Der Mann mit dem Hund: Drei Wölfe – Kapitel 2 – Verbotenes

   Eine Woche lang war ich dem Mann und seinem Hund jeden Morgen bei ihrem Spaziergang gefolgt, ohne dabei, außer dass ich erfahren hatte in welchem der beiden Hauseingänge seine Wohnung lag, neue Erkenntnisse erlangt zu haben. Ich wusste nicht ansatzweise genug über den Mann und sein Leben, um seinen sonderbaren Satz entschlüsseln zu können. Natürlich hätte ich diese Lücken mit künstlerischer Freiheit schließen können, mir eine Geschichte rund um diesen Satz ausdenken können. Aber ich hatte gelernt, dass das Leben Wege gehen kann, auf die man auch mit noch so viel Phantasie nicht kommt. Am Sonntagabend setzte ich mich mit einem Glas Bordeaux und einer Zigarre vor meinen Kamin und begann darüber nachzudenken, über welche Möglichkeiten ich noch verfügte, um weitere Informationen erlangen zu können. Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger sinnvolles fiel mir ein und ich beschloss an diesem Abend früh schlafen zu gehen. Das ungewohnt frühe Aufstehen während der letzten Woche forderte seinen Tribut und ich hatte die Absicht den Mann bei seinem Hundespaziergang morgen früh erneut beobachten.

   Der November war in diesem Jahr ungewöhnlich kühl und verregnet und auch am nächsten Morgen regnete es ohne Pause. Während ich meinen Kaffee trank und der Regen immer stärker gegen mein Küchenfenster prasselte kam mir eine Idee. Gewöhnlich verließ der Mann mit seinem Hund kurz nach 7 Uhr das Haus und kehrte gegen 8 Uhr zurück. Das bedeutete sein Arbeitsbeginn konnte nicht vor 8:30 sein. Ich brauchte also nur ein paar Minuten nach 8 Uhr in der Nähe seines Hauses zu sein und zu warten, in welches Auto er stieg. Mit Hilfe der Autonummer sollte es möglich sein seine Identität zu klären. Da ich mir kaum vorstellen konnte, dass jemand seinen Hund täglich 8 Stunden oder länger alleine zuhause lässt, bestand eine große Wahrscheinlichkeit, dass der Mann seinen Hund mit zur Arbeit nahm, weshalb mir der Gedanke, er könnte öffentliche Verkehrsmittel benutzen, abwegig erschien.

   Kurz nach 8:30, wie ich vermutet hatte, verließ der Mann mit seinem Hund das Haus und ging auf einen schwarzen Kombi zu, der auf einem Stellplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Zuerst öffnete er die Heckklappe und sein Hund sprang in den Gepäckraum. Dann stieg der Mann ein und fuhr davon. Jetzt hatte ich seine Autonummer, mit deren Hilfe sich die Identität des Mannes klären lassen sollte. Noch vor ein paar Jahren war es für mich ein leichtes gewesen den Halter eines Kraftfahrzeugs und damit verbunden viele andere persönliche Details zu ermitteln. Heute benötigte ich dazu Hilfe. Aber in der Firma konnte ich kaum noch jemand fragen. Nachdem sich diverse meiner ehemaligen Kollegen in den Romanfiguren meiner Bücher wiedererkannt hatten und sie dabei, nach ihrer Auffassung, nicht sonderlich gut weggekommen waren, herrschte vorsichtig ausgedrückt eine gewisse Verstimmung zwischen ihnen und mir. Auch Geraldine wollte ich nicht unbedingt fragen. Wahrscheinlich hätte sie mir, unter Hinweis auf unzählige Vorschriften, ohnehin nicht geholfen hätte. Somit blieb nur die Sekretärin des Direktors. Sie war der Prototyp eines Vorzimmerdrachen, den alle außer mir fürchteten. Gekleidet mit stets perfekt weißer Bluse zu einem konservativ dunkelgrauen Kostüm, dass an ihren farbenfrohen Tagen gerne auch einmal dunkelblau sein durfte, halbhohen Schuhen und der unvermeidlichen Hornbrille an einer Kette, regierte sie mit eiserner Hand nicht nur das Vorzimmer des Direktors, sondern insgeheim die halbe Firma. Irgendwie musste es mir gelungen sein, ihre mütterlichen Gefühle für mich zu wecken. In meiner aktiven Zeit bewahrte sie mich mehrfach vor Konsequenzen, wenn ich wieder einmal Anweisungen nicht die notwendige Beachtung geschenkt oder Dienstwege radikal abgekürzt hatte. Während der Arbeit an meinem letzten Buch hatte sie mir die eine oder andere interessante Information über aktuelle Vorgänge in der Firma zu kommen lassen. Allerdings verbunden mit dem nachdrücklichen Hinweis, dass sie mir in Zukunft nicht mehr helfen werde. Mittlerweile war sie Anfang 60 und stand etwa zwei Jahre vor ihrem wohlverdienten Ruhestand. Auf die Sekunde genau, Punkt 16 Uhr pflegte sie, nachdem sie zuvor ihr Büro von Besuchern leergeräumt hatte und sich weitere Störungen für die nächsten 15 Minuten verbat, üblicherweise ihren Nachmittagstee zu trinken. Diese, ihr heilige Ruhe ignorierend rief ich sie in der Hoffnung an, sie würde sich über meinen Anruf freuen und mir, anders als sie damals sagte, doch behilflich sein. Ich eröffnete das Gespräch mit den üblichen Höflichkeitsfloskeln, erkundigte mich nach ihren Kindern, ihrem Mann und überaus wichtig nach ihrer Katze. Wir plauderten etwa 10 Minuten, als ich ihr gestand, dass ich eine Halterfeststellung für einen Freund benötigte, der seine Frau im Verdacht hatte ihn zu betrügen. In diesem Zusammenhang sei ihm immer wieder ein bestimmtes Fahrzeug aufgefallen. Da ich ihre konservativen Wertvorstellungen kannte, die für Betrug am Ehepartner, wenn zudem Kinder im Spiel waren, die ich ebenso frei erfunden hatte, keinen Raum ließen, gelang es mir mit Hilfe gut gewählter Argumente in eben diese Richtung und dem mehrfachen Hinweis, dass es nicht um mich ging, sondern um einen möglicherweise betrogenen Familienvater, letztlich doch sie dazu zu bewegen, den Halter des Fahrzeugs festzustellen. Es dauerte einen ungewöhnlichen langen Moment bis sie mir die Daten, mit dem, ihrer Stimmlage nach zu schließenden, ernstgemeinten Hinweis, dass dies das allerletzte Mal gewesen sei, dass sie mir geholfen hatte, mitteilte. Dann beendete sie das Gespräch abrupt. Jetzt hatte ich endlich den Namen des Mannes sowie einige andere wichtige Informationen. Ich setzte mich umgehend an meinen Computer und fütterte diverse Suchmaschinen mit seinem Namen, in der Hoffnung auf diese Art noch mehr über den Mann zu erfahren. Zuerst erschienen die üblichen Treffer aus den sozialen Netzwerken, in denen heutzutage fast jeder Mitglied ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die ihre Profile weitgehend öffentlich zugänglich ließen, hatte der Mann äußerst restriktive Einstellungen gewählt. Es dauerte eine Zeit, bis ich weitere Details über sein Leben herausgefunden hatte. Nach einer Weile hatte ich in Erfahrung gebracht, auf welche Schule er gegangen war und wo er jetzt arbeitete. Schließlich entdeckte noch ein paar, wenn auch weniger aktuelle Bilder von ihm. Alle diese Informationen zeichneten das Bild, eines normalen, durchschnittlichen Lebens, lieferten aber nicht den geringsten Anhaltspunkt, der mir bei der Entschlüsselung dieses Satzes in irgendeiner Form hilfreich gewesen wäre.

   Später am Abend, nachdem ich  mit ein paar Freunden in einem Restaurant essen war, setzte ich mich an meinem Schreibtisch und begann alles aufzuschreiben, was ich über den Mann bislang erfahren hatte. Ich wusste jetzt, dass er das C in diesem eingeritzten Herz war. Ich kannte seinen Namen, seinen Geburtstag und seine Adresse, sogar der Name seines Hundes war mir wieder eingefallen. Ich wusste, auf welche Schule er gegangen war, dass er neben diesem Kombi noch ein kleines Cabrio besaß, eine Katze hatte und wo er arbeitete. Wer das I war, wie sie hieß, was sie machte, wo sie wohnte und vor allem, warum die Beziehung bald enden sollte, wusste ich nicht. Natürlich hätte ich versuchen können Kontakt zu dem Mann aufzubauen, mich aus meiner Deckung zu wagen. Aber einen derart guten Kontakt aufzubauen, dass der Mann mir erzählt, was es mit diesem Satz auf sich hatte, hätte Wochen, wenn nicht Monate in Anspruch genommen. Zeit, die ich nicht hatte. Zudem mangelte mir es, im Gegensatz zu früher, hin und wieder an Geduld. Überdies und darin hatte ich jahrelange Erfahrung, erzählen Menschen nie alles. Sie behalten immer etwas zurück. Etwas, das ihnen peinlich ist, das Schwäche offenbart, oder das sie ganz besonders schützen wollen. Eine der wichtigsten Lektionen, die mir während meiner Ausbildung in der Firma beigebracht wurde, war sich niemals auf Aussagen von Menschen zu verlassen, sondern erst zu urteilen, wenn man alle Tatsachen kennt und überprüft hat. Mir wurde bewusst, dass ich einen ganz anderen Weg suchen musste, um an weitere Informationen über das Leben des Mannes und die damit hoffentlich verbundenen Hintergründe seiner Aussage zu kommen und dass der einzige Weg um an diese Informationen zu kommen illegal war. Früher war das etwas, das mich nicht gekümmert hat. Wir stecken unsere Nasen, ob legal oder illegal und für die Öffentlichkeit fast ausnahmslos im Verborgenen in sämtliche Dinge, die für die Firma interessant und nützlich sein konnten. Telefone abhören, E-Mails und SMS mitlesen, Computer überwachen, Bewegungsmuster erstellen, all das war jahrelange Normalität. Aber heute war ich eine Privatperson. Jemand ohne besondere Rechte, ohne Rückendeckung einer Regierung oder einer Behörde und leider auch ohne deren technisch hochentwickelten Möglichkeiten. Ich hatte nur das Gefühl, hier einer ganz besonderen Geschichte auf die Spur gekommen zu sein.

    Die nächsten Tage verbrachte ich damit immer wieder abzuwägen, ob es eine gute Geschichte erlaubt, wenn sie es denn überhaupt war, die Grenzen der Gesetzte zu überschreiten und wenn ja, wie weit. Währenddessen beobachtete ich den Mann weiter in der Hoffnung etwas würde passieren, dass diesen merkwürdigen Satz erklären würde. Aber es geschah nichts. Gleichförmig setzte sich sein Leben fort. Jeden Tag gegen sieben Uhr ging er mit seinem Hund in dem alten Park spazieren und kehrte nach etwa einer Stunde wieder zurück.

   Vielleicht war es die Flasche Wein, die ich an diesem Abend getrunken hatte, viel wahrscheinlicher aber war es meine grenzenlose Neugier, welche mich schlussendlich dazu bewog, mich für den illegalen Weg zu entscheiden. Dank meiner Ausbildung und ein paar kleinen, rechtzeitig beiseite geschafften Utensilien und Computerprogrammen hatte ich die Möglichkeiten mir Zugriff auf beinahe jeden Computer zu verschaffen. Der einfachste Weg dabei war sich in den heute fast in jedem Haushalt vorzufindenden WLAN-Router zu hacken und über diesen auf den Computer zuzugreifen. Computer verraten eine Menge über ihren Benutzer, meist weitaus mehr, als sich die im Allgemeinen überwiegend unbedarften Benutzer vorstellen können und ich war mir sicher, dass sich auch im Haushalt des Mannes ein Funknetzwerk befinden wird. Am darauffolgenden Nachmittag griff meinen Laptop, setzte mich in meinen BMW, dem unauffälligsten meiner Autos und fuhr zu seinem Haus. Erfreulicherweise war direkt vor seinem Haus ein Parkplatz frei. Da ich direkt unterhalb seiner Wohnung geparkt hatte sollte es sich bei dem WLAN mit der größten Feldstärke um seines handeln. Mit Hilfe einer Software scannte ich die verschiedenen Funknetze und maß deren Feldstärke. Das Programm fand zwei annähernd gleichstarke Funknetze in meiner direkten Umgebung. Der Mann hatte es mir einfach gemacht herauszufinden, welches dieser beiden Funknetze seines war. Eines der Funknetze trug den Namen seines Hundes, während das andere noch die werksseitig vorgegebene Modellbezeichnung des Routers übermittelte. Ich ging so vor, wie ich es in meiner Ausbildung gelernt und in der Praxis oft genug angewandt hatte. Ein paar Augenblicke später hatte ich, trotz der WPA2 Verschlüsselung, die gemeinhin als sicher bezeichnet wird, Zugriff auf seinen Router. Es handelte sich um ein aktuelles Modell eines namhaften Herstellers, welches viele komfortable Funktionen bot und unter anderem in der Lage war, die an ihn angeschlossenen Computer, wenn sich im Standby oder Ruhezustand befanden, wecken zu können. Ich überprüfte die Liste der im Router verzeichneten Computer. Nach meiner Erfahrung befanden sich in einem Singlehaushalt allerhöchsten zwei Computer, sowie ein Smartphone. In manchen Fällen noch ein Laptop oder Tablet. Letztere konnten, wie Smartphones ebenfalls, aufgrund ihres Namens, meist der Typbezeichnung des Herstellers, die kaum jemand änderte, größtenteils eindeutig als solche identifiziert werden. Im Netz des Mannes befanden sich aber bemerkenswerte 9 Computer und 5 Smartphones, die aber alle als inaktiv gekennzeichnet und somit ausgeschalten waren oder sich in einem Energiesparmodus befanden. Fünf Computer waren ihrer Kennzeichnung im Router zufolge mit Kabel angebunden, was darauf schließen ließ, dass es sich um PCs handeln musste. Bis auf einen, bei dem es sich auf Grund seines Namens um einen kleinen Server handeln musste, trugen alle eine dem Film „2001: Odyssee im Weltraum“ entliehene durchnummerierte Bezeichnungen. Ich überlegte kurz, welche Systematik hinter den Bezeichnungen der PCs stecken konnte. In diesem Film trägt der Computer, der das Raumschiff steuert den Namen HAL9000. Ein Name, der durch eine Dekrementation entstanden war.   In Anlehnung an den Markennamen des damals größten Computerhersteller wurden die Buchstaben jeweils durch den im Alphabet vorhergehenden ersetzt. Es war fast zwingend, dass der Computer mit dem Namen HAL9000 der wichtigste PC sein musste. Dank der bei neuen Computern beinahe fehlerfrei funktionierenden Energiesparmodi fuhren viele Benutzer ihre Rechner nicht mehr herunter, wie es viele Jahre lang üblich gewesen war, sondern schickten diese schlafen, sobald sie ihre Arbeit beendet hatten. Oder die Computer gehen nach einer festgelegten Zeitspanne in der nicht an ihnen gearbeitet wird automatisch schlafen. Ich stellte mein Glück auf die Probe und versuchte den Computer über diese Funktion des Routers zu reaktivieren. Nach wenigen Sekunden wurde der Computer als aktiv in der Liste des Routers gekennzeichnet. Nun war es für mich ein leichtes auf diesem Computer eine Software zu installieren, die von keinem handelsüblichen Antivirus oder Antimalware-Programm dieser Welt erkannt werden konnte. Mit dessen Hilfe war ich in der Lage seinen Computer jederzeit von meinem Rechner aus zu starten und über eine integrierte Remotefunktion hatte ich Zugriff auf alle seine Dateien. Zufrieden mit dem Ergebnis meiner strafrechtlich relevanten Vorgehensweise startete ich den Motor und machte mich auf den Heimweg. Warum ich mich zuhause nicht sofort in seinen Computer einloggte, konnte nicht sagen. Möglicherweise überkamen mich doch Skrupel vor dem Eindringen in seine Privatsphäre. Jedenfalls begnügte ich mich an diesem Tag mit dem Wissen, es jederzeit tun zu können.

   In der folgenden Woche hatte ich einige Termine außerhalb. Ich legte diese Termine gerne in eine Woche, damit ich nicht mehrere zerrissene Wochen nacheinander hatte. Als ich Samstagmittag wieder zurückkehrte, stellte ich fest, dass mein Kühlschrank nahezu leer war und ich für das Wochenende dringend noch einkaufen gehen musste. Ein Einkaufzentrum, in dem sich unter anderem ein größerer Supermarkt befindet, lag nur 10 Gehminuten von meinem Haus entfernt. Auf die mir verhasste Parkplatzsuche verzichtend, ging ich den kurzen Weg zu Fuß. Auf dem Rückweg geschah dann endlich das, worauf ich schon seit Wochen gewartet hatte. Mir begegnete der Mann mit dem Hund in Begleitung einer Frau und einem großen schwarzen Hund, der zu ihr gehören musste. Es war eine attraktive, schlanke Frau, um die Vierzig mit langen blonden Haaren. Der Typ Frau, nach dem sich fast alle Männer umdrehen. Die beiden kamen mir Hand in Hand entgegen und ich war mir sicher, sie musste das I in diesem Herz sein. Zweifelsfrei konnte es sich bei dieser Frau nur um seine Freundin handeln. Endlich hatte ich ein Gesicht und sie war nicht länger nur ein Buchstabe. Um nicht Gefahr zu laufen, dass er mich wiedererkennen würde, wandte ich meinen Kopf zur Seite, bevor ich die beiden passierte. Ein paar Schritte nach dem ich an ihnen vorbeigegangen war, machte ich kehrt und folgte ihnen in sicherem Abstand, mit der nicht gerade unauffälligen Einkaufstüte in meiner Hand. Offensichtlich kamen sie mit ihren Hunden aus dem Park und befanden auf dem Weg zu seiner Wohnung. 20 Meter vor dem Eingang in den Hof des Hauses blieben sie hinter einer in auffälligem braun lackierten Limousine stehen, umarmten und küssten sich. Der normale Abschied eines Paares. Nichts Besonders oder Außergewöhnliches war zu erkennen. Dann stieg sie mit dem schwarzen Hund in das Fahrzeug und fuhr davon. Ich merkte mir Fahrzeugtyp und Kennzeichen in der Hoffnung später damit irgendwie die Identität der Frau klären zu können. Zu meinem Leidwesen hatte ich mich mit dem Anruf bei der Sekretärin meines ehemaligen Chefs vor wenigen Tage der letzten Möglichkeit eine Halterabfrage durchführen zu können beraubt und ich hatte keine Idee, wie ich herausfinden sollte, wer diese Frau war.

   Zufrieden und irgendwie doch nicht, machte ich mich auf den Heimweg. Zuhause angekommen räumte ich zuerst meine Einkäufe in den Kühlschrank und machte mir einen Kaffee. Anschließend legte ich mich auf mein Sofa und ließ das gesehene noch einmal Revue passieren. Ich hatte nicht den Eindruck gewonnen, als wollte die Frau die Beziehung in naher Zukunft beenden, eher im Gegenteil. Sie machte einen glücklichen Eindruck auf mich, während ich bei dem Mann das Gefühl hatte, dass er bedrückt wirkte. Es war das erste Mal, dass ich diesen Eindruck von dem Mann gewonnen hatte. Während all den Spaziergängen mit seinen Hundebekanntschaften hatte er nie diesen Eindruck bei mir hinterlassen. Aber Eindrücke können täuschen. Im Kopf begann ich diverse Möglichkeiten durchzuspielen, die mir einigermaßen sinnvoll erschienen. Betrog er sie vielleicht und hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, weil er davon ausgehen musste, sie würde früher oder später dahinterkommen? Sicher, eine plausible Theorie. Nur welcher Mann würde eine solche Frau betrügen? Das Gros der Männer träumt wahrscheinlich von so einer Frau. Sollte man das Glück haben, eine solch attraktive Frau abzubekommen, würde kein Mann mit einem Funken Verstand die Beziehung für ein bisschen Spaß nebenbei einem derart unnützen Risiko aussetzen. Nach meiner Erfahrung war es eher wahrscheinlich, dass sie ihn betrog. Mit einem Mann, der mehr Geld hatte, besser aussah oder vielleicht jünger war. Insgeheim wusste er davon und sie ahnte, dass er einen Verdacht hatte. Um keinen Argwohn zu erregen überspielte sie ihr mutmaßlich schlechtes Gewissen mit dieser auffälliger Freude in seiner Nähe zu sein. Natürlich war mir klar, dass ich mich außer von rein optischen Gesichtspunkten von einer Handvoll Klischees und Vorurteilen leiten ließ. Doch sie waren das Einzige, was ich zu diesem Zeitpunkt hatte. Sicher war ich mir nur damit, dass aufgrund dieser ungewöhnlichen Aussage des Mannes auf dieser Beziehung ein schwerwiegendes Problem lasten musste.

   Indes war es Abend geworden. Ich lag noch immer auf meinem Sofa und grübelte weiter im Wissen, der Lösung so nicht den geringsten Schritt näher zu kommen, als mich das Leuten der Türklingel hochschrecken ließ. Ich erwartete heute keinen Besuch. Mich fragend, wer mich aus meinen Gedankenspielen gerissen hatte, ging ich zur Tür. Die Videosprechanlage, die zu den Dingen in meinem Haus zählte, die noch immer nicht funktionierten, zwang mich die Haustüre zu öffnen. Das orange Licht der Straßenbeleuchtung schimmerte durch den aufgezogenen Nebel noch fahler als sonst und zeichnete die Umrisse einer männlichen Person ab, die meine Auffahrt heraufkam. Eine Person, die ich nur zu gut kannte. Es war einer meiner früheren Ausbilder. Ich hatte ihn seit meinem Ausscheiden aus der Firma nicht mehr gesehen und freute mich, dass er mich unerwartet besuchen kam.
„Ich frage Sie jetzt nicht, woher Sie meine neue Adresse haben“, scherzte ich zur Begrüßung. „Kommen Sie rein“
Er entgegnete verschmitzt lächelnd:
„Sie wissen ja, wir verfügen da über die eine oder andere Möglichkeit. Ich hatte dienstlich hier zu tun und wollte mal sehen, was aus einem meiner besten Männer geworden ist.“
Ich fragte ihn, ob er schon gegessen hatte. Er verneinte die Frage. Wir gingen in die Küche und während ich uns eine Kleinigkeit zu Essen kochte, bemerkte er:
„Wenn ich mich hier umschaue, muss ich Sie nicht fragen, wie es Ihnen geht.“
Wir unterhielten uns den ganzen Abend über allerlei Unwichtigkeiten und längst Vergangenes, bis er wissen wollte, ob ich plane ein neues Buch zu schreiben. Ich überlegte kurz ob und wenn ja was ich ihm sagen sollte. Mir war alles noch zu unsicher. Die Geschichte des Mannes konnte immer noch eine Banalität des Lebens, nichts Besonderes oder Außergewöhnliches sein. Zudem konnte ich mir vorstellen, dass er von einem neuen Buch gewiss eine weitere spannende Geschichte aus meinem früheren Leben erwartete und mit Sicherheit nicht das, woran ich im Augenblick dachte. Schnell erkannte ich jedoch, dass wenn ich es geschickt anstellte, dieser unerwartete Besuch die erhoffte Möglichkeit sein konnte, über das Kennzeichen des Fahrzeugs der Frau herausfinden, um wen es sich bei ihr handelt.
„Ja tue ich. Mehr will ich im Augenblick nicht verraten. Aber wenn wir schon dabei sind, Sie könnten mir einen Gefallen tun.“
„Gerne, wenn es beim Schreiben hilft. Was kann ich tun?“
Ich erklärte ihm, dass ich aus Gründen, die ich nicht näher ausführen könnte eine Halterabfrage benötigte und ich mich damit nicht unbedingt an die alten Kollegen aus der Firma wenden wollte.
„Geben Sie mir einfach die Autonummer und morgen haben Sie den Halter“, antwortete er ohne Umschweife.
Wieder einmal, wie so oft in meinem Leben, hatte ich unglaubliches Glück gehabt. Noch vor ein paar Stunden hatte mich die Identität seiner Freundin vor ein schier unlösbares Rätsel gestellt. Wir tranken noch zwei Gläser Wein und unterhielten uns ein wenig sentimental über vergangene Zeiten, bis er gegen Mitternacht aufbrach.

   Während ich noch kurz die Küche aufräumte, kam mir das Gesehene des heutigen Nachmittags wieder in den Sinn. Was hatte ich auf der Suche nach der ganz anderen Geschichte wirklich gesehen und was hatte ich mir eingebildet. Diese Gedanken ließen mir keine Ruhe mehr und anstatt ins Bett zu gehen, setzte ich mich an meinem Computer. Die Skrupel der letzter Tage waren plötzlich wie wegblasen. Womöglich deshalb, weil ich mit den Halterabfragen die Grenzen der Legalität schon längst überschritten hatte. Nach wenigen Sekunden hatte ich Zugriff auf dem Computer des Mannes. Ich fing an seine Dateien zu durchforsten. Zwanzig Minuten klickte ich mich durch Ordner mit Fotos, unzähligen Filmen, Serien und Dokumentationen, endlosen Mengen von Musik und anderem uninteressantem, bis ich auf einen passwortgeschützten Ordner stieß. Verbarg er das, wonach ich suchte? Ohne zu wissen, was ich eigentlich suchte. Es dauerte eine Zeit, bis ich den Schutz geknackt hatte. Endlich am Ziel war ich über den Inhalt ziemlich erstaunt. Dieser Ordner beinhaltete unzählige Unterordner, die nach Jahren sortiert waren. Ich öffnete parallel die Ordner mit der Bezeichnung 2011 und 2012. Diese enthielten jeweils vier Unterordner mit den kryptischen Bezeichnungen Q1 bis Q4. In diesen befand sich je ein großes Worddokument, welches die Bezeichnung des vorangestellten Ordners, also Q1 bis Q4 trug.  Ich schloss diese beiden Ordner wieder und schaute mich weiter um. Außer diesen nach Jahren sortierten Ordnern, gab es auch noch einen weiteren Ordner, der die Standardbezeichnung „Neuer Ordner“ trug. In diesem befanden sich viele, ihrer Größe nach zu schließen, kleiner Worddokumente, die nicht mein Interesse weckten. Interessanter schien der Inhalt dieser nach Jahren sortierten Ordner zu sein. Ohne lange zu überlegen öffnete ich den Ordner 2012, dann den Unterordner Q1 und zum Schluss das sich darin befindliche Worddokument. Ich konnte kaum fassen auf was ich gestoßen war. Hätte mir zuvor jemand gesagt, dass ich die Tagebücher des Mannes finden würde, ich hätte ihn ausgelacht. Niemand den ich kannte führte in der heutigen Zeit noch ein Tagebuch. Wie wahrscheinlich war es also, dass der Mann ein Tagebuch führte? Ziemlich unwahrscheinlich. Aber es waren die Tagebücher des Mannes. Ich stand auf, holte mir ein Glas Whisky und eine meiner geliebten Cohibas, setzte mich wieder und begann zu lesen. Obwohl der Mann mir bei unserer Begegnung gesagte hatte, dass ihre Beziehung etwa anderthalb Jahre alt war, was bedeutete, dass sie seit April oder Mai 2011 ein Paar waren, war ich der Überzeugung, das Lesen seiner Tagebücher aus dem laufenden Jahr würde genügen, um den Grund für diesen Satz zu erfahren. Nach dem Lesen der ersten Seiten seiner Aufzeichnungen aus dem Januar war mir klar, dass sich die Beiden schon länger kennen mussten und dies nicht ihre erste Beziehung sein konnte. Ich erfuhr einiges über die Beiden. Unter anderem, dass ihre Beziehung ungewöhnlich und von diversen Schwierigkeiten gekennzeichnet war. Jedoch nicht von solchen, die einen derartigen Satz zur Folge haben mussten. Die halbe Nacht verbrachte ich mit lesen der Monate Januar und Februar und dem Versuch, mich in den Mann und seine Gedankenwelt hineinzudenken, bis ich schließlich so müde war, dass ich über meinem Schreibtisch einschlief.

   Ich erwachte am nächsten Morgen mit steifem Nacken und schwerem Kopf. Es war bereits deutlich nach 10 Uhr. Müde wankte ich in die Küche und setzte Kaffee auf. Die Zeit, bis der Kaffee durchgelaufen war, nutzte ich zum Duschen. Zurück in der Küche dachte ich, während ich meinen ersten Kaffee trank, über das Gelesene nach. Ich hatte erfahren, dass seine Freundin einen russischen Vornamen hatte, den der Mann aber nur ein einziges Mal in seinem Tagebuch benutzt hatte und sie sonst ausschließlich, mir viel zu romantisch, Sonnenschein nannte. Dass er an jedem 14. des Monats zu einem Tierfriedhof fuhr, auf dem sein vorheriger Hund begraben liegt, dass er zu diesem Tier eine ganz besondere Verbindung gehabt haben musste und er seiner Freundin von diesen Besuchen nie etwas erzählt hatte. Überhaupt erschien vieles an dieser Beziehung nach allgemeingültigen Maßstäben eigentümlich. Zum Beispiel die Tatsache, dass sie sich seinen Aufzeichnungen zufolge nie sahen und lediglich E-Mails austauschten. Selbst an ihrem Geburtstag, Anfang Februar, hatten sich die beiden nicht gesehen und schenkte man seinem Tagebuch Glauben, noch nicht einmal miteinander telefoniert. Anhand seines Eintrags über diesen 3. Februar ließ sich zwar nicht abschließend beurteilen, ob der Mann seine Freundin nicht anrufen wollte oder sie von ihm nicht angerufen werden wollte. Eines aber wurde deutlich. Der Verlauf dieses Tages war dem Mann sehr nahegegangen. Sogar mir, der auf allzu viel Nähe zu seiner Freundin keinen gesteigerten Wert legt, wäre das zu wenig gewesen. Nüchtern betrachtet waren sie nicht mehr als zwei Menschen, die sich täglich E-Mails schrieben, ansonsten aber nichts gemeinsam unternahmen. Ich an seiner Stelle, wie mit Sicherheit jeder andere vernünftige Mensch auch, hätte diese Beziehung, die diesen Ausdruck nicht verdient hatte, umgehend beendet. Dennoch er hatte es bislang nicht getan.

   Nach dem Frühstück, das genau genommen schon ein verfrühtes Mittagessen war, setzte ich mich wieder an meinen Computer und loggte mich erneut in den Rechner des Mannes ein. Obwohl ich seinen Namen kannte, hatte ich mir angewöhnt, sobald ich mich mit ihm beschäftigte, ihn nur den Mann oder den Mann mit dem Hund zu nennen. Dieses Vorgehen ging auf ein jahrelang trainiertes Verhaltensmuster zurück. Nur hatte ich den Ausdruck Zielperson jetzt durch diese Ausdrücke ersetzt. Es war der Versuch ihn zu entpersonalisieren, um mir so die notwendige emotionale Distanz zu verschaffen, während ich von ihm unbemerkt weiter in seinem Leben herumstocherte. Die Einträge des März und fast der gesamten ersten Hälfte des Aprils beschrieben weiter jenen Zustand, der schon im Januar vorherrschte. Beinahe täglich beschäftigte sich der Mann in seinem Tagebuch mit der Frage, was er tun könnte, um sie nicht zu verlieren. Gleichzeitig schrieb er davon, dass er begonnen hatte seine Wohnung zu renovieren. Es schien ihm dabei äußerst wichtig zu sein, dass seine Freundin sich in der renovierten Wohnung wohlfühlen würde. Als ich im Frühjahr begonnen hatte mich mit der Einrichtung meines Hauses zu beschäftigten, kümmerte mich ausschließlich die Frage, ob mir das gefällt. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, mich bei der Auswahl der Teppiche auch vom Geschmack meiner damaligen Freundin leiten zu lassen. Aber genau das tat der Mann. Er suchte nach dem bestmöglichen Kompromiss zwischen seinem und ihrem Geschmack. Fast so, als wollte er ihr ein Stück zuhause geben, in dem sie sich geborgen fühlen konnte. Eine Idee, die mir in Anbetracht der Tatsache, dass beide sich nie sahen vollkommen widersinnig erschien. Ein Eintrag über die Renovierungsarbeiten stach mir dabei besonders ins Auge. Der Mann schrieb ausführlich über die Beleuchtung in seinem Badezimmer. Seine Freundin hatte bemängelt, dass die Beleuchtung zum Schminken unzureichend sei und das wollte er nach ihren Wünschen ändern. Es musste also eine Zeit gegeben haben, in der sie wenigstens ab und zu bei ihm übernachtet hatte. Noch ungewöhnlicher als die Motive, die ihn bei seiner Renovierung leiteten, war die Tatsache, dass er ihr gegenüber die Renovierung offensichtlich überhaupt nicht erwähnte. Als sollte diese eine große Überraschung für sie werden. Ich trennte die Remoteverbindung zu seinem Computer und machte mich auf den Weg in meine Küche, als mein Handy läutete. Es war der erwartete Anruf meines ehemaligen Ausbilders. Er mir teilte mir mit, dass das Fahrzeug auf eine Firma zugelassen sei und der Nutzer des Fahrzeugs sich somit nicht ohne weiteres feststellen ließ. Ich bedankte mich für seine Hilfe und ging ein wenig enttäuscht in meine Küche. Ich kannte den Namen dieses Unternehmens. Es handelte sich um eine französische Firma. Noch vor ein paar Jahren zählte UDU-Trends zu den Topmarken, war jedoch heute, zumindest soweit ich das beurteilen konnte, Hierzulande weitgehend in der Bedeutungslosigkeit versunken. Sie arbeite also bei einer Modefirma und die Größe ihres Autos legte den Schluss nahe, dass sie dort eine leitende Position innehaben musste. Mit dieser wenig hilfreichen Information begann ich das Abendessen vorzubereiten. Ich erwartete an diesem Abend Maria und hatte außer einem gemeinsamen Abendessen nur noch eine ganz bestimmte Erwartung an den weiteren Verlauf dieses Abends.

   Wir erwachten am nächsten Morgen erst gegen 10 Uhr. Maria hatte ihre beiden ersten Vorlesungen verschlafen und ich den Morgenspaziergang des Mannes. Da Maria bislang keinerlei Anstalten unternommen hatte, die ich im Keim hätte ersticken müssen, ihr Revier durch das Deponieren irgendwelche Utensilien in meinem Bad zu markieren, musste auch die zumeist ausufernde weibliche Morgentoilette ausfallen. Nach einem kurzen Frühstück aus Tee und Zigaretten brach Maria zur Universität auf, während ich in aller Ruhe meinen Kaffee trank und Zeitung las. So schön die Nächte mit Maria waren, aber länger als zum Frühstück musste ich sie nicht unbedingt in meinem Haus haben. Nach einer ausgiebigen Dusche wandte ich mich wieder dem Tagebuch des Mannes zu. Seine Aufzeichnungen zu Beginn des Mai gingen nahtlos damit weiter, womit sie im April aufgehört hatten. Mit einer Beziehung die im Sterben lag. Aus den täglichen E-Mails morgens und abends, die die beiden bis vor einigen Tagen geschrieben hatten, waren nun vereinzelte, zum Teil mit drei Tagen Abstand geworden. An einem Tag Anfang Mai schrieb er, dass sie ihn wissen lassen hatte, dass sie in ihrem Verhältnis im besten Fall noch Freundschaft sehen würde. Freunde, die sich ab und zu E-Mails schrieben. Laß uns Freunde bleiben. Wie oft wurde dieser Satz am Ende einer Beziehung wohl schon bemüht? Auch ich hatte ihn des Öfteren am Ende einer Beziehung gesagt, aber nie gemeint. Außer bei Geraldine. Sie war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Aber bei Geraldine war ohnehin alles anders, als bei meinen anderen Freundinnen. Sie war die einzige Frau, mit der ich sogar mehrfach ein Verhältnis hatte und mit der ich am Ende trotzdem befreundet blieb.

   Aufgrund des späten Frühstücks ließ ich mein Mittagessen ausfallen und setzte meine Arbeit, gespannt darauf, wie sich die Geschichte weiterentwickelte, mit dem Lesen seines Tagebuchs aus der zweiten Hälfte des Mai fort. Der Mann notierte, dass sie ihm weiter, wenn auch in loser Folge, E-Mails schrieb und sich nach seinem Befinden erkundigte. Seinen Aufzeichnungen zufolge empfand der Mann ihr Verhalten als reichlich ungewöhnlich und widersprüchlich. Er konnte sich das nur so erklären, dass sie in Wahrheit ebenfalls an der Fortführung dieser Beziehung interessiert war, dies aber nicht zugeben konnte oder wollte. In der Folgezeit setzte sich diese ungewöhnliche Kommunikation fort, bis der Mann am 26. Mai entschied, ihr vorerst nicht mehr zu antworteten. Er schrieb darüber in seinem Tagebuch:

„…ich habe heute eine Mail von ihr bekommen, die ich nicht beantwortet habe und ich werde das auch bis Sonntag nicht tun. Wenn wir nur Freunde sind, werden ihr diese 6 Tage nichts ausmachen. Was aber wenn es doch noch mehr ist? Es fällt mir unglaublich schwer, diese Mail nicht zu beantworten. Ich liebe sie viel zu sehr, um solche Wege gehen zu müssen. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Sie ist eine wundervolle Frau, die ich um nichts in der Welt verlieren möchte“

Auf den ersten Blick mutete sein Verhalten kindisch an und mir erschloss sich nicht, was er damit bezwecken wollte. Trotz seiner ausgebliebenen Antworten erkundigte sie sich laut seinem Tagebuch, immer wieder, wo er war, was er tat und wie es ihm ging. Sie ließ den Kontakt, anders als üblicherweise nach einer Trennung, auch wenn diese zwischen den beiden nicht ausgesprochen wurde, nie völlig abreisen, sondern erhielt ihn aufrecht. In der zweiten Juniwoche begann der Mann den Kontakt seinerseits zu intensivieren, während er sich in seinem Tagebuch weiter mit ihren E-Mails und deren teils sehr widersprüchlichem Inhalt beschäftigte. Er schrieb über Fehler, die er in dieser Beziehung gemacht hatte und setzte sich ausführlich mit ihnen auseinander. Ihm war klargeworden, dass sie den großen Freiraum, welchen er ihr gelassen hatte, gründlich missverstanden haben musste. Bedingt durch ihren anstrengenden Beruf, der sie die ganze Woche über von einer Stadt zur anderen scheuchte, hatte sie kaum Zeit sich zu erholen, geschweige denn sich um ihre Familie oder Freunde zu kümmern und er wollte nicht, dass sie sich durch die Beziehung noch zusätzlich unter Druck gesetzt fühlte. Eine gut gemeinte Absicht, die sie aber als Desinteresse an ihrer Person und an der Beziehung wahrnahm. Mein Großvater, der klügste und weiseste Mensch, den ich in meinem Leben kennen gelernt hatte, sagte zu solchen Fällen gerne, das gut gemeint nicht immer gut gemacht ist. Seine Hoffnung, die Beziehung könnte noch nicht ganz am Ende sein, wurde in diesen Tagen immer greifbarer und manifestierte in dem Entschluss, ihr ganz altmodisch in einem Brief zu schreiben. Einen Brief, in dem er ihr schreiben wollte, wie er sie sah und was sie ihm bedeutete. Ich las diese Zeilen voller Freude. Ein altmodischer Brief. Ein Anachronismus in unserer digitalen Zeit. Tagelang schrieb der Mann in seinem Tagebuch über diesen Brief. Wie er nach Worten suchte, um die richtigen Formulierungen rang, die jedwedes Missverständnis oder Fehlinterpretation vermeiden sollten, aber auch darüber, die Kommunikation mit ihr einzustellen, bis dieser Brief fertig war, um weitere unbedachte E-Mails, egal von welcher Seite zu vermeiden. Am 26. Juni, als er den 8 Seiten langen Brief schließlich fertiggestellt hatte und ihn ihr, genauso konservativ per Post geschickt hatte, übertrug er den gesamten Brief in sein Tagebuch, als wollte er diesen unbedingt in seinem Zusammenhang erhalten. Eine Tatsache über die ich überaus dankbar war, ersparte mir dies eine umständliche Suche nach diesem Brief auf seinem PC. Bis zu diesem Brief hatte von dem Mann mit dem Hund den Eindruck gewonnen, dass er der Typ Mann ist, den ich gerne und durchaus abwertend gemeint, einen Frauenversteher nenne. Die Sorte moderner Mann, die um den lieben Friedenswillen lieber schweigt, als sich auf eine Auseinandersetzung mit ungewissen Ausgang einzulassen. Der jede weibliche Laune damit entschuldigt, dass Frauen ebenso sind und der Mann dafür Verständnis haben muss und letztlich alle Fehler bei sich sucht.  Der, wie die diversen Frauenzeitschriften nicht müde wurden zu propagieren, ideale Mann für die moderne, emanzipierte, berufstätige, erfolgreiche und selbstständige Frau. Doch dieser außerordentlich ungewöhnliche Brief veränderte meine Meinung über den Mann mit jeder Zeile die ich las.

„..in gewisser Form bin ich ein altmodischer, nostalgischer Mensch, der, wenn es sich um elementares handelt, lieber Briefe als Mails schreibt. Ein Brief hat viele Vorteile. Man kann ihn in der Hand halten, ihn fühlen, ihn immer wieder lesen. Aber man kann ihn auch zerknüllen, zerreißen, physisch seine Wut über den Inhalt auslassen.
Ein viel erhabeneres Gefühl als einfach eine Mail banal zu löschen.
Die letzten zehn Jahre habe ich mir allerdings die Mühe nicht mehr gemacht. Vielmehr habe ich den Kopf geschüttelt, mich abgewandt oder das Problem einfach auf die eine oder andere Weise entsorgt. Warum jetzt, warum bei Dir? Vielleicht, weil Du aus einer Zeit meines Lebens stammst, in der ich so etwas durchaus gemacht habe. Vielleicht weil mir Andere das nicht wert waren, oder es generell nicht mehr wert sind…“ „…Mir ist die Ironie, an der Grenze zum Zynismus, in deiner vorletzten Mail nicht entgangen. Dennoch habe ich zu diesem Zeitpunkt die Kommunikation abgewürgt. Ich wollte das Tempo reduzieren, mir die notwendige Zeit verschaffen für das, was Du jetzt in deinen Händen hältst und das Du sicher nicht mehr erwartet hast.“

„…Vermeidung und Annäherung, mit diesen beiden Emotionen erblicken wir das Licht der Welt und entwickeln daraus eine Vielfalt an Gefühlen, die unser Leben, zumeist auch unser Handeln bestimmen. Vermeidung und Annäherung, um genau das geht es.“

„Im Oktober 1962, auf dem Höhepunkt der Kubakrise erhielten die USA in kurzem Abstand zwei sich inhaltlich deutlich unterscheidende Telegramme aus der UdSSR. Das erste konstruktiv, auf Dialog gerichtet, das zweite schroff und abweisend. Dean Rusk und Robert McNamara besannen sich auf eine alte diplomatische Regel: Such Dir die aus, die besser geeignet ist eine Lösung herbeizuführen und ignoriere die andere.

Warum ich Dir das erzähle? Mir ging es in jüngster Zeit mit zwei Mails von Dir genauso. Sie behandeln das gleiche Thema, unterscheiden sich aber sowohl inhaltlich, als auch von der Wortwahl massiv.

Diplomatische Regeln haben ihre Gültigkeit genauso im Verhältnis der Menschen untereinander, wie in den Beziehungen von Staaten. Ich hätte nun dieser diplomatischen Regel folgend, eine der beiden Mails ignorieren und mir die geeignetere raussuchen können. Das jedoch hätte in keiner Weise zu vertretbaren Ergebnissen geführt, stehen doch beide in direktem Zusammenhang mit deinen Verhaltensmustern der letzten 15 Monate. Beide sind, jede auf ihre Art, die logische und offenkundig kaum vermeidbare Konsequenz.“

„Die erste Mail, ich nenne sie die Wozu-Mail fügt sich nahtlos ein, in das, was ich, in regelmäßig sich wiederholenden Abständen, beobachten konnte. Du hast, sicher nicht zu Unrecht, bemängelt wir haben nicht mehr geredet. Du hast immer mehr gearbeitet, dich mehr und mehr in Dir versteckt, während ich die richtigen Worte und den passenden Moment für suchte und eine halbe Ewigkeit nicht fand. Möglicherweise habe ich mit einigem Unrecht, oder interpretiere es falsch. Anderes wiederum wird für Dich neu sein und Dir möglicherweise bisher nicht gekannte Blickwinkel eröffnen…“

„Schließlich waren wir bei“ entfernte Bekannte“ angekommen, was deinem potentiellen Willen, bei vernünftiger Auslegung dieser E-Mail entspricht. Ich habe diese Entscheidung akzeptiert, wie ich übrigens alle deine Entscheidungen akzeptiert habe. Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass es der durchaus einfachere Weg ist, sich auf diese erste E-Mail zu beschränken.“

„Die zweite E-Mail, in der Wortwahl und Formulierung deutlich anders sind, steht aber genauso im Kontext deines Verhaltens der letzten 15 Monate…“

Ein ungewöhnlicher Anfang für einen Brief, in dem es um eine Beziehung und deren Probleme ging. Meist sind solche Briefe emotionsgeladen und bar jeder Logik. Doch dieser war klar strukturiert und sachlich. Der Mann hatte, in Anlehnung an die Kuba Krise, die Frage gestellt, welche Möglichkeiten im Umgang mit zwei sich widersprechenden Nachrichten bestehen und wie man mit einer Krise überhaupt umgeht. Ich musste zugeben, ein hervorragend gewähltes Beispiel, wenn es um die Frage ging, vernünftig zum Wohle aller Beteiligten zu handeln oder seinen Emotionen mit ungewissem Ausgang freien Lauf zu lassen. Der Mann musste ein ausgesprochen guter Beobachter sein, mit ausgeprägter Fähigkeit Vorgänge gut analysieren und lösen zu können.

„Du hast jetzt Einblicke in meine Erlebniswelt der letzten 15 Monate mit Dir bekommen. Offen, ehrlich, hoffentlich nie verletzend und ohne ein einziges, sei es auch noch so gut verstecktes böses Wort. Das war und ist nicht das Ende der Kommunikation, es sei denn, Du entscheidest, dass es, aus welchem Grund auch immer, für Dich besser ist. Wollte ich sie beenden, hättest Du ein Zeichen bekommen, welches ohne Worte eindeutig ist und das Du verstehen würdest“

Er beendete seinen Brief mit einer klaren und für sie unmissverständlichen Aussage. Dabei fiel mir besonders das Wort Erlebniswelt auf. Erlebnisse sind Eindrücke, die von außen auf einen Menschen wirken. Im Gegensatz zu Gefühlen, die von innen wirken. Ich war mir sicher, dass der Mann diesen Ausdruck nicht zufällig oder unbedacht gewählt hatte. Irgendetwas musste mit dieser Wahl auf sich haben. Warum fehlten die Gefühle, die der Mann während der letzten Wochen hatte in diesem Brief und von welchem Zeichen hatte er geschrieben?

   Der folgende Tag startete mit einem Termin bei der Baubehörde. Sie hatte Anstoß daran genommen, dass die neuen Ziegel auf dem Dach meines Hauses nicht rot, wie in dieser Gegend üblich, sondern schwarz waren. Der darauffolgende monatelange Schriftverkehr gipfelte in diesem Termin. Nach langer Diskussion entschied ein später zu dem Termin hinzugestoßener Beamter schließlich, dass meine Ziegel das Gesamtbild des Stadtteils nicht störten und somit bleiben durften. Befreit von dieser unsinnigen Diskussion und der damit verbundenen Aussicht mein Dach auf eigene Kosten nochmals, nun in Rot, decken lassen zu müssen, machte ich mich auf den Heimweg. Anders als sonst, nahm ich an diesem Tag einen anderen Weg aus der Innenstadt, der nach Ansicht meines Navigationssystems um diese Zeit schneller sein sollte. Die freundliche Damenstimme lotste mich durch ein älteres Wohngebiet am Rande der Innenstadt. Auf halber Strecke bemerkte ich ein, vor einer in dieser Gegend seltenen Garagen, parkendes Auto des gleichen Typs in der gleichen ziemlichen ungewöhnlichen Farbe, wie es die Freundin des Mannes fuhr und dessen Frontscheibe noch mit Frostschutzfolie abgedeckt war. Ich verlangsamte das Tempo um mich zu vergewissern, ob es sich tatsächlich um ihren Wagen handelte, als seine Freundin in Begleitung ihres Hundes aus einem der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite kam und auf dieses Auto zuging. Wieder einmal hatte mir das Glück geholfen. Ich war mir jetzt sicher, bald alle notwendigen Informationen, inklusive ihres Nachnamens und anderer wichtiger Hintergründe zusammen zu haben und mit dem Schreiben beginnen zu können. Mehr als vier, maximal fünf Monate veranschlagte ich für dieses sicher nicht allzu komplexe Buch nicht.