Der Mann mit dem Hund: Drei W̦lfe РKapitel 1 РDer tote Baum

7Jahre später.

   Es war einer jener seltenen warmen Tage Ende Oktober. Jeder, der Zeit hatte, nutzte diesen Sonntag um vor dem bevorstehenden Winter noch einmal die letzten warmen Sonnenstrahlen zu genießen. Mein Spaziergang führte mich durch einen Park, dessen Baumbestand überwiegend aus Jahrhunderte alten Eichen bestand. Diesem außergewöhnlichen Baumbestand verdankte der Park seinen antiquiert klingenden Namen: Eichenhain. Ich beobachtete Eltern, die mit ihren Kindern spielten, Menschen, die mit ihren Hunden spazieren gingen und betrachtete die herrlichen Farben der Bäume. Der Herbst hat mit seinen prachtvollen Farben etwas Wunderbares und doch gleichzeitig Morbides. Er kündigt den Winter an. Ein letztes Aufbäumen der Natur, bevor sich Schnee und Frost wie ein Leichentuch bis zum nächsten Frühling über sie legen. Trotzdem war es immer meine Lieblingsjahreszeit. Ich ging an den vielen beeindruckenden Eichen vorbei, die links und rechts den geschotterten Weg säumten, bis ich eine kleine Wiese erreichte, in deren Mitte ein einzelner mächtiger, von Brandspuren gezeichneter Baumstamm stand. Daneben lag ein riesiger Ast, der vermutlich während des Brandes abgefallen sein musste. Um mir das genauer anzusehen, ging ich weiter auf diesen Baumstamm zu. Als ich näherkam bemerkte ich einen Mann hinter dem herabgefallenen Ast und einen karamellfarbenen Hund auf der Wiese dahinter umher tollen. Der Hund schien, der Leine nach zu schließen, die der Mann in der Hand hielt, zu ihm zu gehören. Ich schaute mir den Stamm genauer an. Er war innen komplett ausgebrannt. Das Feuer hatte seine ganze zerstörerische Arbeit geleistet. Wie alt der Baum gewesen sein musste, fragte ich mich, als der Mann unvermittelt zu mir sagte:
„Das war kein Blitz, wie sie vielleicht vermuten, sondern irgendwelche Jugendliche. Die Eiche steht schon so lange hier, wie ich denken kann. Sie hatte direkt oberhalb der Wurzeln einen großen Hohlraum mit zwei Öffnungen, durch die kleine Kinder hindurchkriechen konnten. Deshalb wurde sie von vielen hier der hohle Baum genannt. In dieser Öffnung hatten sie Feuer gelegt und der Baum brannte aus. Heute wird er der tote Baum genannt.“
Ich drehte mich zu dem Mann, der immer noch den abgefallenen Ast untersuchte.
„Das ist sehr schade. Warum muss so etwas Wunderbares, wie ein Baum zerstört werden?“
Der Mann unterbrach seine Suche und blickte mich an.
„Das ist der Gang der Zeit. Alles ist auf die eine oder andere Art vergänglich. Fast alles.“
Ohne mir weiter Beachtung zu schenken setzte er seine Suche fort. Ich war neugierig geworden und da ich mir nicht erklären konnte, was der Mann an dem Ast suchte, beschloss ich ihn zu fragen.
„Darf ich fragen, was Sie suchen?“
Ich erwartete höchstens eine belanglose Antwort.
„Eine etwa anderthalb Jahre alte Inschrift“, gab er mir zur Antwort. „Ich will wissen, ob sie noch da ist.“
Es klang so, als wäre diese Inschrift dem Mann sehr wichtig. Ich schaute mir den Mann genauer an. Er war etwa Mitte Vierzig. Im Allgemeinen ist das kein Alter mehr, in dem man etwas in einen Ast ritzt. Um meine Neugier zu befriedigen, versuchte ich mit einer scherzhaften Bemerkung das Gespräch weiterzuführen.
„Als Jugendlicher habe ich auch Dinge in Bäume geritzt. Sie wissen schon, eben das übliche in diesem Alter.“
„Das ist keine Frage des Alters, sondern eine Frage der Gefühle“, erwiderte der Mann ruhig. „Es ist ein Zeichen. Ein Symbol für eine lange Zeit.“
Unterdessen war sein Hund wieder zurückgekehrt. Es war einer dieser mittelgroßen Hunde, wie ich sie in den Straßen Südeuropas häufig gesehen hatte. Fröhlich schwanzwedelnd kam er auf mich zu und beschnupperte mich.
„Sie müssen keine Angst vor ihr haben. Mable will nur wissen, ob Sie nicht etwas Wurst, oder besser noch Käse bei sich haben“, bemerkte der Mann beiläufig.
Ich überging seine Bemerkung und erkundigte mich, ob er die Inschrift gefunden habe.
„Ja, sie ist noch da.“
Er schien über seinen Fund erleichtert zu sein.
„Was ist das für eine Inschrift? , fragte ich neugierig.
„Sie ist für meine Freundin“, entgegnete er.
Ich war verwundert und interessiert zugleich. Nach meiner Erfahrung waren Männer in diesem Alter überwiegend verheiratet, wenn sie einen Hund haben. Aber vielleicht war er geschieden, hatte mittlerweile eine neue Beziehung und der Hund war ein Überbleibsel der gescheiterten Ehe.
„Wenn die Frage nicht zu indiskret ist, sind sie schon lange zusammen?“
„Nein, sind wir nicht“, sagte der Mann zögerlich. „Etwa anderthalb Jahre.“
Er macht eine kurze Pause und fügte ohne seine Stimmlage zu verändern hinzu:
„Aber das Leben wird die Beziehung in absehbarer Zeit beenden. Davon ahnt sie aber nichts.“
Mir fehlten die Worte. Mit einer solchen Antwort hatte ich nicht gerechnet. Noch während ich nach einer passenden Antwort suchte, verabschiedete sich der Mann von mir.
„Es wird bald dunkel und ich sollte nach Hause gehen. Meine Katze hat bestimmt schon Hunger. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“
„Ich Ihnen auch“, erwiderte ich.

   Eine ganze Weile schaute ich dem Mann und seinem Hund noch nach , bis mein Blick auf Wahrzeichen der Stadt, den weltweit ältesten Fernsehturm fiel, der von dieser kleinen Wiese aus sehr gut zu sehen war. Während ich das 217 Meter hohe Bauwerk betrachtet geisterte ein Satz des Mannes durch meinen Kopf: „Das Leben wird die Beziehung bald beenden“, und ich begann für einen kurzen Moment darüber nachzudenken, wie er auf eine derart ungewöhnliche Formulierung gekommen sein mag. Langsam begann die Sonne am Horizont zu versinken und die Wärme des Nachmittags wich der Kühle der einsetzenden Dämmerung. Gerade als ich mich auf den Heimweg machen wollte fiel mir die Inschrift wieder ein, die der Mann gesucht hatte. Noch war es hell genug und ich wusste etwa an welcher Stelle der Mann gestanden hatte, als er sie fand. Ich brauchte nicht lange um sie zu entdecken. Die Witterungseinflüsse haben sie schwach werden lassen, dennoch war sie noch gut zu erkennen. Es war ein Herz mit einem I und einem C in der Mitte. Ziemlich kitschig dachte ich, während ich meine Jacke zuknöpfte und mich auf den Weg machte.

  Nach dem Abendessen nahm ich einem der beiden großen Ledersessel vor meinem Kamin Platz. Ich wollte das Buch weiterlesen, das ich vor einigen Tagen angefangen hatte. Aber es gelang mir nicht mich auf die Handlung zu konzentrieren. Der Mann und sein merkwürdiger Satz gingen mir nicht aus dem Kopf. Normalerweise sagt man, ich werde die Beziehung bald beenden, oder, wenn man einen bestimmten Verdacht hatte, sie wird die Beziehung bald beenden, aber niemand wählt so eine Formulierung. Die Art, wie der Mann den Satz gebrauchte hatte, hat auf mich nicht den Eindruck gemacht, dass er sich versehentlich so ausgedrückt hatte. Diesen verklausulierten Satz musste er mit Absicht gewählt haben. Konnte das der Schlüssel zu einer Geschichte sein, wie ich sie schon seit Monaten suchte?

  In den letzten sieben Jahren hatte ich  einige sehr erfolgreiche Bücher geschrieben, die sich weitestgehend, an den sensiblen Stellen aber fiktiv, mit dem Erlebten meines ersten Lebens auseinandersetzten, wie ich diesen Abschnitt meines Lebens, den ich im Dienst der Firma zugebracht hatte, zu nennen pflegte. Anders, als die meisten der unzähligen Spionage- und Agentenromane schildern meine Bücher schonungslos die Realität dieses, für viele Menschen höchst fragwürdigen Geschäfts. In ihnen gibt es keine Superhelden mit Superwaffen und unzähligen schönen Frauen an ihrer Seite, wie zum Beispiel in Ian Flemmings James Bond Romanen, sondern nur normale Menschen, die versuchen die zum Teil widersinnigen Aufgaben, die Ihnen übertragen wurden zu lösen und dabei zu überleben. Ihr Erfolg ermöglichte mir das Leben zu führen, das ich jetzt hatte. Vor wenigen Wochen war ich in mein neues Haus unweit von diesem Park gezogen. Nicht dass ich mich in meinem Loft, das ich zuvor bewohnt hatte unwohl gefühlt hätte, aber es lag mir zu sehr in der Stadt, hatte keinen Garten und die ständige Suche nach einem Parkplatz, egal zu welcher Uhrzeit ich nachhause kam, trieb mich in den Wahnsinn. Einen Garten zu haben war immer ein großer Wunsch von mir gewesen. Bereits als Kind liebte ich Rosengärten und ich war mir damals schon sicher, dass später, wenn ich einmal groß bin, ich einen haben werde. Zwei Jahre hatte ich nach einem geeigneten Haus in einem der Vororte auf den Fildern gesucht, wobei letztlich nur die beiden ,auf deren Gemarkung auch dieser alte Park lag, in Frage kamen. Aber dort ein passendes Haus zu finden war fast ein Glücksspiel. Die meisten, die ich mir angesehen hatte, waren mir entweder zu modern, zu klein oder der Garten hatte lediglich das Format eines besseren Badetuchs. Vor anderthalb Jahren erfuhr ich zufällig von einem Haus aus den 30er Jahren, das zum Verkauf stand. Eine Zeit in der die Grundstücke, im Gegensatz zu heute noch großzügig bemessen waren. Die alte Dame, die das große Haus seit ihrer Kindheit bewohnte hatte, war in ein nahegelegenes Heim für besonders gutbetuchte Senioren gezogen und wollte, da sie keine Verwandten mehr hatte, das Haus verkaufen. Dieses Haus war die Gelegenheit auf die ich gewartet hatte. Wobei sich der Kaufpreis und das Wort Gelegenheit beinahe widersprachen. Nachdem ich mir das Haus angesehen hatte, war ich mir sicher, hier die nächsten Jahrzehnte meines Lebens verbringen zu wollen. Es folgte eine gründliche Sanierung, die phasenweise eher einem Abriss glich und alle damit verbundenen Probleme. Handwerker, die sich gegenseitig die Schuld für diverse Mängel gaben, Terminverschiebungen und so weiter, bis es letztlich Ende August soweit fertig war, dass ich einziehen konnte. Ich fühlte mich sofort wohl in diesem Haus, obwohl der Garten nicht fertig geworden war und es ein paar kleinere Mängeln gab, mit denen ich aber leben konnte. Jetzt lebte ich in einem Haus mit einer großen offenen Küche mit Kochinsel und Bar. Einem Wohnzimmer mit offenem Kamin, einem Arbeitszimmer mit Blick über den Garten, zwei Gästezimmern und einer riesigen Garage für meine Autos, die noch Platz für 3 weitere ließ, die ich mir unbedingt noch zulegen wollte. Als ich noch in meinem Loft gewohnt hatte, waren meine Autos, ein 68er Ford Mustang GT 390/4 für die Wochenenden und ein Aston Martin DB9, den ich zwar ungemein schätze, wegen des Klischees Mitarbeiter eines Nachrichtendienst, wenn auch ehemaliger, und Fahrzeuge dieses Herstellers aber kaum bewegte, auf zwei Garagen in der halben Stadt verteilt und der Gedanke noch mehr Autos zu besitzen war ein logistischer Alptraum. In den letzten Jahren hatte ich alles erreicht, wovon viele Menschen träumen. Ich war erfolgreich, besaß nun dieses Haus, zwei der Autos, die ich immer haben wollte und hatte viel Zeit für mich und die Dinge, die mich interessierten. So hatte ich vor längerer Zeit begonnen alte Bücher und Single Malt Whiskys zu sammeln. Mit diesen und ein paar anderen Hobbies, dich ich mir zugelegt hatte vertrieb ich mir die Tage und lebte vollkommen losgelöst von den Sorgen dieser Welt von einem Tag in den nächsten. Die Veröffentlichung meines letzten Buches lag annähernd ein Jahr zurück und ein weiteres über diese vergangene Zeit meines Lebens, mit der ich endgültig abgeschlossen hatte, wollte ich nicht schreiben. Ich wollte über etwas ganz Anderes schreiben. Eine außergewöhnliche Geschichte über ganz normale Menschen, deren Leben sich trotzdem abseits des Üblichen bewegte. Vielleicht war es in gewisser Weise der Traum, den einen großen Roman zu schreiben, den jeder Schriftsteller träumt. Der ungewöhnliche Satz dieses Mannes erschien mir wie der Schlüssel zu einer Türe, hinter der sich eine solche Geschichte verbergen konnte. Möglicherweise steckte dahinter nur eine banale, alltägliche Liebesgeschichte ohne Happyend. Doch mein Instinkt, der mir im vorherigen Abschnitt meines Lebens so oft gute Dienste erwiesen hatte und mir mehr als einmal das Leben gerettet hatte, sagte mir, da steckt viel mehr dahinter.

   Die nächsten sechs Tage verbrachte ich mit den mir verhassten Büroarbeiten und Terminen mit Menschen, die sich nach meiner Ansicht selbst stets eine Spur zu wichtig nahmen. Aber das Wetter hatte sich derart verschlechtert, dass die ermüdende Schreibtischarbeit und die langweiligen Termine noch die beste Option darstellten. Die Begegnung mit dem Mann lag nun fast eine Woche zurück, dennoch dachte ich immer wieder an ihn und diesen Satz. Was er wohl im Augenblick tat? Ob die Beziehung noch bestand und ob er das C oder das I in diesem Herz war?

   Als ich am Sonntagmorgen, für mich ungewöhnlich früh, kurz nach sieben Uhr erwachte, staunte ich nicht schlecht. Über Nacht waren etwa 10 Zentimeter Schnee gefallen. Am letzten Wochenende im Oktober. Die Natur bot ein bizarres Bild. Die meisten Bäume trugen noch ihr Laub und einige Blumen in den Gärten, insbesondere die Rosen, blühten noch. Während ich mein Frühstück zubereitete überlegte ich mir, wie der alte Park jetzt aussehen musste und ob ich dort diesen Mann vielleicht wieder treffen würde. Nach einer Tasse Kaffee, ohne etwas gegessen zu haben, beendete ich mein Frühstück, holte die warme Armeejacke aus dem Schrank, die ein Oberst einer Fallschirmjägereinheit mir am Ende meiner letzten Mission geschenkt hatte und die seitdem zu meiner Lieblingswinterjacke geworden war und machte mich auf den Weg in diesen Park. Ein kalter Wind pfiff mir ins Gesicht und große schwere Schneeflocken tanzten um mich herum als ich mein Haus verließ. Auf dem Weg in den Park kam ich an ein paar Haselnussbäumen und Buchen vorbei, die unter der Last des schweren, nassen Schnees bedrohlich ächzten und mich mit diesen Geräuschen zum schneller gehen animierten. Als ich den Eingang des Parks erreicht hatte stand ich vor der Frage, in welche Richtung ich gehen wollte. Während ich noch unentschlossen auf der Stelle verharrte, bemerkte ich ein paar Hunde auf einer großen Wiese, circa 150 Meter rechts von mir, ausgelassen im Schnee toben. Ich ging in Richtung dieser Wiese in der Hoffnung, dass der Hund des Mannes einer der Hunde sein würde, die so viel Spaß im Schnee zu haben schienen. Aber ich entdeckte nur einen weißen, einige dunkelbraune und ein paar schwarze Hunde. Plötzlich, wie aus dem Nichts, sauste von hinten ein karamellfarbener Hund an mir vorbei auf die Wiese und rannte geradewegs auf die anderen Hunde zu. Ein paar Augenblicke später folgte dem Hund ein Mann, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Ich war mir sicher, das war der Mann mit dem ich mich vor einer Woche an dem ausgebrannten Baumstamm unterhalten hatte. Aus einiger Entfernung beobachtete ich, was sich auf der Wiese abspielte. Während die Hunde weiter ausgelassen durch den Schnee jagten, unterhielten sich die Menschen. Es hatte den Anschein, als würden sie sich durch die täglichen Spaziergänge schon länger und einigermaßen gut kennen. Mir fiel auf, dass der Mann, als würde er nicht dazugehören, oder die Gruppe nur flüchtig kennen, ein wenig Abstand zu dieser hielt und sich nicht an der Unterhaltung zu beteiligen schien. Langsam lief ich, der Gruppe folgend, auf dem Weg, der oberhalb der Wiese parallel zu dieser entlangführt. Kurz vor einer Baumgruppe am Ende der Wiese machten sie kehrt und gingen zurück. Ich konnte nicht genau sagen, was ich mir davon versprach, doch ich drehte ebenfalls um und folgte ihr mit einiger Entfernung. Sie gingen quer durch den Park in Richtung des toten Baumes, bis sie einen Ausgang etwa 200 Meter vor der kleinen Wiese erreichten, an dem die ganze Gruppe den Park verließ. Direkt hinter dem Ausgang verabschiedete sich der Mann von der Gruppe. Während die Gruppe weiter geradeaus ging, bog der Mann nach links ab. So erfahre ich wo er wohnt und vielleicht noch ein bisschen mehr dachte ich und folgte ihm. Er folgte eine Zeitlang der Straße, die an der Ostseite außerhalb des Parks entlangführt, bis er an der vierten Querstraße rechts abzweigte. Nach weiteren 200 Metern bog er zuerst nach links und gleich anschließend auf einen schmalen Gehweg, der einen Durchgang zwischen zwei Häuserzeilen bildet, wieder nach rechts ab. Ich beeilte mich, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. An dem Durchgang angekommen sah ich gerade noch, dass der Mann die Straße, in die der Gehweg mündet, ca. 100 Meter hinuntergegangen war und auf der linken Seite in einem Hof verschwand. Ich zögerte kurz, bevor ich ihm folgte. Bedingt durch den größeren Abstand, hatte ich nicht erkennen können, in welchen der beiden Hauseingänge, die sich in dem Hof befanden, der Mann gegangen war. Ich blickte mich ein wenig in der Straße um. Nichts Besonderes, einen normale Wohnstraße für diesen Teil des Vororts. Kleinere Mehrfamilienhäuser, von den denen die meisten, ihren modernen Farben und Fenstern nach zu schließen, erst vor kurzem renoviert worden waren. Mein Blick richtete sich wieder auf das Haus in dem Hof. Das Haus, oder genauer die beiden Häuser, mussten aus den 50er oder 60er Jahre stammen und hatten, dem bröckelnden Putz der Balkone nach zu schließen, schon bessere Tage gesehen. Auch über das Braun der Fassade war der Zeitgeist längst hinweggegangen und so wirkten sie, neben den renovierten Häusern um sie herum wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. Ich betrat den Hof, in der Hoffnung an den Klingeln vielleicht einen Hinweis auf den Mann zu finden. An den Klingeln standen jedoch nur mir nichtssagende Nachnamen. Mittlerweile hatte der eisige Wind stark aufgefrischt. Verbunden mit dem weiterhin anhaltenden Schneefall war es mir unangenehm kalt geworden und ich machte mich mit diesem wenig zufriedenstellenden Ergebnis auf den Weg nach Hause. Ich wusste nun in etwa wo der Mann wohnt, mehr aber auch nicht.

   Am darauffolgenden Abend war ich zu einer Scheidungsparty eingeladen. Diese Art Party war in den letzten zwei Jahren in meinem Bekanntenkreis zu einer fragwürdigen Mode geworden. Je nach Verlauf der Ehe und vor allem ihrem Ende hatten dieses Partys meist den Charakter einer Siegesfeier, seltener den einer Abschlussfeier. Mir war die Notwendigkeit Gastgeber einer solchen Party sein zu müssen bislang erspart geblieben. Das lag zum einen mit Sicherheit an meinem früheren Leben, bei dem eine feste Bindung eher hinderlich war. Zum anderen daran, dass ich mich in einer zu festen Beziehung in meiner Freiheit eingeengt fühlte und nicht mehr zu 100 Prozent Herr in meinem Leben war. Nicht, dass ich es reizvoll fand ständig wechselnde Partnerinnen zu haben, es war nur einfacher so. Alltäglichkeiten, die andere Paare als Zeichen der Zusammengehörigkeit betrachten konnten mich schnell an die Grenzen meiner Geduld bringen. Es dauerte ein paar Beziehungen, bis ich gelernt hatte bedingt zu akzeptieren, dass Frauen gerne Kosmetikartikel im Bad ihres Freundes zurücklassen. Aus meiner Sicht hat das weniger mit praktischen Gesichtspunkten zu tun. Viel mehr erblickte ich darin die Tatsache, dass die Frau damit ihr Revier markierte. Fast so, wie es die Hunde taten, die ich im Park beobachtet hatte. In Zahnbürste, Kamm, Wattepads und all dem anderen manifestiert sich ein Besitzanspruch, der am Ende meiner Beziehungen jedes Mal dazu führte, dass ich ein Paket packen und der Dame ihre Sachen hinterherschicken musste. Natürlich hätte ich diese Dinge auch in den Müll werfen können, das hat aber nicht die gleiche Aussage an die Empfängerin, da es für sie im Verborgenen geschieht. Um mir das gleiche Schicksal zu ersparen hatte ich es immer vermieden in der Wohnung meiner Freundin Gegenstände von mir zu lassen. Niemand, der in ihre Wohnung kam, konnte auch nur die kleinste Spur davon entdecken, dass sie eine Beziehung mit mir hatte. Einige meine ehemaligen Freundinnen bezeichneten mein Verhalten als egoistisch. Manche sogar als unreif und kindisch. Möglicherweise haben sie damit sogar Recht. Aber es vereinfachte mein Leben und schützte mich gleichzeitig vor längeren und komplizierten Beziehungen.

   Gegen 20 Uhr holte ich meine aktuelle Freundin ab. Ich hatte Maria vor 2 Monaten in einer Buchhandlung kennengelernt. Als ich im Anschluss an eine Vorlesung aus meinem letzten Buch die Fragen der Zuhörer beantwortete, fiel mir die junge Frau in der Ecke für Literatur des 18. Jahrhunderts auf. Schnell kamen wir ins Gespräch und sie erzählte mir, dass sie Germanistik und Literaturwissenschaft studierte. Wir gingen Essen und eines ergab das andere. Die Tatsache, dass sie weit über 20 Jahre jünger war als ich führte zu sehr geteilten Ansichten über unsere Beziehung. Die meisten meiner männlichen Freunde, vor allem die Verheirateten betrachteten Maria mit einer subtilen Form von Neid, während die weiblichen in ihr eher eine unerwünschte Gefahr sahen. Die Ehefrau eines guten Bekannten nannte Maria unlängst den typischen blonden Alptraum mit langen Beinen, großen Brüsten und hübschem Gesicht. Eine Bemerkung, die aus ihrer Sicht sogar verständlich war. Anders, als bei den Frauen meiner Freunde hatte bei Maria die Physik noch nicht ihren Tribut gefordert. Noch deutlicher trat der weibliche Argwohn gegenüber Maria bei einer Geburtstagsfeier im letzten Monat zu Tage. Die Gastgeberin ließ mich in verbindlichen Ton wissen, dass ich die Männer auf dumme Ideen bringen würde und meine Beziehung mit Maria ein gefährliches Gedankengut verbreitete, das keinesfalls geduldet werden könnte. Als ich ihr darauf entgegnete, dass Maria dafür frei von Falten, Cellulite und vor allem psychischen Macken sei, war das Gespräch und die Freundschaft fast ebenfalls beendet. Natürlich war mir bewusst, dass die Beziehung mit Maria, wie alle meine vorherigen, nicht von Dauer sein würde. Aber Maria hatte einen unschätzbaren Vorteil. Ihre biologische Uhr war noch weit davon entfernt auch nur im Ansatz zu ticken zu beginnen. Anders als bei etlichen Mittdreißigerinnen, die ich zuvor hatte. Kinder zu haben gehörte nicht zu meinem Lebensplan. Jedenfalls hatte ich  nie darüber nachgedacht und heute wollte ich für nichts und niemand mehr Verantwortung übernehmen.

   Wie etliche andere dieser eher eintönigen Partys zuvor, zeichnete sich auch diese hauptsächlich durch, in belanglosen Smalltalk vertiefte, herumstehende Gäste aus. Während Maria, wie nicht anders zu erwarten war, von etlichen Männern in Beschlag genommen wurde, erkundete ich gelangweilt das Büfett, das diesmal eine unerwartet reichhaltige Auswahl appetitlicher Speisen bot. Meine Langeweile verflog schlagartig mit dem Auftauchen von Geraldine, mit der ich an diesem Abend überhaupt nicht gerechnet hatte. Mit ihr verband mich seit vielen Jahren ein ungewöhnliches, lange Zeit ungeklärtes Verhältnis. Die überwiegende Zeit davon waren wir Freunde gewesen. Unterbrochen von einigen Beziehungsversuchen und den scheinbar zwingend darauffolgenden kurzen Kontaktpausen. Kennengelernt hatten wir uns vor über 20 Jahren während meines ersten Auftrags für die Firma. Später hatten wir bei einigen Einsätzen zusammengearbeitet. Im Gegensatz zu mir, ist sie bei der Firma geblieben und hatte eine beachtliche Karriere gemacht. Sie war jetzt Bereichsleiterin. Eine, für diesen von Männern dominierten Bereich, überaus bemerkenswerter Leistung. Geraldine gehört zu den Frauen, die man auf Grund ihrer vielen Facetten nur sehr schwer beschreiben kann. So würde niemand hinter den perfekten Kostümen und Hosenanzügen, den sorgsam ausgewählten Accessoires und dem dezenten, geschmackvollen Schmuck, die Vorliebe für Rennmotorräder jenseits der 150 PS vermuten, mit denen sie in jeder freien Minute halsbrecherisch unterwegs war. Genauso wenig, wie jemand hinter der zielstrebigen, selbstsicheren und selbstbewusst auftretenden Karrierefrau eine eher sensible und mir damit oft unverständliche Persönlichkeit suchen würde. Obwohl sie eine wunderbare Frau ist, klug und außerordentlich gutaussehend, an manchen Tagen sogar ausgesprochen humorvoll sein kann, war eine Beziehung mit ihr zu führen ungemein schwierig. Woran das genau lag hatte ich in der ganzen Zeit nicht herausfinden können und ehrlich gesagt, ich hatte es auch nicht mit letzter Konsequenz versucht. Jedenfalls stand für mich fest, dass Geraldine das Problem war und nicht ich. In den letzten beiden Monaten hatten wir kaum voneinander gehört, was vor allem an mir lag. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie auf meine Beziehung mit Maria reagieren wird und wollte mir sowohl ihre Kritik, als auch die zu erwartenden spitzen Bemerkungen so lange wie möglich ersparen.

   Geraldine trug an diesem Abend einen schmal geschnittenen anthrazitfarbenen Hosenanzug, der ihre sportliche Figur an den richtigen Stellen betonte. Dazu eine weiße Bluse und Highheels. Mit ihren 1,78 Meter ist Geraldine ohnehin nicht gerade klein, doch dank der Absätze, die selbst für ihre Verhältnisse heute ausgesprochen hoch ausfielen, war sie fast so groß wie ich. Ihre schulterlangen Haare trug sie heute offen, was sie sonst eher selten tat. Zudem waren sie deutlich heller als sonst. Von Zeit zu Zeit hatte Geraldine die Angewohnheit ihre dunkelblonden Haare aufzuhellen und ich war mir nie darüber im Klaren geworden, wie sie mir besser gefiel. Auch war sie für die Jahreszeit ungewöhnlich stark gebräunt. Offensichtlich hatte sie wieder damit begonnen regelmäßig ein Solarium zu besuchen. Als Geraldine mich bemerkte kam sie umgehend auf mich zu und begrüßte mich ausgesprochen freudig.
„Schön dich zu sehen, du Verschollener. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“
Ich wusste nicht so recht, was ich mit dieser Begrüßung anfangen sollte. Normalerweise war sie nach einer längeren Zeit ohne oder lediglich sporadischen Kontakts zwischen uns vorsichtig gesagt eher spröde.
„Ich war nicht verschollen“, antwortete ich ruhig. „Es gab noch eine Menge Arbeit mit dem Haus. Die Handwerker hatten nicht alles so erledigt, wie ich es haben wollte. Aber das kennt man ja.“
„Und? Ist es jetzt alles fertig?“, erkundigte sich Geraldine mit aufrichtig wirkendem Interesse.
„Fast, es fehlen noch ein paar Kleinigkeiten im Haus und in der Garage. Außerdem muss der Garten noch fertig angelegt werden.“
Da es nur eine Frage der Zeit war, bis Maria wieder zu mir kommen würde, stand ich vor der Entscheidung, Geraldine entweder kalt zu überraschen oder ihr gleich von Maria zu erzählen. Bevor ich mich für eine der Varianten entscheiden konnte, kam Maria geradewegs auf mich zu. Sie stellte sich neben mich und griff demonstrativ nach meiner Hand. Geraldine musterte die junge Frau an meiner Seite und zog dabei fast unmerklich ihre rechte Augenbraue hoch. Wer Geraldine gut kannte, wusste diese Art Mimik zu deuten. Es war ein deutliches Zeichen ihrer Missbilligung.
„Wir wurden uns noch nicht vorgestellt“, sagte sie mit leicht herablassendem Tonfall zu Maria. „Mein Name ist Geraldine. Ich bin eine langjährige und sehr gute Freundin ihres Freundes. Ich freue mich seine aktuelle Favoritin kennenzulernen.“
Freundlich, aber erkennbar süffisant lächelnd fügte sie hinzu: „Etwas jugendliche Leichtigkeit wird seinem Leben nicht schaden.“
Geraldine hatte Maria auf ihre unnachahmliche Art überfahren und gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, welche Bedeutung sie ihr zu maß. Keine, wie jeder meiner Freundin zuvor. Merklich verunsichert stellte sich Maria vor:
„Ich bin Maria. Sehr erfreut sie kennen zu lernen.“
An mich gewandt sagte sie:
„Ich wollte nur kurz sehen, was du machst“, bevor Maria uns sofort wieder verließ.
Mit Sicherheit war es weniger ihr Interesse an mir, als an der ihr unbekannten möglichen Konkurrentin, das Maria für diesen kurzen Moment zu mir geführt hatte. Eine gute Gelegenheit dieser den eigenen Status aufzuzeigen.
„Bist du in der Midlifecrisis? Die ist ja noch jünger als ihre Vorgängerin! Dieses junge Ding kann doch nicht dein Ernst sein?“, harschte mich Geraldine mit einem Unterton an, der mir überhaupt nicht gefiel.
„Weder noch“, antwortete ich entschieden. „Maria ist nicht so kompliziert und vergangenheitsbelastet, wie Frauen ab Mitte 30. Außerdem sucht sie nicht hinter jedem: Ich habe keine Zeit für dich, mangelndes Interesse oder schlimmeres. Sie ist einfach pflegeleicht und unkompliziert.“
Geraldine schaute mich verständnislos an und schüttelte den Kopf. Mit den Worten:
„Naja, wenn du meinst. Vergiss nicht die Kleine um 22 Uhr ins Bett zu bringen. 18 wird sie ja hoffentlich wohl schon sein. Schönen Abend noch“, ließ sie mich stehen und verschwand zwischen den Gästen.

   Kurz nach 24 Uhr verließ ich mit Maria die Party. Ohne dass ich es bemerkt hatte, musste Geraldine in der Zwischenzeit ebenfalls gegangen sein. Ungewöhnlich war, dass sie sich nicht von mir verabschiedet hatte. Dass Geraldine es vergessen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Viel eher war es ein weiteres Zeichen, mit dem sie ihre Ablehnung gegenüber meiner Beziehung mit Maria zum Ausdruck bringen wollte. Anders als Maria und ich es verabredet hatten nahm ich sie an diesem Abend nicht mit zu mir, sondern brachte sie zu ihrer Wohnung. Einer der Vorzüge an der Beziehung mit Maria war, dass ich meine Entscheidungen ihr gegenüber selten mitteilen und noch viel seltener begründen musste. Während der Fahrt zu ihrer Wohnung wollte Maria zu meinem Erstaunen unbedingt wissen, wer diese Frau war, mit der ich mich unterhalten hatte. Sie bohrte so lange, bis ich ihr in knappen Worten erzählte, dass Geraldine eine langjährige Bekannte von mir ist und wir hin und wieder so eine Art Beziehung gehabt hatten.

   Am nächsten Morgen, als der Wecker mich um 8 Uhr aus dem Schlaf riss, schüttete es ohne Unterlass. Ich frühstückte kurz und machte mich gleich darauf auf den Weg zu meinem Autohändler. Am Vortag hatte ich für meinem BMW, den ich im Alltag benutze, einen Termin zum Räderwechsel vereinbart. Normalerweise ließ ich die Sommerräder bis Ende November am Auto. Dieses Jahr aber hatte ich das Gefühl, gewarnt durch den Schnee vom Sonntagmorgen die Räder frühzeitig wechseln zu müssen. Ich war gerade 2 Querstraßen gekommen, als ich an einer Fußgängerampel anhalten musste. Vor mir überquerte sichtlich durchnässt der Mann, der mir vor einigen Tagen diese merkwürdige Antwort gegeben hatte, in Begleitung seines Hundes die Straße. Die ganze Fahrt über und auch solange ich im Autohaus auf meinen Wagen wartete, dachte ich über den Mann, seine Antwort und die mögliche Geschichte dahinter nach. Ich musste unbedingt mehr über ihn in Erfahrung bringen. Wer er war, wo er arbeitete, wie sein Leben aussah, vor allem aber, was es mit dieser Antwort auf sich hatte.