Der Mann mit dem Hund: Drei Wölfe – Kapitel 4 – Widersprüche

  

   Die Weihnachtszeit mit all ihren feinen Gerüchen und ihrer speziellen Atmosphäre war schon als Kind etwas ganz Besonderes für mich und ist es bis heute geblieben. Die überwiegende Zahl der Menschen ist zu dieser Zeit verändert. Bei vielen ist ein Leuchten in den Augen zu erkennen, bei anderen hingegen leider nur Stress und Hektik. Auch in diesem Jahr war das nicht anders. Mit dem Backen von Weihnachtsgebäck am ersten Advent, begann ich mit den ersten Vorbereitungen für meine fast schon traditionelle Heiligabend Party. Ich verfolgte den ehrgeizigen Plan in diesem Jahr 20 verschiedene Sorten zu backen und in meiner neuen Küche hatte ich endlich genug Platz für ein derartiges Vorhaben. Das zeitintensive Backen verdrängte in den folgenden Tagen meine Gedanken an den Mann und seine Geschichte. Lediglich der Stapel Notizen auf meinem Schreibtisch erinnerten mich daran, dass ich an meinem Buch weiterarbeiten sollte. Aber diese freien Tage waren mir willkommen. Von mir unerwartet beschäftigte mich diese Geschichte trotz meiner Zweifel, mehr als ich mir eingestehen wollte und richtig weiter war ich in den zuvor Tagen ohnehin nicht gekommen. Neben dem Backen vertrieb ich mir die Zeit mit Musik hören, Filme schauen, Treffen von Freunden und kümmerte mich um die Weihnachtsdekoration meines Hauses. Mit Maria besuchte ich abends mehrfach den Weihnachtsmarkt in der Innenstadt, der sich mit seinen 280 Ständen vom Marktplatz über die Kirchstraße zum Schillerplatz und weiter bis zum Schlossplatz erstreckt und genoss die Atmosphäre. Durch den allgegenwärtigen Geruch von Glühwein und gebrannten Mandeln schlenderten wir stundenlang von Stand zu Stand, bestaunten ausgefallenen Christbaumschmuck und probierten allerlei Süßigkeiten. Einmal aßen wir so viele gebrannte Mandeln, dass uns fast schlecht wurde. Am Nachmittag des 2. Advent begann ich, ganz altmodisch auf Papier, die Einladungen für meine Party zu schreiben. Kaum hatte ich angefangen, stand ich vor der Frage, ob ich Geraldine in diesem Jahr erneut einladen wollte. Bislang war sie meinen Einladungen nie gefolgt. Heiligabend hatte sie stets bei ihrer Mutter verbracht, meist reichlich geschafft von der Geburtstagfeier einer Cousine am Vorabend. Zudem hatten mir weder ihre Anspielungen während unseres Abendessens neulich, noch ihre Auftritte an meinen Geburtstag und der Scheidungsparty sonderlich gefallen. Da Maria Weihnachten bei ihrer Familie verbringen würde, war wenigstens ein erneutes Aufeinandertreffen der beiden ausgeschlossen. Ich war unschlüssig. Zwei volle Tage schob ich die Entscheidung, gleich einen unliebsamen Zahnarztbesuch, vor mir her, bis ich mich entschloss, trotz dieser Vorfälle und obwohl letztlich keine Chance bestand, dass Geraldine kommen würde, sie dennoch dieses Jahr wieder einzuladen.

   Nachdem ich die ganze Adventszeit nicht im Tagebuch des Mannes gelesen hatte, beschloss ich am Tag vor Heiligabend erst nach Weihnachten an meinem Buch weiter zu arbeiten. Den Morgen des Heiligabends verbrachte ich mit den letzten noch notwendigen Einkäufen für meine Party. Mit 16 Grad war es ungewöhnlich warm an diesem Tag. Es fühlte sich weit mehr nach Frühling als nach Weihnachten an und die überall gegenwärtige Dekoration wirkte im Angesicht dieser Temperaturen deplatziert. Wieder zuhause begann ich mit den abschließenden Vorbereitungen für die Party. Im Gegensatz zu meinem Geburtstag hatte ich keinen Catering Service beauftragt, da für mich an Weihnachten der persönliche Aspekt im Vordergrund steht und die Anzahl der Gäste im Vergleich zu meiner Geburtstagsparty ungleich überschaubarer war. Wie jedes Jahr sollte es eine Party für Freunde sein, denen Weihnachten im Kreis der Familie zu anstrengend war oder die schlicht keine Familie hatten. Manche meiner Gäste waren kinderlose Paare, der überwiegende Teil jedoch bestand aus Singles, mit einem deutlichen weiblichen Überhang. Gegen 19 Uhr waren die ersten Gäste eingetroffen und zügig füllte sich mein Haus mit Menschen, die aßen, tranken und lachten. Nur Geraldine war, wie ich es erwartet hatte, nicht gekommen. Kurz vor 24 Uhr klingelte es unerwartet. Beinahe hätte ich das Läuten durch den Lärm der sich unterhaltenden Gäste, vermengt mit der relativ lauten Musik nicht gehört. Ich ging zur Türe und als ich sie öffnete traute ich meinen Augen nicht. Vor mir stand Geraldine, die in ihrer rechten Hand einen Mistelzweig hielt und mich freundlich anlächelte. Ihre verwaschene schwarze Jeans und der orangefarbene Rollkragenpullover legten den Schluss nahe, dass sich Geraldine spontan entschieden hatte doch noch zu meiner Party kommen. Normalerweise war das nicht die Art Kleidung, die sie bei einer Party zu tragen pflegte. Angenehm von ihrem nicht erwarteten Erscheinen überrascht, bat ich sie herein. Wir gingen in mein Wohnzimmer und ich stellte ihr die wenigen der Gäste vor, die sie noch nicht kannte. Ein guter Indikator für die Qualität eine Party ist die Tatsache, dass man nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergeht. Gefühlt hatte die Party gerade eben erst begonnen, tatsächlich aber war es mittlerweile weit nach 2 Uhr morgens und die ersten Gäste anschickten sich an nach Hause zu gehen. Schritt für Schritt leerte sich mein Haus, bis nur noch Geraldine übrig waren. Ich setzte mich zur ihr auf das Sofa und versuchte ein Gespräch zu beginnen, indem ich erkundigte, wie sie die Party gefunden hat.
„Sehr schön. Ich habe mich einigen interessante Menschen unterhalten und viel Spaß gehabt. Aber jetzt sollte ich besser nach Hause gehen.“
“Dieser Satz klang wie aus einer dieser Hollywood Schnulzen. Ein bisschen verlegen, ein wenig hilflos, vor allem aber jahrelang einstudiert.
„Komm, lass uns noch ein Glas zusammen trinken. Dann rufe ich dir ein Taxi.“
Ich wusste selbst nicht, was ich damit eigentlich erreichen wollte, war aber gespannt, wie sie reagieren würde.
„Gut, aber nur ein Glas.“
Genau die Antwort, die jetzt auch in einem dieser Filme gekommen wäre. Ich ging in die Küche und holte eine Flasche Chardonnay aus dem Kühlschrank.
„Das ist ohnehin die letzte“, sagte ich zu ihr, als ich das Wohnzimmer wieder betrat.
Sie reichte mir ihr Glas und ich goss den Wein ein. Für einen kurzen Augenblick saßen wir schweigend nebeneinander auf dem Sofa.
„Wo soll das hinführen?“, wollte sie von mir wissen und schaute mich dabei ernst an. „Ich meine das hier mit uns.“
Zum ersten Mal seit vielen Jahren nahm ich in diesem Augenblick ihre kastanienfarbenen Augen wieder bewusst wahr. Gleichzeitig unterstrich diese Frage, wie wenig ernst sie meine Beziehung mit Maria nahm oder besser, wie ernst sie Maria überhaupt nahm. Geraldine hatte den ganzen Abend über nicht einmal gefragt, wo Maria war.
„Wo soll es denn hinführen?“, antwortete ich, im Wissen, dass Fragen mit Fragen zu beantworten wenig produktiv war.
„Offensichtlich nirgendwo hin, wie seit Jahren“, antwortete Geraldine leise und ihre Stimme klang bei diesen Worten irgendwie bedrückt.
„Ich denke, es ist besser Du rufst mir jetzt ein Taxi.“
Nachdem Geraldine gegangen war fühlte ich mich seltsam erleichtert. Eigentlich war ich bis zum heutigen Abend davon ausgegangen, dass wir dieses sehr spezielle Thema zwischen uns endgültig geklärt hatten. Für mich konnten ihre eigenartigen Fragen nur mit der an Weihnachten weit verbreiteten Sentimentalität zu tun gehabt haben, zu deren Opfer in diesem Jahr offenbar auch Geraldine zählte.

   Der 1. Weihnachtsfeiertag, den ich fast zur Hälfte verschlafen hatte, war für mich hauptsächlich ein Tag des Aufräumens. Wie jedes Jahr nach der Weihnachtsparty herrschte überall Chaos und Unordnung. Am späten Abend des 2. Weihnachtsfeiertags kehrte Maria wieder von ihren Eltern zurück. Ihre nicht besonders gute Laune hing vermutlich mit der Tatsache zusammen, dass ich weder eine ihrer unzähligen SMS über die Feiertage beantwortet, noch es für notwendig befunden hatte sie anzurufen. Am Anfang unserer Beziehung hatte sich Maria mit dem Schreiben von SMS noch zurückgehalten, aber in den letzten Wochen hatte das stark zugenommen. An manchen Tagen bekam ich bis zu 10 dieser unsinnigen Textnachrichten. Meist mit völlig unwichtigem Inhalt oder solchem, der keiner Antwort bedurfte. Doch damit nicht genug Kommunikation. Maria war es sogar gelungen mich davon zu überzeugen, dass ich mich, wenn auch widerwillig, bei einem sozialen Netzwerk angemeldete, obwohl ich kein Freund dieser Medien war. Nicht weil ich aus meiner Zeit bei der Firma noch wusste, welches Gefahrenpotential darin lag, sondern weil ich davon überzeugt war, dass die Welt nicht noch mehr mit unnützen Nachrichten überschwemmt werden musste. Außerdem war mir nicht klar, was an solchen Netzwerken sozial sein sollte. Oft genug wurden sie zum Stalking oder zur Verleumdung benutzt. Peinliche, oder sehr private Fotos oder Videos veröffentlicht, nur um sich an jemandem zu rächen oder diese Person der Lächerlichkeit preiszugeben. Im Grunde also das exakte Gegenteil von sozial. Genauso wenig verstand ich, warum viele Menschen dort jedes Detail ihres Lebens ausbreiteten, selbst Fotos von ihrem Essen, dennoch aber Vorhänge an ihren Fenstern hatten, aus Sorge der Nachbar könnte zu viel sehen. Seit der Einrichtung meines Accounts hatte sich überwiegend Maria um ihn gekümmert. Sie beantwortete Fragen, postete irgendwelche Dinge und nahm Freundschaftsanfragen von Menschen an, die ich bestenfalls flüchtig kannte und mit denen ich, in dem was man neuerdings „real life“ nennt, noch nicht einmal länger als 2 Minuten geredet hatte, wenn überhaupt. Ich hatte von Freundschaft eine andere, für dieses Medium wohl zu altmodische Auffassung. Aber nun hatte ich sie, hunderte von virtuellen Freunden. Eines Tages hatte mir Maria ganz stolz gezeigt, dass sie meinen Beziehungsstatus, auf „In einer Beziehung“ gesetzt hatte und mit ihrem Account verbunden hatte. Ob damit nur der Versuch einer Marktbereinigung oder schon die Manifestation des Besitzanspruchs verbunden war, entzog sich meiner Kenntnis und ehrlich gesagt, es war mir auch vollkommen gleichgültig. Vielleicht war ich für Maria so etwas wie ein Statussymbol geworden, mit dem sie bei ihren virtuellen Freunden angeben konnte.

   Nach einer halben Stunde hatte sich Marias Laune so weit gebessert, dass eine einigermaßen vernünftige Unterhaltung mit ihr möglich war. Ich erkundigte mich, wie ihr Weihnachtsfest gewesen war und ob sie sich gefreut hatte, ihre Familie wiederzusehen. Sie erzählte mir in epischer Breite von Heiligabend, über den ersten Weihnachtsfeiertag, bis zu der Fahrt zurück zu mir, ohne dabei auch nur das geringste Detail auszulassen. Dabei erwähnte sie die Mitglieder ihrer Familie in einer Art und Weise, als würde ich diese schon sehr lange kennen. Eine Marotte, die ich auch an Geraldine nicht besonders mochte. Sie erzählte mir häufig, meist im Zusammenhang mit ihren Motorrädern, von irgendwelchen Menschen und ging dabei immer davon aus, ich wüsste ganz genau, von wem sie sprach. Dabei kannte ich nicht einen einzigen, von dem sie erzählte und im Grunde waren sie mir auch egal. Als Maria fertig war, ging sie an ihre Reisetasche, holte eine Tüte mit selbstgebackenem Gebäck heraus und überreichte sie mir.
„Das ist für dich. Von meiner Mutter. Meine Eltern fanden es sehr schade, dass du nicht mitgekommen bist. Aber vielleicht nächstes Jahr?“
Maria strahlte mich erwartungsvoll an. Ich bedankte mich höflich und versuchte dadurch, dass ich das Gebäck gleich probierte, einer Antwort zu entgehen. Wie in allen meinen Beziehungen zuvor war ich stets bemüht eines zu vermeiden, Familienanschluss. Schon der Gedanke an die diversen Familienfeiern, wie Geburtstage und Weihnachten war mir ein Gräuel. Der Grund dafür war nicht nur die Tatsache, dass es in fast allen Familien versteckte Streitigkeiten gab, die meist an solchen Anlässen ihren Weg an die Oberfläche suchten, sondern einfach, dass ich mich nicht gerne verplanen ließ und mein eigener Herr sein wollte. Zudem war ich mir nicht sicher, wie lange die Sache mit Maria dauern würde. Noch ein volles Jahr jedenfalls nicht. Im Gegensatz zu vielen Menschen, die sich ein komplettes Leben an der Seite ihres Partners vorstellen konnten, es sogar planten, sprengte schon der Gedanke einen Monat im Voraus mit meiner Freundin zu planen meinen Horizont.

   In den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, die von vielen Menschen, ohne zu wissen woher dieser Ausdruck stammt, auch die Zeit zwischen den Jahren genannt wird, wollte Maria bei mir bleiben und ihre Semesterarbeit schreiben. Ich hatte ihr, unter der Bedingung, dass sie am Ende ihres Aufenthalts alle ihre Sachen, die sie während dieser Zeit in meinem Bad deponieren durfte wieder mitnahm, dafür ein Gästezimmer zur Verfügung gestellt, in dem sie sich nach Belieben ausbreiten konnte. Während Maria zwischen ihrem Laptop und Türmen von Büchern verschwand, setzte ich die Arbeit an meinem Buch fort. Zuerst ging ich meine Notizen durch, die ich mir während des Lesens gemacht hatte und versuchte ein wenig Ordnung in meine bisherigen Erkenntnisse zu bringen. Dabei bemerkte ich erneut, dass ich einige Wissenslücken haben musste. So kannte ich zum Beispiel die Ursache, warum sich die beiden 8 Monate nicht gesehen und sich nur E-Mails geschrieben hatten, bis heute nicht. Zudem hatte der Mann in seinem ersten Brief wiederholt Bezug auf länger zurückliegende Ereignisse genommen, diese jedoch nicht so deutlich ausgeführt, dass ein unbeteiligter Dritter verstehen konnte, welche er im Einzelnen meinte. Ich war überzeugt, dass sich diese Begebenheiten in der zweiten Hälfte des letzten Jahres zugetragen haben müssen und in Zusammenhang mit dem Grund stehen mussten, warum sich die beiden über Monate nicht gesehen hatten. Im Gegensatz zu meiner ursprünglichen Überlegung gelangte ich zu der Erkenntnis, dass ich alles erst wirklich verstehen konnte, wenn ich nicht nur sein Tagebuch, sondern ebenfalls sämtliche E-Mails der beiden seit Beginn ihrer Beziehung, am besten noch zwei drei Monate zuvor gelesen hatte. Wenig erfreut über diese zusätzliche Arbeit, begann ich zunächst widerwillig das erste Quartal 2011 seiner Tagebücher zu lesen. Die Einträge vom Januar 2011 beschäftigten sich nahezu ausschließlich mit der Sorge um seinen schwerkranken Hund mit dem Namen Raschka. Der Mann musste zu dieser Zeit einen anderen Hund gehabt haben. Ausführlich, äußerst emotional und sehr eindringlich schilderte er den Verlauf dieser Erkrankung, die am Ende, Mitte März, zum Tod des Hundes geführt hatte. Als nicht Tierhalter war es schwer vorstellbar, was in dem Mann zu dieser Zeit vor sich gegangen sein muss. Noch unvorstellbarer waren die Kosten, welche die Behandlung seines Hundes verschlungen hat. Er schrieb davon, dass sich die Tierarztrechnungen förmlich auf seinem Schreibtisch stapelten und diese mittlerweile im fünfstelligen Bereich angekommen waren. Offensichtlich hatte er alles getan, um seinen Hund, dem die Tierärzte schon bei der ersten Diagnose keine Überlebenschance gaben, zu retten. Obwohl ich nie ein Haustier hatte und mich dementsprechend schwer in ihn hineinversetzen konnte, fiel mir das Lesen seines Tagebuches phasenweise sehr schwer. Für den Mann schien es keinen Unterschied zu machen, ob es sich um einen geliebten Menschen oder ein geliebtes Haustier handelte. Insofern war es nicht unbedingt die geeignete Lektüre für die ruhige und besinnliche Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Die Frau, die später seine Freundin werden sollte fand zu Anfang selten, im weiteren Verlauf aber immer häufiger Erwähnung, bis sie Ende März zum alles beherrschenden Thema wurde. In der ganzen traurigen Geschichte um seinen Hund, gab es etwas auf das er sich Woche für Woche freute. Er nannte es sein Licht in der Dunkelheit dieser Tage. Jeden Freitag schrieben die beiden sich und berichteten einander, wie ihre Woche verlaufen war. Im Gegensatz zu den Beschreibungen über den Krankheitsverlauf seines Hundes waren diese Einträge voller Leichtigkeit und sehr schön zu lesen. Ich war mir sicher, dass der Mann zu dieser Zeit begann, Gefühle für diese Frau zu entwickeln. Einer der interessantesten Einträge in jenen Tagen war der vom 3. Februar, dem Geburtstag seiner späteren Freundin. Sie hatte ihn zu einer kleinen Feier eingeladen und er hatte, mit Blick auf seinen kranken Hund, den er unter keinen Umständen alleine zu Hause lassen wollte, abgesagt. Dieser, sich über fast eine Seite erstreckende Eintrag, zeigte in allen Facetten sein Dilemma an diesem Tag. Er wirkte hin und her gerissen zwischen Wunsch und Pflichtgefühl, wobei ich den Eindruck hatte, dass er den Ursprung seines Wunsches scheinbar noch nicht erkannt hatte, oder ihn zu diesem Zeitpunkt nicht wahrhaben wollte. Seine Aufzeichnung über den Todestag des Hundes am 14. März übersprang ich, nachdem ich in der zweiten Zeile die Worte: heute einschläfern zu lassen, gelesen hatte. Ich wollte mir die Details über dieses sicher furchtbare Erlebnis ersparen und für den Fortgang der Geschichte war es wahrscheinlich ohnehin nicht von großer Bedeutung.

   Die 19 Uhr Nachrichten im Radio erinnerten mich darin, dass ich mich um unser Abendessen kümmern sollte. Maria, die ich ganzen Tag weder gehört noch gesehen hatte, war bestimmt ebenfalls hungrig. Ich machte mich auf nach Maria zu sehen. Der Anblick, der sich mir durch die halbgeöffnete Türe des Gästezimmers bot, ließ mich schmunzeln. Maria saß tief versunken zwischen Büchern und überall verstreuten Blättern vor ihrem Laptop und tippte konzentriert.
Mit der Frage: „Was möchtest du heute essen?“, unterbrach ich ihre Arbeit.
Ohne aufzuschauen antwortete sie:
„Sei ein Schatz und bestell was beim Chinesen. Du weißt doch was ich mag. Dann kann ich noch eine Zeit arbeiten.“
Mit dieser ziemlich kurzen und ungenauen Antwort verließ ich Maria wieder. Als eine halbe Stunde später der Lieferservice läutete kam Maria förmlich aus ihrem Zimmer gestürzt.
„Was hast du bestellt? Ach egal, ich habe einen Bärenhunger.“
Maria konnte Unmengen von Essen verschlingen, ohne dass dabei ihre überaus attraktive Figur Schaden nahm. Wir gingen mit den bunten Pappschachteln direkt das in Esszimmer. Noch bevor ich Maria das Besteck, das ich aus dem Sideboard geholt hatte, geben konnte, hatte sie schon angefangen mit den Fingern zu essen.
„Du glaubst gar nicht, was ich für einen Hunger habe,“ bemerkte sie knapp zwischen zwei Frühlingsrollen.
Weiter im Renntempo, jetzt mit Löffel und Gabel in ihren Händen essend, fragte sie mich zwischen zwei Bissen Ente süßsauer nach meinem Buch. Bislang hatte ich es vermieden Maria zu erzählen, wovon mein neues Buch handeln würde. Die Aussicht mit den Ansichten und Lebensweisheiten einer 22-jährigen zum Thema Leben und Beziehungen überflutet zu werden erschien mir wenig gewinnbringend und so vermied ich auch diesmal Maria zu verraten, wovon mein neues Buch handeln sollte. Möglicherweise auch, und das war ein Grund der nicht von der Hand zu weisen war, weil ich mir selbst darüber noch nicht ganz im Klaren war.
„Ich bin immer noch beim Lesen von verschiedenen Quellen, so genau kann ich dir das noch nicht sagen.“
„Schade“, erwiderte Maria. „Aber ich kann verstehen, dass du erst darüber reden willst, wenn du soweit bist. Trotzdem interessiert mich sehr, woran du arbeitest.“
Ich betrachte Maria genau. Ihr Interesse wirkte aufrichtig und nicht wie bei den meisten ihrer Vorgängerinnen aufgesetzt. Für mich eine durchaus ungewohnte Erfahrung. Deshalb entschied ich mich ihr wenigstens etwas zu verraten.
„So viel kann ich dir sagen, es wird kein Spionagethriller, wie meine anderen Bücher, sondern eine Geschichte über das Leben.“
Ich machte eine kurze Pause und beobachtete Marias Reaktion. Sie hatte von ihrem Essen abgelassen und schien darauf zu warten, dass ich meine Erklärung fortsetzte.
„Die Geschichte wird hier spielen. Ich meine damit nicht nur in der Gegenwart, sondern vor allem den Ort. Sie findet quasi gleich um die Ecke statt.“
Maria sah mich neugierig an, stellte aber wider Erwarten keine weitere Frage nach der Handlung, sondern sagte:
„Hoffentlich komme ich auch darin vor. Nur kurz, ganz klein. An einer winzigen Stelle. Darüber würde ich mich sehr freuen und es würde mir viel bedeuten.“
Ich lächelte hintergründig. Maria musste dieses Lächeln als Zustimmung interpretiert haben, denn ihre Augen funkelten plötzlich auffällig. Nach dem Essen nahmen wir noch eine Zeit vor dem Kamin Platz und Maria berichtete mir über ihre Semesterarbeit und welche Fortschritte sie heute gemacht hatte, bis wir kurz nach 23 Uhr müde ins Bett fielen.

   Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Marias Seite des Bettes bereits kalt. Sie musste schon früh aufgestanden sein, um an ihrer Semesterarbeit weiter zu arbeiten. Nach zwei Tassen Kaffee und einem kurzen Blick in die Zeitung, machte ich mich ebenfalls wieder an die Arbeit. In einem der letzten Einträge aus dem ersten Quartal 2011 berichtete der Mann von einem Besuch der Frau kurz nach dem Tod seines Hundes. Als eine der wenigen hatte sie sich die Mühe gemacht, bei ihm vorbeizuschauen, um zu sehen, wie es ihm ging. Der Mann rechnete ihr das hoch an. In den folgenden Tagen schrieb der Mann häufig darüber, wie nahe sie ihm wieder war und welches Glück er dabei empfand. Gleichzeitig machte er sich viele Gedanken. Er fragte sich generell, ob es die richtige Zeit für eine neue Beziehung sei, oder ob ihn nur die Leere, die er seit dem Verlust seines Hundes empfand in diese Richtung steuerte. Ungeduldig las ich weiter. Am Sonntag der übernächsten Woche schrieb er über einem Spaziergang, den die beiden mit ihrem Hund gemacht hatten und wie sie, wie kleine Kinder auf der Wiese herumgetollt hatten, bis die Situation fast zu eindeutig geworden war und sie wieder auf Abstand gegangen waren. Auffällig an all diesen Einträgen war, dass er mit dem Wort „damals“ wiederholt Bezug auf Ereignisse genommen hatte, die schon viele Jahre zurückliegen mussten, ohne diese jedoch näher zu spezifizieren. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass der Mann entweder über ein phänomenales Gedächtnis verfügen musste oder dass seine Tagebücher bis in jene Zeit zurückreichen mussten, in der er seine Freundin kennengelernt hatte und er immer wieder darin las. Am 12. April war es dann endlich soweit. Meine Neugier wurde befriedigt. In seinem Tagebuch fand sich ein längerer Eintrag, der so manches erklärte.

„… dass ich sie nie vergessen hatte, 25 Jahre, ein viertel Jahrhundert nicht. Immer wenn ich diesen Namen höre, oder ein Parfüm mich an sie erinnerte, oder ein bestimmtes Lied im Radio läuft, ich eine Schachtel „Lucky Strike“ sehe oder mich irgendein Idiot auf sie anspricht, sind es eine Million Stiche mitten in mein Herz. Am schlimmsten ist aber immer wieder an die damals nach außen zugegeben witzige Trennung erinnert zu werden. Leider war die Wahrheit dahinter alles andere, nur nicht witzig und sie wird sie niemals erfahren. Wem begegnet bitte mit 20 die Frau seines Lebens und dann ist das Leben dagegen? Trotz all der Mädchen, die über die Jahre durch meine Türe hinein und wieder hinausgingen, blieb sie immer eines: unerreichbar für jede andere. Sie ist alles das, was ich nicht bin und nie sein werde. Sie ist mein anderer Teil. Am Ende scheint das Leben gerecht zu sein. Das Leben, das sie mir weggenommen hat will mir eine zweite Chance geben. Auch wenn die Umstände wieder nicht besonders gut sind. Aber im Gegensatz zu damals spüre ich, dass ich es diesmal schaffen könnte. An diesem Sonntag neulich auf der Wiese fühlte es sich für mich so an, als wären keine 25 Jahre, sondern nur 25 Minuten zwischen uns vergangen. Ich habe in ihre Augen gesehen, diese wundervollen endlosen großen Seen, die ich immer so geliebt habe und in diesem Moment war ich kurz davor das Versprechen zu brechen, das ich mir vor 25 Jahren gegeben hatte.“

Mit einer derart langen Zeitspanne hatte ich nicht gerechnet und mit fehlten die Worte. Dieser Eintrag ließ einiges in einem völlig neuen Licht erscheinen. Vor allem seinen zweiten Brief. 25 Jahre, eine halbe Ewigkeit, waren seit der ersten Beziehung der beiden vergangen und trotzdem schien Zeit bei seinen Gefühlen für sie überhaupt keine Rolle zu spielen. Warum hatte er ihr dieses wichtige Detail in seinem Brief verschwiegen und konnte das überhaupt der Wahrheit entsprechen? Für einen anderen Menschen solange solche Gefühle zu empfinden, ohne diese Person in dieser Zeit auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben? Mir erschien das unglaubwürdig, auch wenn mich meine jahrelangen Erfahrungen in der Firma gelehrt hatten, dass absolut nichts unmöglich ist. Dennoch, wenn er sie doch immer geliebt hat, warum hat er dann nicht schon früher versucht sie zurückzugewinnen und welches Versprechen meinte er? Das wahrhaft Bizarre an diesem Eintrag war aber, dass mir diese befremdliche Formulierung „das Leben“ schon wieder begegnete. Ich musste unbedingt herausfinden, was damals wirklich passiert war. Was der wahre Grund für ihre Trennung damals, den sie nie erfahren durfte war? Der Ausdruck das Leben konnte, wie schon in seinem seltsamen Satz Ende Oktober alles beinhalten. Ich ging in meine Küche und setzte Kaffee auf. Der Mann hatte von vor 25 Jahren geschrieben. Demzufolge musste ihre erste Beziehung 1986 gewesen sein. Zu dieser Zeit gab es keine Computer in Privathaushalten. Wenn er damals schon Tagebuch geschrieben hatte, dann handschriftlich und es sprach eigentlich nichts dafür, dass sich seine Tagebücher aus dieser Zeit auf seinem Computer befinden würden. Andererseits hatten viele Menschen, zu denen ich nicht gehörte, alte Fotos eingescannt um sie davor zu bewahren eines Tages auszubleichen und diese waren jetzt auf deren Computern zu finden. Was sprach dagegen, dass der Mann seine alten Tagebücher nicht eingescannt haben? Im Grunde nichts. Ganz im Gegenteil. Sie waren ein Teil seines Lebens wie alte Fotos. Vielleicht sogar noch mehr. Obwohl ich fast täglich die Ordner gesehen hatte, war ich mir nicht sicher, wie weit sie zurückreichten. Eine andere Frage die mich beschäftigte, während ich auf meinen Kaffee wartete, war die Formulierung das Leben. War es nicht möglich, dass es sich bei diesem Ausdruck um eine Standardformulierung des Mannes handelte, die er häufiger floskelhaft benutzte? Wenn ja, würde sich sein Satz im Park relativieren. Er wäre nichts Ungewöhnliches mehr. Ich nahm meinen Kaffee und ging zurück in mein Arbeitszimmer. Dem Grundsatz glauben heißt nicht wissen folgend, überprüfte ich wie weit diese Ordner zurückreichten. Sie endeten erst mit dem Jahr 1981. Gespannt öffnete ich den Ordner 1986. Anders als in den Ordnern, die ich bisher kannte, befanden sich darin viele einzelne Dokumente. Er hatte tatsächlich seine handschriftlichen Tagebücher eingescannt. Die Scans waren nicht von besonders guter Qualität und seine Handschrift beinahe unleserlich. Glücklicherweise waren seine Aufzeichnungen damals relativ kurz und unregelmäßig. Ich überflog, auf der Suche nach ihrem Namen die Dateien und wurde im September 1986 fündig. Halb belustigt, halb kopfschüttelnd, am Ende jedoch entsetzt, las ich seine Aufschriebe bis Ende Oktober. Jener, über ihre erste gemeinsame Nacht wirkte auf mich, aus der Perspektive eines Endvierzigers betrachtet, ungewollt komisch. Über den Tag der Trennung hatte der Mann für seine damaligen Verhältnisse ungewöhnlich viel geschrieben. Der Ablauf der Trennung war für sich betrachtet wirklich amüsant. Aber das Lachen blieb mir umgehend im Halse stecken, als ich weiterlas und den wahren Grund, der hinter dieser Trennung steckte erfuhr, wie sie vorbereitet worden war und was im Anschluss geschah. Diesen Aufzeichnungen entnahm ich auch, dass er sie schon damals, wohl aber ausschließlich in seinem Tagebuch Sonnenschein genannt hatte und das Musik zwischen den beiden, besonders ein paar bestimmte Interpreten, die gleiche wichtige Rolle eingenommen hatte, wie 25 Jahre später. Nach dieser Lektüre musste ich mich sammeln. Mir war jetzt nicht nur klargeworden, dass die Formulierung das Leben keine Floskel seines Sprachgebrauchs war, sondern ich verstand nun einiges wesentlich besser. Ich begann den unwiderstehlichen Drang nach einem Glas Whisky zu verspüren, für das es eigentlich noch viel zu früh war. Bis vor 15 Minuten war ich der Überzeugung, dass nichts auf dieser Welt mich noch beeindrucken konnte. Doch dieser Mann hatte es geschafft. Im Alter von 20 Jahren. Ich trennte die Verbindung zu seinem Computer, ging an meine Bar und goss mir ein Glas Compass Box Oak Cross ein. Sollte der Mann bis heute, wovon ich ohne Zweifel auszugehen musste, mit niemand über den wahren Grund der damaligen Trennung gesprochen haben, dann war ich außer ihm der einzige, der davon wusste. Ich nahm das Glas und ging in mein Wohnzimmer. Bevor ich mich in einem der beiden großen Ledersessel vor meinem Kamin niederließ, machte ich Feuer. Während ich das Holz aufschichtete, fragte ich mich, ob der Mann seiner Freundin jemals erzählen wird, warum die Beziehung damals zu Ende gehen musste? In gewisser Weise hatte sie ein moralische Recht zu erfahren, was damals wirklich vor sich gegangen war und ich konnte mir durchaus vorstellen, dass es für sie von Bedeutung sein würde nach so vielen Jahren endlich die Wahrheit zu Erfahren. Eine Wahrheit, die ihre Sichtweise auf die Ereignisse des Oktobers 1986 grundlegend ändern könnten und damit möglicherweise auch auf die der Gegenwart. Über eine Stunde saß ich in meinem Sessel, beobachtete das wollig wärmende Feuer, das leise vor sich hin knisterte und dachte über das Gelesene nach. Am Ende kam ich zu dem Ergebnis, dass die Ereignisse von damals für die aktuellen Vorgänge kaum noch von Relevanz sein konnten. Dafür war zu viel Zeit vergangen. Einen bleibenden Eindruck hatten seine Tagebucheinträge von 1986 dennoch hinterlassen.

   Der Silvesternachtmittag war fast vorüber. Maria hatte ich in den vergangenen Tagen nur während unseres gemeinsamen Abendessens und dem zu Bettgehen gesehen. Wie ich, verbrachte sie ebenfalls jede Minute mit Arbeit. Von Geraldine hatte ich seit der Feier an Heiligabend nichts mehr gehört. Eine Tatsache, die mich nicht weiter wunderte. Wahrscheinlich war sie, wie jedes Jahr mit ihrer Familie und ihren Freunden beschäftigt und so wie ich sie kannte, war ihr ihr seltsames Verhalten an Heiligabend im Nachhinein sicherlich peinlich. Es wurde Zeit, Maria hinter ihren Büchern hervor zu holen und sich auf die Silvesterparty vorzubereiten. Wie in Jahren zuvor war ich, nebst stets variierender Begleitung, Silvester bei einem alten Schulfreund eingeladen. Seine Silvesterparty war seit ihrer Premiere vor fünf Jahren beinahe legendär geworden. Spätestens gegen 22 Uhr war sein wirklich nicht kleines Haus derart voll, dass umfallen kaum möglich war. Ganz zu schweigen davon, ein Platz zum Sitzen zu bekommen. Während ich mich im Bad für den Abend fertig machte und Maria das ewige Lied der Frauen: Ich habe nichts anzuziehen, anstimmte, überlegte ich, wie die beiden ihren Silvesterabend verbringen würden. Vielleicht waren sie ebenfalls auf einer Party bei Freunden. Oder sie verbrachten den Abend gemeinsam zu Hause mit ihren Hunden, die sie krampfhaft versuchten von ihrem Fondue fernzuhalten. Eine durchaus amüsante Vorstellung.

   Kurz vor 20 Uhr, nachdem Maria es endlich gelungen war, sich für ein Kleid zu entscheiden, machten wir uns auf den Weg. Das Kleid, für das sich Maria am Ende entschieden hatte, war übrigens jenes, welches sie bereits um 18 Uhr als erstes hervorgeholt und sofort als unpassend wieder zurückgelegt hatte. Wie auch immer, Maria sah darin großartig aus und würde mit Sicherheit zum Blickfang des Abends werden. Als wir bei meinem Freund ankamen, wir waren die vier Straßen zu seinem Haus zu Fuß gegangen, war die Party bereits in vollem Gange. Ich war wenig darüber erstaunt, dass sich das gleiche Schauspiel wie auf den letzten Partys, bei denen mich Maria begleitet hatte, wiederholte. Während die meisten Männer urplötzlich scheinbar unaufschiebbar wichtige Dinge in der Nähe von Maria zu erledigen hatten, rotteten sich die Enddreißigerinnen bis Mitvierzigerinnen zusammen und verschossen ihre Giftpfeile. Teils in meine, überwiegend jedoch in Marias Richtung. Ein grandioses Schauspiel. Einer der großen Vorzüge meines Freundes war, dass er über eine gute, vor allem aber für den Silvesterabend ausreichend dimensionierte Whiskysammlung verfügte. Zusammen mit dem Gastgeber und drei anderen alten Bekannten beschloss ich, den Abend mit Lagavulin zu verbringen und den Sekt in einem Akt der Großzügigkeit den übrigen Gästen zu überlassen. In der Sentimentalität, die für Silvesterabende üblich zu sein scheint unterhielten wir uns über alte Zeiten. Kurz vor 24 Uhr war es Maria gelungen der Belagerung diverser männlicher Gäste zu entkommen und wir gingen gemeinsam in den Garten um das Feuerwerk beobachten zu können, als das im Hintergrund laufende, an Silvester unvermeidbare „Happy New Year“ von ABBA von einigen englischsprachigen Gästen lautstark mit „Auld Lang Syne“, einem alten schottischen Volkslied, dessen Text von dem schottischen Dichter Robert Burns stammt und das im englischsprachigen Raum traditionell zum Jahreswechsel gesungen wird, übertönt wurde. Nach dieser überaus beeindruckenden Gesangseinlage und den üblichen gegenseitigen Neujahrsglückwünschen, die für die meisten Männer ein willkommener Anlass war Maria zu umarmen und zu küssen, begann das unumgängliche Zücken der Handys. Plötzlich herrschte eine fast gespenstische Ruhe. Jeder tippte irgendwelche Neujahrswünsche an irgendjemanden, in der Hoffnung, dass sie trotz der total überlasteten Mobilfunknetze ihre Adressaten erreichen würden. Es war, wie jedes Jahr, ein faszinierendes Schauspiel. Erwachsene Menschen starrten auf kleine Bildschirme und schienen, nach dem sie alle Nachrichten verschickt hatten, die Summe der empfangenen Nachrichten zu zählen. Ob es für den, der die meisten Nachrichten bekommen hatte, einen Preis gab? Wenn ja, dann konnte ich ihn nicht gewinnen. Wie so oft hatte ich mein Handy auch an diesem Abend nicht mitgenommen. Nachdem die Auswüchse der modernen Kommunikation beendet waren, machten sich die meisten Gäste erneut über das Buffet her. Sie schienen dabei vollkommen vergessen zu haben, dass sie zuvor schon den halben Abend mit Essen zugebracht hatten. Gegen 4 Uhr morgens machten Maria und ich uns auf den Heimweg. Unterwegs fragte mich sie, was dieses Lied bedeutete, das vorher einige der Gäste gesungen hatten. Dass Maria den schottischen Refrain nicht verstanden hatte, wunderte mich nicht im Geringsten. Ich erklärte ihr, dass es auf Englisch so viel heißt wie „Old long since“ und es in diesem Lied um gute alte Zeiten geht, hauptsächlich aber um Menschen, die wir niemals vergessen sollten.
„Wie romantisch“, bemerkte Maria, als sie sich in meinen Arm einhakte.

   Der Neujahrsmorgen begann, wie jedes Jahr, deutlich nach 14 Uhr. Wahrscheinlich wäre der verlorene Tag die treffendere Bezeichnung für diesen Tag. Mit bleischwerem Kopf und der sich alle Jahre wiederholenden Erkenntnis, nächstes Silvester nicht mehr so viel zu trinken, ging ich in die Küche und setzte Kaffee auf. Nach zwei Tassen und einer Kopfschmerztablette kehrten meine Lebensgeister langsam zurück. Auf dem Weg zum Bad fiel mein Blick auf mein Handy, das wie meistens auf der Kommode im Flur lag. Die blau blinkende LED signalisierte mir, dass neue Nachrichten eingetroffen waren. Vermutlich die üblichen, überflüssigen Neujahrs-SMS oder E-Mails. Ohne mich weiter darum zu kümmern ging ich in mein Bad und nahm eine heiße Dusche. Frisch und einigermaßen wach kehrte ich in die Küche zurück. Mittlerweile war Maria ebenfalls aufgestanden und mit meinem Handy in ihrer Hand zu mir gekommen. Noch bevor sie mir Guten Morgen wünschte, fragte sie mich, ob ich nicht nachsehen wolle, wer mir geschrieben hatte. Sie gab mir mein Telefon und ich prüfte, von wem die eingegangenen Nachrichten stammten. Bis auf eine von Geraldine war keine darunter, bei der ich das Bedürfnis verspürte sie beantworten zu müssen. Ich öffnete Geraldines SMS und musste feststellen, dass es nicht nur die übliche „Gutes neues Jahr“-SMS war, sondern eine, die mit kleinen Spitzen bezüglich meiner Beziehung zu Maria und meiner Lust Nachrichten zu beantworten, gespickt war. Typisch Geraldine dachte ich und schüttelte innerlich den Kopf. Ich antwortete ihr, ohne jedoch auf eine ihrer Anspielungen einzugehen. Das für mich ungewohnt zügige Beantworten einer Nachricht hatte Marias Interesse geweckt. Oder eher Eifersucht?
„Die Nachricht von dieser Geraldine, oder?“, fragte sie mit feststellendem Unterton und blickte mich dabei mit ihren grünen Augen bohrend an. Diese Art weiblichen Tonfalls kannte ich, wenn auch bislang nicht von Maria, nur zu gut. Normalerweise ist die Wahrheit immer die beste Lösung, aber es gibt situationsbedingte Ausnahmen. Zum Beispiel, wenn die Wahrheit zu einem nicht vertretbaren Ergebnis führt oder sie einen unnötigen Streit provoziert. Marias Abneigung gegenüber Geraldine war nicht zu überhören und wunderte mich in Anbetracht des Disputs zwischen den beiden an meinem Geburtstag keineswegs. Da ich das neue Jahr nicht unbedingt mit einem Streit beginnen wollte, entschied ich mich, Maria nicht die Wahrheit zu sagen. Der Rest dieses Tages war wie jedes Neujahr keiner weiteren Erwähnung wert. Maria und ich verbrachten den Tag, durch das Fernsehprogramm zappend und zwischendurch immer wieder einschlafend, auf dem Sofa liegend.

   Am Morgen des 2 Januar, Maria hatte sich in aller Frühe wieder ihrer Semesterarbeit zugewandt, beschloss ich nachzulesen, wie der Mann und seine Freundin an Weihnachten und Silvester verbracht hatten. Obwohl mir vollkommen bewusst war, dass ich nur eine Momentaufnahme, die zudem völlig aus dem Zusammenhang gerissen war lesen würde, wollte ich es unbedingt wissen. Wie ich in meinem Bekanntenkreis einige Male beobachten konnte, stellen Weihnachten und Silvester für viele Beziehungen eine kritische Zeit dar. Verschiedentlich werden überzogene Erwartungen an diese Tage und den Partner gestellt, die nicht erfüllt werden können. Auch unterdrückte Streitigkeiten kochen, ausgelöst durch die banalsten Vorfälle, in dieser Zeit hoch und führen oft genug zu Trennungen. Mit diesen Gedanken ging ich an meinen Computer und startete die Remoteverbindung. Dass was ich zu lesen bekam entsprach in keiner Weise meinen Erwartungen. Weder hatten die beiden den üblichen Feiertagsstreit, noch hatten sie sich getrennt. Sie hatten sich schlicht gar nicht gesehen. Seine Einträge über diese, nicht nur für mich, sondern sicherlich für die meisten Menschen, schönste Zeit des Jahres lasen sich überaus traurig. Sofern dieses Wort überhaupt dafür ausreichte, seinen Zustand zu beschreiben. Weihnachten ist die Zeit, die man mit dem Menschen verbringen möchte, der einem am nächsten steht. Selbst ich, der sehr gut alleine zurechtkam, hatte Heiligabend mit meinen Freunden und den Rest von Weihnachten mit Maria verbracht. Seine Freundin aber hatte noch nicht einmal den Versuch unternommen, ihn zu fragen, ob sie sich an Weihnachten sehen. Natürlich hätte auch der Mann sie fragen können. Warum er das letztendlich unterlassen hatte, wurde mir beim Lesen seines Silvestereintrags mehr oder weniger klar.

„…Sylvester alleine. Gestern Abend kam mal wieder keine Mail, wie so oft in letzter Zeit. Ich frage mich, warum kann ich ihr eine Gute Nacht Mail schreiben, wenn ich auf einem Geburtstag bin, sie mir aber nicht, wenn sie bei einer Freundin ist, deren Hund angeblich gestorben ist. Darauf gibt es eigentlich nur 2 plausible Antworten und beide gefallen mir nicht. Erstens, ich bin ihr dermaßen unwichtig, dass sie gar nicht erst daran denkt. Zweitens, diese Freundin ist männlich…Ich hoffe, ja ich bete, dass es nicht so ist, weil ich ihr im Grunde meines Herzen vertraue. Sie hat einen Riesenbonus bei mir. Ich kenne sie 26 Jahre und obwohl ich sie davon viele Jahre nicht gesehen habe, in denen sie sich sicher verändert hat, in denen sie viel, bestimmt nicht immer schönes erlebt hat, ist sie für mich immer noch dieselbe wie damals…“

Etwas später schrieb der Mann über den Verlauf der Silvesternacht:

„…Es ist jetzt kurz vor 24 Uhr und wie zur Bestätigung kommt ihre Antwort auf meine Mail. Kein „Frohes neues Jahr“, nichts, was mich auch nur im Ansatz etwas Liebevolles oder Freundliches hätte, kein Gedanke an mich. Suchte ich nach einem Grund, diese Beziehung zu beenden, jetzt hätte ich ihn. Zusammen mit dem, was noch passiert ist, oder besser sein könnte, wäre das mehr als ausreichend. Warum ich es dann nicht mache und das neue Jahr ohne diese Gedanken starte? Weil Angst oder ein Gefühl zu wenig ist. Was, wenn ich ihr am Ende doch Unrecht tue?

“…Ich liebe sie und will sie nicht schon wieder verlieren und schon gar nicht deswegen, weil ich hier womöglich nur Geister sehe. Ich hätte sie fragen sollen, ob wir uns heute Abend sehen, aber ich hatte zu große Angst vor ihrer Antwort. Andererseits warum soll ich sie fragen, wenn ich spüre, dass sie es nicht möchte. Aber so wie es mir heute ging, war es am Ende sogar das Beste. Ich will nicht, dass sie mich so sieht und Fragen stellt, die ich seit 2 Monaten versuche zu vermeiden. Vielleicht geht es mir in den nächsten Wochen wieder besser und bei der nächsten Untersuchung und allen folgenden ist auch alles wieder einigermaßen ok und ich muss ihr nie davon erzählen, das Leben geht ja wie gehabt weiter.“

Mit derart dunklen Gedanken und unter solchen Umständen in ein neues Jahr zu starten musste grausam sein. Doch es waren weniger seine Vermutungen über die vermeintlichen Ursachen ihres Verhaltens, die zuerst meine besondere Aufmerksamkeit erregten. Es waren die Worte: „die nächste Untersuchung“ und „ihr nie davon erzählen“. Was konnte der Mann damit gemeint haben? Während der Wochen im Spätherbst, in denen ich den Mann fast täglich bei seinen Spaziergängen beobachtete, hatte ich nie den Eindruck gewonnen, dass es ihm in irgendeiner Form schlecht ging oder er gar krank sein könnte. Möglicherweise hatte er nur eine für diese Jahreszeit übliche Grippe oder er fühlte sich sonst in irgendeiner Form unwohl. Das Männer, bis auf wenige Ausnahmen, es im Allgemeinen nicht besonders schätzten, wenn ihre Freundin sie krank und somit geschwächt zu Gesicht bekamen, entsprach durchaus meiner Vorstellung. Auch ich war, wenn ich mich nicht wohlfühlte oder krank war, was zugegebenermaßen außerordentlich selten vorkam, am liebsten alleine. Bei genauerer Betrachtung sprach allerdings einiges gegen die Vermutung, es handelte sich lediglich um eine Grippe oder ähnliches. Kaum jemand mit einer Grippe hat mehrere Untersuchungstermine über Wochen. Es musste also etwas Ernsteres sein, das ihn in den letzten Wochen beeinträchtigt hatte. Vielleicht eine Lungenentzündung oder etwas in der Art. Die andere Frage, die sich mir stellte war, woher kamen seine massiven Zweifel an ihrer Treue? Während der 8 Monate, in den sich die beiden nicht gesehen hatten, gab es wiederholt E-Mails, die sie nicht oder erst mit reichlicher Verzögerung beantwortet hatte. Damals war ein anderer Mann in ihrem Leben für ihn nie ein Thema gewesen und mit Ausnahme ihrer wiederholten Besuche bei ihrem Exfreund im Sommer, hatte es nie Anzeichen dafür gegeben, dass der Mann auch nur den leisesten Zweifel an ihre Treue hatte. Ich hoffte, dass mir sein Eintrag über Neujahr mehr Klarheit verschaffen würde, aber stattdessen hinterließ der Mann mir ein weiteres Rätsel.

„…. Ich wäre heute gerne neben ihr aufgewacht. Der erste Morgen im Jahr hat etwas Bedeutungsvolles. Ich erinnere mich, wie sie sich selbst als Glucke beschrieben hat und bei mir? Eher eine Kuckucksmutter seit Wochen…… Sie hat, glaube ich, auch nicht verstanden, was ich ihr damit sagen wollte, dass ich heute Casablanca und Harry und Sally angeschaut habe.“

Was wollte der Mann seiner Freundin mit diesen beiden höchst gegensätzlichen Filmen mitteilen? Beide haben wenig gemeinsam, außer dass es um Beziehungen geht, deren Anfänge mehrere Jahre zurückliegen. Während Rick am Schluss von „Casablanca“ seine Ilsa mit Victor Lazlo in das Flugzeug steigen lässt, weil er entschieden hatte, es sei das Beste für alle Beteiligten, gibt es bei Harry und Sally am Ende, nach Jahren des Hin und Her, mit Harrys denkwürdigen Satz: „Wenn man begriffen hat, dass das der Mensch ist, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen will, dann will man das der Rest des Lebens so schnell wie möglich beginnt“, ein Happy End. Es war offensichtlich, dass der Mann seiner Freundin mit diesen Filmen etwas mitteilen wollte, ich konnte mir aber nicht auf Anhieb erklären was. Unter Umständen, dass er ebenso wie Rick und Harry vor einer wichtigen Entscheidung stand und seine Freundin diese Anspielung überhaupt nicht verstanden hatte. Ehrlicherweise musste ich zugeben, dass auch ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Mir war nur klar, dass diese fein versteckte Nachricht irgendwie im Zusammenhang mit dem Satz des Mannes Ende Oktober im Park und seinem an Silvester geäußerten Misstrauen zu verstehen sein musste. Für den Mann schien es um die Frage zu gehen, in welche Richtung sich diese Beziehung entwickeln würde. Insofern waren die beiden Filme sehr gut gewählt. Je länger ich über das Ganze nachdachte, desto wuchs in mir die Sicherheit, die getrennt verbrachten Feiertage konnten nur ein Symptom, des eigentlichen Problems sein. Es musste etwas geben, dass er ihr gegenüber, wenigstens im Augenblick, nicht direkt erwähnen wollte. Das wiederum führte mich zurück zu seiner Aussage, dass es ihm an diesen Tagen nicht besonders gutgegangen war zurück. Obwohl alle Überlegungen, was mit dem Mann sein konnte, rein spekulativ waren, ertappte ich mich dabei, wie ich begann sämtliche denkbaren Varianten im Kopf durchzuspielen, bis ich auf eine Frage stieß. Wäre der Mann schon länger ernsthaft erkrankt gewesen, weshalb hätte er dann noch vor wenigen Monaten so um sie kämpfen sollen, wenn er damals schon gewusst hätte, dass diese Beziehung ohnehin nicht länger als ein paar Monate dauern würde? Außerdem hätte sie eine schwerwiegende Krankheit gewiss bemerkt und dies wenigstens in einer E-Mail thematisiert. Das konnte gar nicht anders sein. Nein, das ergab alles keinen Sinn. Also ging es doch um den unbekannten Dritten, der plötzlich in ihrem Leben aufgetaucht war und in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte? Das erschien mir wesentlich wahrscheinlicher und denkbare Varianten gab es genug. Den Ex-Freund, jemand den sie während der Messe kennengelernt hat oder ein ganz anderer, den sie zum Beispiel bei einem Spaziergang mit ihrem Hund zufällig kennengelernt hatte. Alle diese Überlegungen hatten jedoch eines gemeinsam. Sie passten nicht zum Verlauf der Geschichte. Zudem waren sie bei meinem augenblicklichen Kenntnisstand rein theoretisch und beruhten außerdem auf meiner persönlichen Einschätzung ihrer Person. Unabhängig davon, worum es hier ging, es war eine unumstößliche Tatsache, dass im vierten Quartal 2012 mindestens eine grundlegende Veränderung in seinem Leben eingetreten sein. Eine derart drastische Veränderung, die sein ganzes Leben auf den Kopf stellte und von der seine Freundin, wenn sie nicht der Auslöser dafür war, bislang nichts wusste. Daran bestand kein Zweifel. Nur ohne Kenntnis dieser Veränderung, war der Sinn seines Hinweises mit den beiden Filmen nicht zu verstehen. Es war unmöglich. Doch im Gegensatz zur seiner Freundin hatte ich zwar den unschätzbaren Vorteil, sein Tagebuch zu lesen können. Mir war deutlich geworden, dass ich seine Tagebücher aus dem Jahr 2011 so schnell es ging zu Ende lesen musste, um mich anschließend unverzüglich jenen aus dem vierten Quartal 2012 widmen zu können. Gleichzeitig zeigte mir was ich gelesen hatte, dass mich mein Instinkt nicht im Stich gelassen hatte. Die Geschichte der beiden war außergewöhnlich. Außergewöhnlich genug, um ein Buch darüber zu schreiben und ich war gespannt, welche Überraschungen im weiteren Verlauf mich noch erwarten sollten. Meine Vorfreude wurde jäh von einer hungrigen Maria unterbrochen, die urplötzlich in der Türe meines Arbeitszimmers stand. Über das Lesen des Tagebuchs hatte ich vollkommen das Gefühl für Zeit verloren. Es war mittlerweile kurz vor 20 Uhr und Maria hatte jetzt verständlicherweise Hunger. Während ich uns Spaghetti aglio e olio zubereitete, dachte ich nochmal über das Gelesene des heutigen Tages nach. Dass man eine attraktive Frau, wie es seine Freundin für eine Vielzahl von Männern bestimmt war, selten für sich alleine hatte war zwar klischeehaft, entsprach durchaus dem, was gerne allgemeine Lebenserfahrung nennt. Auch das man sich in einem schwachen Moment oder in einer schwierigen Phase zu seinem Ex-Partner, egal wie diese Beziehung gewesen war, hingezogen fühlt, lag ebenso im Bereich des Möglichen. Aber irgendwie erschien mir diese Lösung zu einfach. Zudem hatte sich der Mann zu diesem Thema eher vage und vorsichtig geäußert. Hat man einen begründeten Verdacht, sprach man diesen, besonders in seinem Tagebuch auch direkt an. Davon war ich überzeugt. Also doch eine ernsthafte Krankheit und ihre vermeintliche Untreue lediglich das Ergebnis falsch verstandener E-Mails? Das führte mich zu einer generellen Frage. Wie kann es möglich sein, eine ernste Krankheit vor seinem Partner geheim zu halten? Dazu muss man ein ausgezeichneter Schauspieler sein und über sehr viel Disziplin verfügen. Das wichtigste aber ist, man vermeidet die Gegenwart seines Partners soweit es geht. Am besten alles zusammen. Diese Taktik barg jedoch eine große Gefahr. Was, wenn der Partner das Verhalten in Unkenntnis falsch interpretiert, empfindet es als Ablehnung empfindet und sich einem anderen zu wendet. Jetzt hatte ich mich gedanklich einmal im Kreis gedreht, ohne einer Lösung näher gekommen zu sein.

   Als ich das fertige Essen in das Esszimmer brachte, saß Maria bereits ungeduldig auf ihrem Stuhl. Ansatzlos verschlang sie die erste Portion, ohne dabei auch nur ein Wort zu sprechen. Erst während ihrer zweiten Portion begann Maria sich mit mir zu unterhalten. Sie erkundigte sich, wie ich mit der Arbeit an meinem Buch vorangekommen war und ob sie noch bis zum 7. Januar bleiben dürfte. Das bedeutete für mich weitere fünf Tage 24 Stunden Beziehung. Ein Zustand, den ich normalerweise nicht für besonders erstrebenswert erachtete. Anderseits konnten es auch weitere fünf, durchaus sehr angenehme Nächte mit Maria werden. Nach kurzer Überlegung willigte ich, sehr zur Freude von Maria, ein. Im Anschluss an das Abendessen machten wir uns es auf dem Sofa gemütlich. So gemütlich, dass wir kurz darauf in mein deutlich bequemeres Bett umzogen. An diesem Abend verschwendete ich keinen weiteren Gedanken mehr an den Mann und seine Freundin.

  Die folgenden Tage befasste ich mich nicht weiter mit dem, was ich bislang über den Mann und sein Leben erfahren hatte. Obwohl seine Aufzeichnungen von Silvester und Neujahr besorgniserregend waren, weigerte sich etwas in mir, mich im Augenblick weiter mit diesem Thema zu beschäftigen. Ich redete mir ein, alles sacken lassen zu müssen, um wieder den notwendigen Abstand zu gewinnen. Während Maria diese fünf Tage weiter an ihrer Semesterarbeit arbeitete, verbrachte ich die Zeit mit Lesen, Musik hören und dem Anschauen alter Filme, bevor ich gegen 19 Uhr in die Küche ging. Kochen gehörte seit ein paar Jahren ebenfalls zu meinen Hobbys und in meiner neuen Küche machte mir das Kochen noch wesentlich mehr Spaß. Jeden Abend kochte ich uns, sehr zur Freude von Maria, ein mehr oder weniger aufwendiges Essen, bevor wir, sehr zu meiner Freude, zum gemütlichen Teil des Abends übergingen. Als Maria mein Haus am Abend des 7. Januar wieder verließ, hielt sie sich zu meinem Erstaunen an unsere Abmachung und ließ keine Gegenstände in meinem Bad zurück.