Wir würden ihn gerne als Senior Chief Analyst in die Zentrale holen. Ach ja, übrigens ist er A18, nicht A12.“
Ich war wirklich erstaunt. Obwohl mir einiges an Chris ungewöhnlichen Denkstrukturen aufgefallen war, hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, dass sie für die Firma und ihre Zwecke sehr nützlich sein könnten. Ebenfalls interessant war, dass Chris eine A18 Freigabe hatte. Dies bedeutete, Geraldine war ihm gegenüber gar nicht weisungsbefugt. Sie hatte nur eine A16 Freigabe. Chris hätte ihre Anweisung im letzten Herbst, mein Handy und meine Kreditkarten zu überwachen, einfach ablehnen können. Ohne Begründung, einfach so. Parker unterbrach seine Ausführung, als sich ein Kellner mit unserem Essen näherte. Nachdem er das Essen serviert und sich wieder entfernt hatte fuhr Parker fort.
„Das war nicht alles, was ich mit dir besprechen wollte. Was ist zwischen dir und Geraldine vorgefallen? Sie ist seit letzten Spätsommer wie ausgewechselt.“
Dass Parker über unsere unendliche Geschichte informiert war, wusste ich. Vor etlichen Jahren hatte er mir einmal gesagt, halt dich ran Junge! Das ist eine prima Frau. Nur wird sie weder jünger, noch hübscher.
„Wir haben seit August keinen Kontakt mehr“, antwortete ich. „Warum, was ist mit ihr?“
„Seit Anfang September hat sie nur noch Mist gebaut. Zuerst hat sie in Akten rumgestöbert, die sie nichts angehen und damit ihre Kompetenzen überschritten, dann hat ihre Unkonzentriertheit einige Operationen beinahe in Katastrophen enden lassen“, erläuterte Parker. „Zuerst bekam ich Anrufe aus Virginia mit unangenehmen Fragen. Die waren noch erträglich. Im Oktober kamen dann welche aus D.C. mit der klaren Ansage, die muss weg. Du weißt wie ich solche Anrufe hasse. Da wir in diesen Tagen ohnehin jemand für den PR-Kram suchten, war es die passende Gelegenheit. Dort kann sie keinen Schaden mehr anrichten. Klang für sie nach Beförderung, war aber keine. Also, was ist passiert?“
In kurzen Sätzen schilderte ich Parker was letzten Sommer vorgefallen war. Kopfschüttelnd und mit einem für ihn nicht untypischen „Weiber“ auf den Lippen, nahm er die Geschichte zur Kenntnis. Nachdem er sein Steak aufgegessen hatte, griff er zu seinem Telefon. Entschuldige bitte, ich muss meinen Fahrer anrufen. Er soll mich um 22:30 hier abholen.
„Das war noch nicht alles“, wandte sich Parker nach Ende des kurzen Telefonats wieder an mich. „Wie findest du die Kleine, die sich um Chris kümmert? Nettes Mädchen, nicht wahr?“ „Du redest von Sandra?“
„Natürlich“, murmelte Parker, „von wem denn sonst? Diese andere ist unwichtig.“
Es war logisch, dass er auch über diese Freundschaft Bescheid wusste.
„Ja, ist sie wirklich. Ich mag sie sehr gerne.“
„Hervorragend“, entgegnete Parker. „Ich möchte, dass du dich in den nächsten Monaten um sie kümmerst. Achte darauf, dass sie nicht übertreibt oder sich zu viel zumutet. Die kommende Zeit kann eine extreme Belastung für sie werden. Schlimmer als letztes Jahr. Sie wird Pausen benötigen und du wirst dafür sorgen, dass sie sie sich nimmt.“
„Wieso das? Sie ist alt und klug genug um zu wissen was sie tut. Sie braucht sicher keinen Babysitter“, wies ich sein Anliegen mürrisch zurück.
Parker blickte mich mit jenem stechenden Blick an, der ihn schon damals von allen anderen Offizieren abhob, als er noch First Lieutenant unter dem Kommando meines Vaters war.
„Das war keine Bitte mein Junge! Ich kann dich für diese Zeit auch wieder in den aktiven Dienst versetzen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Sehr klar“, antwortete ich. „Verrätst du mir auch warum ich auf Sandra achten soll.“
„Ich möchte, dass du auf sie aufpasst und mir regelmäßig Bericht erstattest. Mehr brauchst du nicht zu wissen“, erwiderte er kühl.
Schlagartig fühlte ich mich in meine Dienstzeit in der Firma zurückversetzt. Parker hatte mir einen Befehl erteilt, dessen genaue Hintergründe ich nicht zu kennen brauchte, den ich einfach ausführen sollte. Das wäre nicht weiter ungewöhnlich, wäre ich nicht im Ruhestand und würde es nicht um Sandra gehen. Ich konnte mir nicht erklären, warum Sandras Wohlergehen für Parker so überaus wichtig war, dass er sogar den Papierkrieg in Kauf genommen hätte, der notwendig gewesen wäre um mich wieder in den aktiven Dienst zu versetzen. Dass Sandra in irgendeiner Form ein Risiko in den Augen der Firma darstellte, konnte ich mir nicht vorstellen. Zudem klang Parkers Wunsch eher privat. Aber Parker war weder jemand, der berufliches und privates vermengte, noch jemand der seine Position für private Zwecke ausnützen würde.

   Kurz vor 22:30 verließen wir das Restaurant. Wir verabschiedeten uns am Eingang und Parker erinnerte mich nochmals an meine Aufgabe.
„Vergiss nicht, was man dir über Freundschaft und Loyalität beigebracht hat. Du hast das selbst mehrere Jahre gelebt“, mahnte Parker.
Während er auf seinen Fahrer wartete ging ich die paar Schritte zu meinem Auto. Als ich die Türe öffnete hörte ich Parker rufen:
„Toller Wagen. Genauso einen hatte der Colonel auch. Daran erinnerst du dich bestimmt nicht mehr oder?“
Der Colonel, diesen Ausdruck für meinen Vater hatte ich einige Jahre nicht mehr gehört. Alle seine Freunde nennen meinen Vater so. Ich drehte mich wieder Parker zu.
„Nein, daran erinnere ich mich nicht.“
„Wahrscheinlich warst du noch zu klein. Er hat ihn verkauft als du etwa 3 Jahre alt warst. Das Auto war sein ganzer Stolz, aber für eine Familie zu unpraktisch. Schön, dass jetzt wieder einer in der Familie ist. Denk an meine Worte!“, ermahnte mich Parker abermals, bevor er mit:
„Wo bleibt nur dieser verdammte Fahrer!“, seinem Unmut über die Verspätung seines Chauffeurs Luft machte. Ich stieg in die Corvette, setzte zurück und fuhr vom Parkplatz. Ich war etwa 300 Meter entfernt, als mir ein schwarzer Chevrolet Suburban, der auf den Straßen hier mindestens ebenso auffällig ist wie meine Corvette, entgegenkam. Parkers Fahrer war drei Minuten zu spät.

   Wie fast jeden Abend trank ich auch an diesem ein Glas Whisky, bevor ich zu Bett ging. Mit einem Glas „Glenfarclas 105 Cask Strength“ setzte ich mich vor meinen Kamin und dachte über das Gespräch mit Parker nach. Er hatte mir nicht nur eine sonderbare Aufgabe übertragen, sondern auch Interessantes über Chris erzählt. Am interessanten aber war, was er nicht gesagt hat. Warum ihm Sandras Wohl so am Herzen lag. Auch was er über Geraldine berichtete beschäftigte mich. Konnte es wirklich möglich sein, dass sich unsere zwischenmenschlichen Probleme derart auf ihre Arbeit ausgewirkt hatten? Für mich unvorstellbar. Früher hatten unsere Meinungsverschiedenheiten Geraldines Arbeit niemals negativ beeinflusst. Ganz im Gegenteil. Nach jeder Auseinandersetzung oder Trennung hatte sie sich regelrecht in ihre Arbeit gestürzt und sie mit großem Erfolg erledigt. Ich fragte mich, wo der Unterschied zwischen unseren früheren Trennungen und der jetzigen aus Geraldines Sicht liegen musste. Hatte mein Satz, ich liebe dich, aber ich kann so nicht mit dir leben, tatsächlich einen solch großen Unterschied gemacht, dass er Geraldine aus ihrer Bahn geworfen hatte? Beim besten Willen konnte ich mir das nicht vorstellen. Geraldine war immer Profi genug, privates strikt von geschäftlichem zu Trennen. Warum sollte das diesmal anders gewesen sein? Bei Geraldine stand stets ihre Arbeit an erster Stelle. In gewisser Weise war sie in diesem Punkt Irina ähnlich. Ich stand auf und ging mit meinem Glas in der Hand im Wohnzimmer auf und ab. Zwischen all den Gedanken über Geraldine fiel mir plötzlich ein, dass ich wenigstens hätte versuchen können, Parker ein paar Details über Sandra zu entlocken. Zumindest ihren Nachnamen. Eine verpasste Chance, die nicht so schnell wiederkehren würde. Vielleicht war es aber besser so. Erstens hatte Parker keinerlei Anstalten gemacht mir genaueres über Sandra verraten zu wollen und zweitens gab es Chris und sein Versprechen Sandras Identität wahren zu wollen. Solange Chris mir nicht verraten wollte wer Sandra wirklich war, respektierte ich seinen Wunsch.

   Anders als ich erwartet hatte, vergingen die folgenden drei Tage wie im Flug. Statt voller Ungeduld die Zeiger der Uhr zu beobachten und die Minuten zählend auf den Freitag zu warten, war ich mit allerhand Verschiedenem beschäftigt. Zuerst musste mein Haus für den bevorstehenden Aufenthalt von Mable vorbereitet werden. Das bedeutete in erster Linie gründlich aufräumen. Anschließend ging ich für Mable ein paar Spielsachen kaufen. Ich hoffte, dass sie sich damit die Zeit vertreiben würde während sie bei mir war und ihren Chris nicht allzu sehr vermissen wird. Dienstag und Mittwoch ging ich abends sehr früh zu Bett. Die intensiven letzten Tage forderten auch bei mir ihren Tribut. In meinem Kopf drehte sich alles und gleichzeitig fühlte er sich vollkommen leer an. Am Donnerstagabend telefonierte ich ausgesprochen lange mit Sandra. Prinzipiell bin ich kein Freund von stundenlangen Telefonaten, doch ich hatte das Gefühl, dass Sandra in Anbetracht der bevorstehenden alles entscheidenden Woche dringend jemand zum Reden brauchte. Das sonderbare an dem Gespräch war, dass Sandra kaum über Chris oder ihre Gefühle für ihn sprach, sondern wie eine aufgezogene Sprechpuppe über alles Mögliche plapperte. Das einzig wichtige, das sie im Zusammenhang mit Chris erwähnte war, dass sie Pläne für das Wochenende gemacht hatte. Sie wollte versuchen Chris von seinem bevorstehenden Termin etwas abzulenken. Nach über vier Stunden beendete der leere Akku meines Handys unser Gespräch. Auf dem Weg in mein Bett fiel mir ein, dass ich nachsehen wollte, was Chris seit unserem Gespräch in seinem Tagebuch notiert hatte und ob sich Irina wieder gemeldet hatte. Aber bedingt durch das lange Telefongespräch mit Sandra war ich zu müde dafür geworden. Zudem war ich mir sicher, dass sich weder an Chris Haltung grundlegend etwas verändert hatte, noch das sich Irina in der Zwischenzeit wieder gemeldet hatte.

   Am Freitagmorgen klingelte mein Wecker schon um 8 Uhr. Endlich war der Tag gekommen, auf den ich monatelang sehnsüchtig gewartet hatte. Heute konnte ich das Buch für Geraldine abholen und es alsdann sofort zur Post bringen. Anschließend konnte ich mich in aller Ruhe auf den Weg nach Salzburg machen. Ein Freund von mir war vor ein paar Jahren, dem Wunsch seiner Frau folgend, mit ihr dorthin gezogen. Vor einigen Monaten hatten sie ein neues Haus am Rande der Stadt bezogen und mich für dieses Wochenende eingeladen. Ich freute mich auf diese willkommene Abwechslung, für die es keinen besseren Zeitpunkt hätte geben können. In der ungewohnten Umgebung und in Gesellschaft von Menschen, die ich lange nicht mehr gesehen hatte, würden sich meine Gedanken an Geraldine und wie sie auf das Buch reagieren wird, mit Sicherheit in Grenzen halten. Auch Chris konnte ich am Wochenende vor seiner entscheidenden Untersuchung guten Gewissens alleine lassen. Sandra hatte Pläne für das Wochenende geschmiedet. Heute Abend hatten sie vor gemeinsam ins Kino zu gehen, am Samstagabend wollten sie zusammen kochen und am Sonntag wollte sie mit Chris, abhängig davon wie er sich fühlen würde, einen kleinen Ausflug unternehmen. Ich war mir nicht sicher, ob das nur der Versuch der guten Freundin war, ihn von seinen Gedanken an die bevorstehende Woche mit einem schönen Wochenende abzulenken, oder ob es bereits der Ansatz Sandras darstellte Chris für sich zu gewinnen. Ungewohnt hastig trank ich meinen Kaffee, duschte rasch und zog mich an. Ich konnte es nicht mehr erwarten dieses Buch endlich in den Händen zu halten. Die 25-minütige Fahrt fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Jede rote Ampel empfand ich als persönlichen Feind, der mich bei der Ausführung meiner Mission hindern wollte. Ich parkte meinen Wagen direkt vor der Buchbinderei und stürzte förmlich hinein. Der ältere Herr, der mich am Montag so freundlich und kompetent beraten hatte, begrüßte mich schmunzelnd. Wahrscheinlich war ihm schon viele Jahre lang kein so ungeduldiger Kunde mehr untergekommen.
„Sie wollen ihr Buch abholen“, sagte er augenzwinkernd, während er unter den Tresen griff. Die Optik des Buchs, welches er hervorholte und direkt vor mir auf den Ladentisch legte, übertraf alle meine Erwartungen um Längen. Fasziniert von der perfekten handwerklichen Ausführung bestaunte ich das Ergebnis seiner Arbeit. Es war das schönste Buch, das ich je gesehen hatte. Es kommt auf die Form an, hatte Sandra zu mir gesagt. Ich war mir sicher, dass nicht nur Sandra mit dieser Form mehr als einverstanden sein würde, sondern, und das war viel wichtiger, Geraldine ebenfalls. Begeistert nahm ich das Buch in die Hand. Das Leder fühlte sich wunderbar an.
„So etwas machen wir leider nicht mehr oft“, sagte der ältere Herr in einer Mischung aus Bedauern und Stolz auf seine Arbeit. „Ich hoffe sie sind zufrieden mit dem Ergebnis.“
„Mehr als das!“, erwiderte ich voller Begeisterung. „Sie haben meine Erwartung weit übertroffen. Das ist eine phantastische Arbeit! Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
Der ältere Herr blickte mich zufrieden an. Der Preis, den er für seine Arbeit nannte, setzte man ihn in Relation zu der Qualität, war beinahe unangemessen niedrig. Zufrieden legte ich das Buch vorsichtig auf den Beifahrersitz und fuhr nach Hause. Dieses einzigartige Buch neben mir war in diesem Augenblick mein wertvollster Besitz. Viel wertvoller als all die seltenen Erstausgaben in meinem Bücherschrank. Sogar wertvoller als eine Gutenberg Bibel. Zuhause angekommen verpackte ich das Buch zuerst liebevoll in Geschenkpapier von dem ich mir sicher war, dass es Geraldines Geschmack entsprechen würde und dann in einen neutralen Karton. Danach brachte ich das Paket zur Post. Mit bis zum Hals pochenden Herz übergab ich der Dame am Schalter das Paket. Jetzt gab es kein Zurück mehr. In wenigen Tagen würde Geraldine jenes Buch in ihren Händen halten, auf welchem alle meine Hoffnungen ruhten, dass uns den Weg in eine gemeinsame Zukunft ebnen sollte. Mit zwiespältigem Gefühl verließ ich die Post und betrat den gegenüberliegenden Supermarkt. Ich wollte für Mable noch ein paar Leckereien kaufen. Chris hatte mir während einem unserer vielen Spaziergänge verraten, dass Mable, wenn sie könnte, sich am liebsten ausschließlich von Salamikaustangen ernähren würde.

   Am späten Sonntagnachmittag kehrte ich aus Salzburg zurück. Ein herrliches und unbeschwertes Wochenende lag hinter mir und eine verantwortungsvolle Woche stand bevor. Kurz vor 20 Uhr stand Chris mit Mable vor meiner Türe. Er hatte nicht nur ausreichend Futter, ihre Näpfe und eine Decke mitgebracht, sondern auch ihren Lieblingskorb in dem sie nachts schlief.
„Wenn es dir nichts ausmacht, stell den Korb bitte in dein Schlafzimmer. Mable ist es gewohnt bei ihren Menschen zu schlafen“, bat mich Chris.
„Das ist kein Problem“, entgegnete ich. „Wenn es für Mable besser ist, mache ich das gerne. Wo soll ich die Decke hinlegen?“
Chris schien kurz zu überlegen.
„Entweder neben die Sessel vor dem Kamin oder in dein Wohnzimmer. Aber ich glaube neben den Sesseln ist besser. Von dort hat sie alles im Blick.“
„Und die Näpfe, wo sollen die hin?“, erkundigte ich mich etwas unsicher.
„Die würde ich in den Flur stellen, dann muss sie sich nicht umstellen. Zuhause stehen sie auch im Flur“, erklärte Chris.
Eingehend führte er nochmals aus, wie viel Futter Mable bekommen sollte und wann sie gewöhnlich Gassi gehen musste. Wenn möglich achte darauf, dass du morgens mit ihr kurz vor 7 Uhr im Park bist. Dann triffst du Martin mit Liz und Tessa. Das sind Mables Freundinnen. Mit denen spielt sie am liebsten. Des Weiteren ist Martin einer der wenigen im Park, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann. Wie von Chris vorgeschlagen stellte ich unter Mables aufmerksamen Blicken ihre Näpfe in den Flur und legte ihre Decke neben die beiden großen Ledersessel vor meinem Kamin. Als ich anschließend ihren Korb nach oben in mein Schlafzimmer bringen wollte sagte Chris:
„Warte damit bis ich gehe. Mable wird dir folgen, weil sie wissen will, wo du ihrem Korb hinbringst. Auf diese Art wird sie nicht sofort mitbekommen, dass ich gegangen bin. Das macht es nicht nur ihr, sondern auch mir etwas einfacher. Mir fällt es immer sehr schwer, mich von ihr zu verabschieden.“
Ich stellte den Korb neben mir auf den Boden.
„Was mache ich, wenn etwas mit Mable sein sollte? Wie kann ich dich erreichen?“
„Gar nicht“, erwiderte Chris. „Solange ich im Krankenhaus bin, werde ich nicht erreichbar sein. Sollte irgendwas mit ihr sein, ruf bitte sofort Sandra an. Sie weiß was zu tun ist. Jetzt bring den Korb nach oben. Mable wird dir folgen und ich verschwinde dann leise. Nochmals vielen Dank, dass du auf sie aufpasst. Du nimmst mir damit eine große Last. Wir sehen uns nächsten Freitag.“
Chris drehte sich langsam zur Türe, während ich mit Mables Korb die Treppe hinaufging. Wie von Chris vorhergesagt, folgte mir Mable interessiert nach oben in mein Schlafzimmer. Ich stellte ihren Korb neben die Kommode am Fußende meines Bettes. Ein Platz von dem ich hoffte, dass er Mable gefallen würde. Dann begab ich mich, gefolgt von einer leicht verwirrt wirkenden Mable wieder nach unten in meine Küche. Im Erdgeschoß angekommen blickte Mable hektisch umher. Ihr Chris, der eben noch im Flur stand, war verschwunden. Schwer vorstellbar, was in diesem Moment in diesem Hund vor sich gehen musste. Doch das Öffnen der Kühlschranktüre sorgte schnell für Ablenkung. Sofort stand Mable, in der Hoffnung ich könnte etwas Leckeres für sie aus dem Kühlschrank holen, neben mir.

   Nach meinem Abendessen setzte ich mich vor meinem Kamin. Ich wollte die letzten Seiten von „The Catcher in the Rye“ lesen. Wie Chris vermutet hatte, legte sich Mable nach kurzer Zeit auf ihre Decke neben den Sesseln. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich sie hin und wieder. Sie hatte ihren Bick unablässig auf den Flur gerichtet. 2 Stunden später hatte ich das Buch fertig gelesen und Mabel war in der Zwischenzeit eingeschlafen. Ich legte das Buch auf den kleinen Tisch zwischen den Sesseln und erhob mich. Sofort erwachte Mable und sprang auf. Gefolgt von Mable, die mir mit Sicherheit die nächsten Tage auf Schritt und Tritt folgen würde, verließ ich das Wohnzimmer und ging nach oben in mein Schlafzimmer. Zuerst schaute sich Mable in dem für sie neuen Zimmer ausgiebig um und beschnupperte alles, bevor sie sich mit einem nicht zu beschreibenden Laut in ihren Korb fallen ließ und sich zusammen rollte. Ich löschte das Licht und lauschte Mables Atem. Ganz ruhig atmete sie ein und wieder aus. Anders als ich schien sich dieser Hund keinerlei Sorgen über morgen zu machen. Für sie war es ein Tag, wie jeder andere. Nicht aber für mich. Morgen wird Geraldine das Buch bekommen. Die erste Nachricht von mir seit Monaten. So sehr ich mich über die Fertigstellung des Buchs gefreut hatte, es monatelang nicht erwarten konnte, so unwohl war mir jetzt. Geraldines Reaktion, auch wenn wie Chris und Sandra übereinstimmend gesagt hatten, dass es Wochen oder gar Monate dauern konnte, war die finale Entscheidung, wie sich unsere Beziehung weiterentwickeln würde. Das schlimmste für mich war daran, dass ich mit dem Versenden des Buches alles getan hatte. Ich hatte das Heft des Handelns aus der Hand gegeben. Nun gab es keine weitere Option mehr für mich. Ich drehte mich auf die Seite und dachte an Chris und seine Untersuchung. Auch sein Leben konnte sich ab morgen entscheidend verändern. Aus wenigen Monaten konnten wieder viele Jahre werden. Mit der gleichen Intensität, mit der ich mir wünschte, dass Geraldine dieses Buch richtig verstehen wird, wünschte ich mir, dass Chris Untersuchung positiv verlaufen wird, er für das Programm angenommen und es erfolgreich abschließen wird. Meine endlose Zuversicht in Hinsicht auf Chris, bezog ich nicht nur aus der Tatsache, dass er ein Mensch ist, der niemals aufgeben wird, der stets weiter kämpft, sondern nach diesem Wochenende besonders aus einem Satz, den die Frau meines Freundes während unserer Besichtigung der Festung Hohen Salzburg zu mir gesagt hatte. Zuerst hatte sie eine Stelle aus „Jedermann“ zitiert in der der Teufel sagt: „Die Welt ist dumm, gemein und schlecht, und geht Gewalt allzeit vor Recht, ist einer redlich, treu und klug, ihn meistern Arglist und Betrug.“ Dann merkte sie in ihrem charmanten österreichischen Dialekt und einem Augenzwinkern an: „Der Tod wohnt in Salzburg.“ Demzufolge konnte er nicht hier sein. In der Hoffnung, dass die Welt morgen, jedenfalls für Geraldine, Sandra, Chris und mich eine andere, viel bessere sein wird, schlief ich beruhigt ein.

ENDE

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