Der Mann mit dem Hund: Drei W̦lfe РKapitel 11 РNeonlichter

Wie jedes Jahr, wenn Geraldines Geburtstag am 30. Juni näher rückte, stand ich auch diesmal vor der Frage, wie ich mit diesem Tag umgehen sollte. Einerseits wurde sie nicht müde zu betonen, wie unwichtig ihr der eigene Geburtstag sei. Anderseits, beachtete man ihn nicht, oder schickte nur eine unpersönliche, lieblose „Alles Gute“-SMS bekam man ihre Enttäuschung deutlich spüren. Da ihr Geburtstag in diesem Jahr auf einen Sonntag fiel und sie somit sicherlich Zeit hatte, wollte ich nicht nur mit ihr Abendessen gehen und sie entgegen meiner Gewohnheit auch einladen, sondern ihr zusätzlich ein kleines Geschenk machen. Aus einem Grund, über den ich mir selbst nicht ganz klar war, erschien mir das in diesem Jahr wichtig zu sein. Was aber schenkt man einer Frau, die weder Blumen noch Süßigkeiten mag, kaum Zeit zum Lesen hat und ansonsten alles hat oder sich selbst kauft. Normalerweise gehöre ich, ohne zu übertreiben, zu den kreativen Schenkern. Zu denen, die stets die richtige Idee hatten. Aber bei Geraldine wollte mir nichts Passendes einfallen. Meine Ideen waren entweder zu albern, viel zu persönlich, wenn man den Status unseres Verhältnisses betrachtete, oder in der Kürze der Zeit nicht umsetzbar. Pendelnd zwischen Einfallslosigkeit und Hilflosigkeit versuchte ich stundenlang ohne nennenswerten Erfolg online auf diversen Geschenkeportalen mein Glück, bis ich mich wieder an die Idee mit der Orchidee erinnerte. Es waren nur noch zwei Tage bis Geraldines Geburtstag und es wurde höchste Zeit, die Orchidee zu besorgen. Nachdem ich am frühen Vormittag meine üblichen Einkäufe erledigt hatte, fuhr ich zu einem Blumenladen, der für seine große Auswahl an Orchideen bekannt war. Ich wollte für Geraldine eine außergewöhnliche Orchidee. Nicht die übliche Phalaenopsis, die man mittlerweile in fast jeder Wohnung findet und die Geraldine bereits besaß. Die in jedem Blumengeschäft, oder Pflanzenabteilung eines Baumarktes zu bekommen war. Es sollte eine ganz besondere Orchidee sein. Eine bemerkenswert freundliche Verkäuferin kümmerte sich mit viel Geduld um mein Anliegen, zeigte mir die verschiedenen Orchideenarten und erklärte mir ihre Unterschiede. Meine Wahl fiel am Ende auf eine Rossioglossum Grande, eine selten anzutreffende Art mit bis zu 15 cm großen rot-gelben Blüten. Von meiner Wahl angetan, mutmaßte die Verkäuferin, dass diese wundervolle Orchidee bestimmt für eine ganz besondere Frau sein müsse, die ihre Bedeutung mit Sicherheit zu schätzen wisse. Im Übertopf, passend zur Einrichtung ihrer Wohnung und liebevoll als Geschenk verpackt machte ich mich mit der Orchidee, in dem guten Gefühl die richtige Wahl für Geraldine getroffen zu haben, auf den Heimweg. Somit blieb nur noch die Frage des Abendessens offen. Mir persönlich war die italienische Küche am liebsten, aber an diesem Abend standen Geraldines Vorlieben im Vordergrund und nicht meine. Zur Wahl stand ein französisches oder thailändisches Restaurant. Ein Bekannter hatte mir unlängst voller Begeisterung von einem neuen thailändischen Restaurant erzählt. Da ich mir sicher war, dass Geraldine dieses Restaurant noch nicht kannte, reservierte ich uns für Sonntagabend dort einen Tisch. Ich wollte mir gerade in der Küche einen Kaffee holen, als mein mich piepsend auf eine neue E-Mail aufmerksam machte. Ihr Absender war Geraldine. Sie schrieb, dass der Direktor für Sonntag kurzfristig eine Sitzung der Ressortleiter angesetzt hatte und sich ihr Wochenende somit erledigt hatte. Zunächst war ich nur traurig über diese unerwartete Nachricht, dann spürte ich, wie die Enttäuschung in mir hochkroch. Ich ging in meine Küche, goss mir eine Tasse Kaffee ein und starrte minutenlang aus dem Fenster. Den restlichen Samstag verbrachte ich hauptsächlich mit der Arbeit an meinem Roman. Die Geschehnisse ab März hatten eine derartige Dynamik, dass es noch schwerer war sie in Worte zu fassen, als bisher. Chronologisch jedes Ereignis, nebst Vorgeschichte richtig einzuordnen war schon schwer genug. Aber alles sowohl rational, als auch emotional zu entwirren, stellte sich als immer größer werdendes Problem heraus. Gegen Abend entschied ich mich, die Arbeit an meinem Buch für heute zu beenden und mit einem Freund Abendessen zu gehen. Trotz der anstrengenden Arbeit an meinem Roman und des unterhaltsamen Abends, blieb die Enttäuschung über Geraldines Geburtstag den ganzen Tag in mir präsent und begleite mich bis ins Bett.

   Am Sonntagmorgen schlief ich aus und nachdem ich in aller Ruhe gefrühstückt hatte, gratulierte ich gegen 14 Uhr Geraldine mit einem lieblosen Standardtext per SMS zu ihrem Geburtstag. Ich hatte mir mit den Glückwünschen bewusst Zeit gelassen, um bei ihr nicht den Eindruck zu erwecken, dass mir ihr Geburtstag besonders wichtig sei. Der Wahrheit näher kam, ich hatte mir deshalb Zeit gelassen, um dann einen unpersönlichen Standardtext zu versenden, weil ich enttäuscht und ein wenig beleidigt war. Auch die angeblich unvermittelt angesetzte Sitzung an einem Sonntag erschien mir immer fragwürdiger. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass es in ganz dringenden Fällen sonntags Sitzungen gab. Aber nur, wenn irgendwo der Welt eine aktuelle Sicherheitslage vorlag. Während meiner langen Zeit in der Firma hatte ich von Sitzungen an einem Sonntag nur dreimal gehört und augenblicklich bot die weltpolitische Lage keinerlei Anlass für eine derart dringende Sitzung. Der einzige, einigermaßen plausible Grund der in Betracht kam, wären die Umtriebe eines Schwesterdienstes, die seit Wochen durch die Presse geisterten. Normalerweise lösen die aber ihre Probleme alleine und die Firma beschäftigt sich eigentlich nicht mit ihnen. Abends, es war bereits weit nach 22 Uhr, traf endlich eine Antwort von Geraldine ein. Sie bedankte sich knapp für meine Glückwünsche und schrieb, dass sie kurzfristig mit ihrer Schwester etwas Trinken gegangen sei. Obwohl mir bewusst war, dass Geraldine keinesfalls mit einer Geburtstagsüberraschung meinerseits gerechnet haben konnte und diese angebliche Sitzung durchaus stattgefunden haben könnte, war ich mittlerweile derart beleidigt, dass ich beschloss, mich die nächsten Tage nicht bei ihr zu melden.

   Als ich am nächsten Morgen zum Frühstücken in meine Küche kam, stand die Orchidee noch immer auf der Anrichte. Persönlich machte ich mir nicht viel aus Orchideen. Ich hatte zwar einige Zimmerpflanzen, aber fast ausschließlich Palmen oder andere Bäume. Die Idee, Geraldine die Orchidee als nachträgliches Geburtstagsgeschenk abends vorbei zu bringen, verwarf ich so schnell wieder, wie sie gekommen war. Da ich genau wusste, wie sehr Geraldine unangemeldete Überraschungsbesuche hasste, hatte ich für mich auch gleich eine passende Ausrede parat. Ich entschied mich, die Orchidee zu behalten, packte sie aus und stellte sie auf das Sideboard in meinem Esszimmer. Geraldines Geburtstag hatte sich damit für mich erledigt. Es wurde Zeit, dass ich mich wieder der Arbeit an meinem Buch zuwandte. Seit vergangenen Donnerstag hatte ich nicht mehr im Tagebuch des Mannes gelesen. In den zwei Monaten seit der Trennung, besonders aber nach dem Brief hatte sich die Art wie er schrieb, wiederholt verändert. Phasenweise waren seine Aufzeichnungen auf eine beunruhigende Weise dunkel und depressiv geworden, wenngleich seine Hoffnung nie ganz zu verschwinden schien. Dazwischen gab es immer wieder Einträge, die erkennen ließen, dass der Mann sich noch nicht aufgeben hatte. So schwer mir das Lesen seines Tagebuchs in den letzten Wochen hin und wieder gefallen war, diese Einträge machten mir auf unerklärlicherweise Hoffnung. Zunächst erfuhr ich, dass er die gesamte Woche im Krankenhaus verbringen würde. Bis Mitte April erwähnte er solche Termine wesentlich früher. Aber zu dieser Zeit beschäftigte ihn neben seiner Krankheit überwiegend seine Freundin. Doch dafür bestand jetzt keine Notwendigkeit mehr. Obwohl er seine ehemalige Freundin beinahe jeden Tag erwähnte und die Sätze über sie bis heute die schönsten in seinem Tagebuch waren, war sie bezüglich seiner Arzttermine kein Thema mehr für ihn. Sie war fort, er hatte sein Ziel erreicht. Einen der bemerkenswertesten Einträge den ich je in seinem Tagebuch gelesen hatte und der sich von allen anderen in den letzten Wochen deutlich abhob, hatte der Mann am Samstagabend geschrieben. An diesem Abend hatte er zwei Episoden seiner Lieblingsserie „Band of Brothers“ angesehen. Eine dieser Episoden trug den Titel „Warum wir kämpfen“ und dieser Titel hatte ihn zu einem überaus beachtenswerten Gedanken inspiriert.

„Ich habe heute Abend zwei Folgen „Band of Brothers“ angeschaut. „Warum wir kämpfen“ war der Name einer Episode. Das hat mich nicht mehr losgelassen. Warum kämpfen wir? Wofür kämpfen wir? Für Überzeugungen und Glaube, aus Verantwortung und aus Liebe. Lohnt sich der Kampf jemals? Kann er sich überhaupt lohnen? Für alles was man liebt und an das man glaubt, lohnt es sich immer. Stellt man sich aber diese Frage, stellt man in Wahrheit seine Gefühle, seine Überzeugung in Frage. Welcher Verlust ist dabei akzeptabel? Keiner und doch sind sie oft unumgänglich und nicht vermeidbar. Dürfen wir deshalb aufhören zu kämpfen? Wenn wir immer nur die Verluste sehen, so tragisch diese auch sein mögen, werden wir eines Tages aufhören, für das zu kämpfen, woran wir glauben, wofür wir stehen. Dann brauchen wir aber auch an nichts mehr zu glauben. Weder an Ideale noch an Gefühle. Dann aber sind wir innerlich tot und die Frage, warum kämpfen wir, wird sich uns nie wieder stellen.“

Tief bewegt von diesem außergewöhnlichen Eintrag ließ ich mich in die Lehne meines Schreibtischstuhls zurückfallen und atmete tief durch. Ich versuchte zu umreißen, was der Mann geschrieben, vor allem was er damit gemeint hatte. Bedeutete dieser Eintrag, dass der Mann bereit war einen scheinbar aussichtslosen Kampf aufzunehmen, oder war er lediglich erklärend in die Vergangenheit gerichtet? Mitten in meinen Gedanken, unterbrach mich piepend mein Handy. Eine reichlich unerwartete SMS von Geraldine. Sie schrieb, den Ablauf ihres Geburtstags nochmals erklärend, dass sie im Anschluss an das Meeting noch etwas trinken gehen wollte und die einzige, die an ihrem Geburtstag Zeit für sie gehabt hätte, sei ihre Schwester gewesen. Weiter schrieb sie, dass sie hoffte, ich hatte einen schönen Sonntag gehabt. Auf die Idee mich zu fragen, ob ich Zeit für sie hätte, schien Geraldine offensichtlich gar nicht gekommen zu sein. Kurzzeitig begann ich mich wieder über Geraldine und den Ablauf ihres Geburtstages zu ärgern. Mit der Erkenntnis wohl doch nur einer unter vielen in Geraldines Leben zu sein, lange nicht so wichtig, wie sie gerne vorgab, antwortete ich ihr knapp: „Hatte einen schönen Tag. Bis dann!“. Dank Geraldines SMS und der damit verbundenen ärgerlichen Erinnerung an ihren Geburtstag, hatte ich meine Gedanken zu dem Eintrag des Mannes verloren. Dafür beschäftigte mich etwas Anderes. Obgleich ich schon viel zu viele Krankenhäuser gesehen hatte, wollte ich wissen, wie diese Klinik aussah, in der der Mann die Woche zubringen würde. War es eine wie jede andere? Oder unterschied sie sich aufgrund ihrer Spezialisierung oder sonstigen Gründen von den gewohnten, den meisten von uns bekannten?

   Kurzentschlossen machte ich mich am nächsten Morgen auf den Weg. Die Adresse hatte ich den bei meinem ersten Besuch in seiner Wohnung abfotografierten Dokumenten entnommen. Obwohl die Fahrtzeit knapp 2 Stunden betrug, wollte ich mir sie anschauen, um sie in meinem Buch besser beschreiben zu können. Es ist überaus schwierig über Orte zu schreiben, an denen man nie war. Außerdem war es an der Zeit den Dodge, der seit seiner Rückkehr vom Sattler in meiner Garage auf mich wartete, endlich eine längere Strecke zu bewegen. Nach nahezu 2 Stunden Fahrzeit, bei perfektem Wetter für eine Fahrt im Cabrio, erreichte ich mit halb leerem Tank die Klinik. Der Verbrauch des Challenger war genauso unverschämt, wie der Klang seines V8 Motors. Ich suchte mir einen etwas abgelegenen Parkplatz und schaute mir in aller Ruhe das Gebäude an. Es war eine dieser modernen Klinikbauten mit viel Glas. Einen Augenblick zögerte ich, bevor ich hineinging und ein wenig durch die Gänge lief. Sie waren freundlich in hellen warmen Pastelltönen gehalten und nur wenigen Stellen, die scheinbar zwingend notwendig waren, waren weiß gestrichen. Ungewöhnlich waren auch die vielen Pflanzen, die die kleinen Sitzgruppen am Anfang und Ende jedes Flures umgaben. Diese Pflanzen schafften eine freundliche Atmosphäre, die mich so gar nicht an die mir bekannten Krankenhäuser erinnerte. Während ich durch die Gänge ging bemerkte ich, dass die Flure auch heutzutage noch mit dem kalten Weiß von Neonlichtern beleuchtet wurden. Wie oft hatte ich diese Lampen in verschiedenen Krankenhäusern schon gesehen, genauer gesagt sehen müssen? Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich der Mann fühlen musste. Alleine hier, ohne seinen Hund und seine Katze, vor allem aber ohne seine Freundin. Nachdem ich mich noch ein wenig umgesehen hatte, verließ ich das Gebäude wieder und setzte mich auf eine Parkbank im angrenzenden Garten des Krankenhauses. Eine leichte Brise machte den Aufenthalt in der warmen Sonne des frühen Nachmittags angenehm. Ich blickte mich in dem Garten um. Er war sehr gepflegt und verfügte neben einigen Bänken über einzelne Sitzgruppen, die durch verschiedene Hecken von den Wegen abgetrennt und so vor neugierigen Blicken geschützt waren. Es gab sogar einige Rosen. Keine besonderen, aber immerhin Rosen. War er nun alleine, oder war er einsam, fragte ich mich. Es war seine Entscheidung, seiner Freundin nichts von alldem zu erzählen und alleine hier zu sein. Aber war er deswegen einsam? Ich war mir nicht sicher. Ich blieb noch etwa 1 Stunde auf der Parkbank sitzen, genoss die Sonne und dachte darüber nach, was Geraldine bei unserem Abendessen über Mitleid gesagt hatte. Konnte es nicht sein, dass der Mann sich unterbewusst auch deshalb dafür entschieden hatte diesen Weg alleine zu gehen, weil er unter den Eindrücken der letzten Monate fürchten musste, dass sie nur aus Mitleid, oder was noch schlimmer wäre, ihm Liebe vorheuchelnd, bei ihm geblieben wäre und er nicht mehr weiter von ihr verletzt werden wollte? Nach wie vor gab es keinen hieb- und stichfesten Beweis für diese Befürchtungen, dennoch und davon war ich überzeugt, egal was Geraldine eingewandt hatte, sprach das Verhalten seiner Freundin, bis auf einige unerklärliche Ausnahmen, eine eindeutige Sprache. Sie interessierte sich für ihn und sein Leben, wenn man alles objektiv und sachlich betrachtete, nur am Rande. Das war für mich eindeutig. Genauso eindeutig, wie sie nie an diesen Ort gekommen wäre. Selbst wenn sie von der Krankheit des Mannes gewusst hätte.

   Auf der Fahrt nach Hause gingen mir diese Neonlichter nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte sie liegend als Patient, stehend oder sitzend und stundenlang auf Nachricht wartend als Besucher gesehen. Doch niemals zuvor waren sie so in mein Bewusstsein gerückt, wie heute. Kaltes, unpersönliches, weißes Licht. Ein Licht, in dem niemand sich gerne aufhält. Konnte das unterbewusst mit eines der Motive des Mannes sein? Unter Umständen konnte ihm allein der Gedanke, dass seine Freundin auf ihn, oder auf Nachricht von ihm wartend, in diesem Licht sitzen würde, zutiefst zuwider sein. Möglicherweise wollte er nicht, dass seine Freundin an sonnigen Tagen wie heute, in diesem kalten Licht ausharren musste, während draußen das Leben unbeeindruckt von dem, was sich in dieser Klinik abspielte weiterging. Mir war klar, dass man darüber durchaus anderer Ansicht sein konnte. Viele Menschen werden lieber tagelang in diesem kalten weißen Neonlicht sitzen, als den Freund oder Partner hier alleine zu lassen. Vollkommen egal, was dieser darüber gesagt hatte und ob er sie hier haben wollte oder nicht. Wer weiß, vielleicht gehörte seine ehemalige Freundin, entgegen meiner Einschätzung, doch zu dieser Gruppe? Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, wie noch vorhin auf der Parkbank.

   Zuhause angekommen, notierte ich meine Eindrücke und Überlegungen sofort. Noch war ich mit der Arbeit an meinem Manuskript lange nicht soweit, dass ich über diesen Tag schreiben werde, aber ich wollte meine Eindrücke und Gedanken des heutigen Tages für diesen Zeitpunkt festhalten. Kaum hatte ich meine Notizen zur Seite gelegt, ging mir erneut die Frage durch den Kopf, wie ich mich verhalten würde, wenn ich eine solche Krankheit hätte. Würde ich mit meiner Freundin darüber reden? Zugegeben eine hypothetische Frage, da ich meine Freundinnen grundsätzlich immer, soweit es ging, aus meinem Leben herausgehalten hatte. Mit Ausnahme von Geraldine. Obgleich auch sie längst nicht alles über mich wusste, da nach meiner Überzeugung Wissen und besonders intimes Wissen angreifbar und verletzbar macht, war sie doch der Mensch, der mir am nächsten stand. Aber würde ich mit ihr ein so persönliches Thema besprechen? Unter dem Eindruck der Ereignisse an ihrem Geburtstag, war ich mir nicht mehr sicher, wie noch vor einiger Zeit. Zwar wurde Geraldine nicht müde zu betonen wie wichtig ich ihr war, doch sprach ihr diffuses, launenhaftes Verhalten häufig genug eine andere Sprache. Der Verlauf ihres Geburtstags war ein deutliches Beispiel dafür. Ihre Worte und ihre Handlungen fielen oft meilenweit auseinander. Im Prinzip verhielt sie sich oft nicht anders, als die Freundin des Mannes. Zudem war ich unsicher, ob Geraldine einer solchen Situation überhaupt gewachsen wäre. Wahrscheinlich nicht. Trotzdem war sie der einzige Mensch, den ich in Betracht ziehen würde, wenn ich mit jemandem reden wollte. Ein Gedanke, der mich nachdenklich stimmte.

   Durch den Klinikaufenthalt des Mannes, der eigenartigen Stille seitens Geraldine seit meiner Antwort auf ihre letzte SMS und dem seit Dienstagnacht herrschenden Dauerregen hatte ich ruhe und nutzte die beiden folgenden Tage, um an meinem Manuskript weiterzuarbeiten. Es steckte immer noch in der Zeit um Mitte März fest und war mir nach wie vor nicht sicher, wie ich diesen Spaziergang und dieses sich daran anschließende Lied per E-Mail einzuordnen hatte. Am frühen Freitagvormittag hatten sich die letzten Regenwolken endlich verzogen und es war noch ein herrlicher Sommertag geworden. Ich hatte den ganzen Nachmittag auf meiner Terrasse zugebracht. An warmen sonnigen Tagen arbeitete ich gerne draußen. Immer, wenn mir die richtigen Worte fehlten und das war an diesem Tag oft der Fall, kümmerte ich mich um meine Rosen. Der Rosengarten war der schönste Teil meines Gartens geworden. Der Bereich, in dem ich mich am liebsten aufhielt. Während ich die ersten verblühten Rosen abschnitt, dachte ich gefühlt zum hundertsten Mal über diesen Brief nach, den der Mann vor einigen Wochen geschrieben hatte. Bis heute konnte und wollte ich nicht glauben, dass er ihn wirklich abgeschickt hatte. Er hatte damit alles zerstört, was er wochenlang behutsam aufgebaut hatte. Insgeheim wünschte ich mir, dass der Brief nur eine Art Absicherung war, falls eine bestimmte, mir nicht bekannte, Situation eintreten sollte. Das der Mann ihn niemals weggeschickt hatte. Auch warum von ihr keine Reaktion erfolgt war beschäftigte mich wieder und wieder. Auf einen solchen Brief musste eine Reaktion erfolgen. Das war in meinen Augen zwingend. Davon war ich nach wie vor überzeugt, egal was Geraldine behauptet hatte. Unabhängig, wie ich zu dem Menschen stünde, hätte ich einen solchen Brief erhalten, hätte ich reagiert. Vielleicht war das aber auch wieder einer dieser Unterschiede zwischen Männern und Frauen, der es uns Männern häufig unmöglich macht, die Gefühle von Frauen wirklich zu verstehen. Meine Gedanken wurden abrupt durch die Frage:
„Was machen ihre Rosen Herr Nachbar?“, unterbrochen.
Mein Nachbar, ein netter Herr um die Ende sechzig, mit lichten grauen Haaren und einem unübersehbaren Bauchansatz, verheiratet mit einer ebenso netten Frau, war in seinen Garten gekommen. Er musste mich beim Schneiden der Rosen beobachtet haben. Wir unterhielten uns ein bisschen über unsere Gärten, die mit ihnen verbundenen Arbeit und die jüngsten Neuigkeiten aus der Nachbarschaft. Im Laufe des Gespräches ließ er mich wissen, dass sie die Einliegerwohnung in ihrem Haus an eine junge Rechtsreferendarin vermietet hatten. Eine äußerst attraktive junge Frau, die ich mir unbedingt ansehen müsste, wie er wiederholt betonte. Es klang ein wenig nach, die könnte doch etwas für sie sein. Nach einer halben Stunde wurde er von seiner Frau zurück ins Haus gerufen. Wir beendeten unser Gespräch und ich kehrte zu meinem Laptop zurück. Gerade als ich begonnen hatte weiter zu schreiben, traf eine E-Mail von Geraldine ein. Sie erkundigte sich freundlich, ob sie sich heute Abend bei mir zum Abendessen einladen dürfe. Sie würde gerne mit mir reden. Erfreut von Geraldine, nach dem letzten doch eher unangenehm verlaufenen Abend, meiner lieblosen Gratulation und meiner kurzen, unpersönlichen SMS so schnell wieder zu hören, antwortete ich ihr umgehend, dass ich mich sehr freuen würde sie zu sehen und sie gerne ab 19 Uhr zu mir kommen kann.

   Pünktlich um 19 Uhr, wie ich es von ihr gewohnt war, klingelte Geraldine an meiner Türe. Wie so häufig in der Vergangenheit brachte sie auch heute eine Flasche ihres Lieblingsweines mit, da ich diesen nie vorrätig hatte. Ich mache mir nichts aus Sauvignon Blanc und hatte ihn deshalb nicht in meinem Weinkeller. Zudem hatte ich nie verstanden, warum Geraldine ausgerechnet diese Sorte so gerne trank. Es gibt andere, nach meiner Auffassung besser Weißweine. Wir gingen in meine Küche, ich stellte den Wein in den Kühlschrank und begann mit den Vorbereitungen für unser Abendessen.
„Über was wolltest du mit mir reden“, wollte ich von Geraldine wissen. „Ich hoffe doch über mein Buch?“
„Nein, über uns“, erwiderte sie und machte dabei ein todernstes Gesicht.
Ich hatte mit allem möglichen gerechnet, aber nicht mit einer unerwarteten Fortsetzung unseres 20 Jahre alten Dramas.
Geraldine begann zu lachen.
„Mach dir keine Sorgen. Das war nur ein Spaß.“
Der Triumph über ihren gelungenen Scherz war deutlich in ihrem Gesicht zu erkennen.
„Aber im Ernst. Ich habe nachgedacht über diesen Brief des Mannes und wollte nochmal mit dir darüber reden.“
„Lass uns das während des Essens machen. In Ordnung?“, entgegnete ich. „Wo möchtest du essen? Auf der Terrasse?“
Geraldine schaute aus dem Fenster in den Himmel.
„Wenn ich die dunklen Wolken dahinten so sehe, denke ich es ist besser, wir essen im Esszimmer, bevor wir nass werden.“
Ich schaute ebenfalls aus dem Fenster und musste Geraldine zustimmen. In den letzten 15 Minuten waren mächtige dunkle Wolken aufgezogen, die in der untergehenden Sonne eigenartig violett schimmerten und ein schweres Gewitter ankündigten. Nachdem ich mit Kochen fertig war, nahm ich unsere Teller und wir gingen in mein Esszimmer. Dabei fiel Geraldines Blick auf die Orchidee, die auf einem Sideboard stand.
„Seit wann hast du denn eine Orchidee?“, fragte sie neugierig, während sie Platz nahm. „Ich dachte du machst dir nichts aus ihnen?“
Ich hatte völlig vergessen, dass die Orchidee, die ich für ihren Geburtstag gekauft hatte, dort wie auf einem Präsentierteller stand. Da mir in diesem Augenblick nichts Besseres einfiel, antwortete ich ihr, dass ich die Orchidee vor einer Woche von einer Bekannten geschenkt bekommen hatte.
„Soso, von einer Bekannten. Ah ja“, kommentierte Geraldine meine Erklärung spöttisch.
„Na wenigstens scheint diese Bekannte nicht wieder zwanzig zu sein.“
Geraldine lachte spitzbübisch, fragte aber zu meiner Verwunderung nicht nach, wer diese Bekannte war. Ziemlich ungewöhnlich für Geraldine und ihre permanente Neugierde.
„Guten Appetit. Übrigens, kennst du die Bedeutung der Orchidee in der Sprache der Blumen?“
„Nein, kenne ich nicht“, erwiderte ich. „Hat sie denn eine besondere Bedeutung? Wenn ja, dann kenne ich sie nicht.“
Das war eine dieser Bemerkungen, die ich mir hätte sparen sollen.
„Natürlich hat sie das“, entrüstete sich Geraldine.
„Eine Orchidee ist das Symbol für Sinnlichkeit und Hingabe. Die perfekte Blume, die Liebe zum Auserwählten des Herzens zu erklären. Sie steht außerdem für Sehnsucht und Leidenschaft. Du hast wieder einmal rein gar nichts begriffen mein Liebling. Wahrscheinlich hätte diese Bekannte noch ein Strauß roter Rosen dazu packen sollen. Aber ich befürchte, auch das hättest du nicht verstanden.“
Ich musste dieses Thema dringend entschärfen und der beste Weg erschien mir, mich ein wenig lustig darüber zu machen.
„Natürlich verstehe ich etwas von Rosen. Ich habe über zwanzig Stück in meinem Garten, auch rote.“
„Darum geht es nicht“, entgegnete Geraldine bestimmt. „Es geht um ihre Bedeutung.“
Mein Ablenkungsversuch war gründlich missglückt und es war klüger einzulenken.
„Mir ist durchaus klar, dass rote Rosen für Liebe stehen. Wie weiße für Trauer und gelbe für Eifersucht. Aber nur, wenn ein Mann einer Frau Rosen schenkt.“
Geraldine schaute mich ungläubig an und fasste sich mit ihrer rechten Hand an den Kopf.
„Willkommen im Zeitalter der Emanzipation, du Spinner. Heutzutage spielt es keine Rolle mehr, ob von Mann zu Frau oder andersherum. Sollte dir nochmal eine Frau eine Orchidee schenken, sag mir bitte Bescheid. Ich werde ihr dann raten, dass sie dir auch noch einen Strauß roter Rosen dazu kauft da du ein wenig begriffsstutzig bist. Am besten noch eine notariell beglaubigte Urkunde.“, fügte sie frech grinsend noch hinzu
Sie machte eine kurze Pause und schmunzelte still vor sich hin, bevor ihr Gesichtsausdruck wieder ernster wurde.
„Aber wie ich dich kenne, nimmst du dann sofort die Beine unter die Arme. Oh Gott, sie kommt mir zu nahe! Bringt mein geordnetes Leben durcheinander und am Ende muss ich sogar noch über meine Gefühle mit einer Frau reden. Hilfe! Aber ich bin mir sicher, dass die Frau, die einem Mann eine Orchidee und rote Rosen gleichzeitig schenkt, weil der Mann ihr so wichtig ist, dass sie auf jeden Fall verstanden werden will, erst noch geboren werden muss! Aber lassen wir das jetzt.“
Ich konnte Geraldine nur zustimmen und anerkennen, dass diese Runde eindeutig an sie ging. Nach diesem, von mir unerwarteten Gesprächsauftakt, aßen wir in Ruhe weiter, bis Geraldine mich fragte, ob sie die letzten E-Mails der Freundin lesen dürfte.
„Ja natürlich“, antwortete ich. „Aber willst du mir vielleicht erklären warum?“
„Später. Wenn ich sie gelesen habe.“, wies Geraldine mein Ansuchen zurück.
Nachdem wir gegessen hatten holte ich mein Laptop aus dem Wohnzimmer. Ein paar Tage zuvor hatte ich sein komplettes Tagebuch und sämtlich E-Mails, nicht nur zur Sicherheit, sondern vor allem deshalb, weil es eine wesentliche Arbeitserleichterung darstellte auf meine Rechner kopiert. Ich öffnete die Datei mit den E-Mails, die die Freundin des Mannes ihm geschrieben hatte und stellte den Laptop direkt vor Geraldine ab. Während ich den Tisch abräumte, die Teller in die Küche brachte, die Spülmaschine einräumte und die Küche aufräumte, las Geraldine in Ruhe die E-Mails. Als ich zurückkehrte war sie gerade mit lesen fertig geworden. Mittlerweile hatte sich der Himmel komplett verdunkelt, es donnerte bedrohlich und heftige Windböen strichen pfeifend um die Hauswand.
„Hast du gefunden, wo nach du gesucht hast?“
„Ja, habe ich und sogar ein bisschen mehr. Hat er ihr jemals geschrieben, dass er sie liebt? Ich meine damit den Satz, ich liebe dich? Wörtlich, nicht nur sinngemäß?“
Ich überlegte kurz.
„Soweit ich weiß nicht. Ein „ich hab dich lieb“, ein paar Mal, aber nicht dauernd. Aber ich liebe dich außerhalb seines Tagebuchs und seiner Gedichte nicht. Warum?“
„Weil das wichtig ist!“, empörte sich Geraldine. „Weil das jede Frau gerne hört, besonders, wenn man einen solchen Mann zum Freund hat, wie sie!“
Obwohl er ihr diesen Satz nie geschrieben und soweit ich es beurteilen konnte, auch nie gesagt hatte, war er doch immer unausgesprochen da. Er war greifbar, überall. Real, wie diese unselige Orchidee auf meinem Sideboard.
„Was soll daran bitte so wichtig sein? Das spürt man doch. Muss das gebetsmühlenhaft wiederholt werden?“, fragte ich Geraldine.
„Außer seinem Tagebuch hast du tausende E-Mails gelesen. Die wichtigsten davon, nämlich ihre, hast du nicht verstanden. Typisch, wie solltest du auch als Mann?“
„Warum sollten ihre wichtiger sein, als seine? Das ist doch unlogisch!“
„Von dem Mann haben wir das Tagebuch und die E-Mails. Wir kennen somit auch seine Gedanken. Von ihr haben wir nur ihre E-Mails. Deshalb sind sie so wichtig. Es ist überaus wichtig, dass wir sie richtig verstehen!“
Geraldine beobachtete meine Reaktion genau, bevor sie fortfuhr.
„Ich übersetze dir eine ihrer letzten E-Mails in eine für Männer verständliche Sprache. Erinnerst du dich an diese E-Mail, in der sie schrieb, es ist keine Frage von Gefühlen, sondern von Dingen, die sie in ihrem Leben nicht mehr haben möchte?“
„Ja sicher tue ich das“, antwortete ich Geraldine leicht mürrisch und dachte dabei daran, dass seine Freundin nicht die leiseste Ahnung davon hatte, wie dieser Satz in der Situation des Mannes in seinen Ohren geklungen haben musste.
„Das heißt nichts anderes, als ich liebe dich, aber ich kann nicht mehr.“ erklärte Geraldine die Besonderheiten weiblicher Ausdrucksweise.
„Für mich klingt das nicht besonders logisch. Eher weiblich widersinnig“, entgegnete ich wissend, dass ich sie mit dieser Bemerkung herausforderte. „Warum sollte ich mich von jemand trennen, den ich liebe? Das ist doch paradox. Auch wenn sich diese Person in der letzten Zeit seltsam verhalten hat. Die Ausnahme sind natürlich solche Gründe, wie sie der Mann hat.“
Geraldine schaute mich ungläubig an.
„Tust du nur so, oder begreifst du das wirklich nicht?“
„Doch“, erwiderte ich gelassen. „Ich kann das in bestimmten Grenzen nachvollziehen, aber nicht begreifen. Außerdem nimmst du exemplarisch eine E-Mail heraus und lässt dabei hunderte anderer außer Acht.“
Ich ging innerlich bereits in Deckung, doch statt der zu erwartenden empörten Reaktion auf meine Kritik an ihr, folgte eine für Geraldine außergewöhnliche Antwort.
„Vielleicht hast Du damit Recht und man muss alle ihre E-Mails im Zusammenhang sehen. Das ändert aber trotzdem nichts an dem Inhalt dieser letzten E-Mail.“
Sie trank einen Schluck Wein und schien dabei zu überlegen.
„Ein Freund von mir ist Leiter der Datenanalyse. Ich könnte ihm sämtliche E-Mails der beiden zur Analyse geben. ConInt findet jeden Zusammenhang. Es wäre sicher interessant, was dabei zu Tage kommt. Allerdings kann das eine Zeit dauern. Er ist seit einem dreiviertel Jahr häufig abwesend und wenn er da ist, dann selten länger als einen halben Tag.“
Eine Analyse mit ConInt war eine hervorragende Idee. ConInt ist die Abkürzung für Content Intelligence. Eine Art Computerprogramm mit dessen Hilfe große Mengen von Daten durchsucht und auf Übereinstimmungen überprüft werden konnte. Soweit ich wusste konnte es nicht nur wörtliche Übereinstimmungen, sondern auch inhaltliche und sinnverwandte Formulierungen auffinden, eine Methodik über deren Gebrauch erstellen und komplexe Zusammenhänge erkennen. Dieses Programm diente, wie einige andere mit ähnlichen Funktionen dem Staatsschutz und der Missbrauch für private Zwecke war strafbar. Dennoch hielt das etliche Mitarbeiter nicht davon es für private Angelegenheit zu benutzen. Einer internen Studie zufolge, deren Inhalt vor 2 Jahren an die Presse durchgesickert war, war jede zehnte Suchanfrage private Natur. Ich war mehr als überrascht, dass Geraldine, die sonst immer streng nach Vorschrift handelte hier bereit war, eine Ausnahme zu machen.

   Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen und große Tropfen prasselten lautstark gegen die Fensterscheiben. Ich stand auf um die gekippten Fenster im Esszimmer zu schließen.
„Kenne ich ihn?“, wollte ich von Geraldine wissen während ich das letzte Fenster schloss.
„Nein, ich denke nicht. Er ist zwar seit einigen Jahren bei der Firma, war aber lange in der IT-Abteilung für Hardware zuständig. Du weißt schon, die Kellerkinder, die das Tageslicht scheuen. Seit etwas über 3 Jahre leitet er jetzt die Datenanalyse. Er hilft mir sicher, wenn ich ihn darum bitte“
Geraldine konnte überaus charmant sein, wenn sie etwas erreichen wollte und die wenigsten Männer konnten diesem Charme widerstehen.
„Du sagtest gerade, er ist oft weg? Weißt du warum? Das ist doch für seine Position ungewöhnlich.“
Geraldine bewegte unschlüssig ihren Kopf leicht hin und her.
„Außer dem Direktor weiß das niemand so genau. Es gibt, wie immer, eine Menge wilder Gerüchte und Spekulationen. Du kennst den Laden doch. Ihn direkt fragen wollte ich nicht, es erschien mir bislang immer unpassend. Aber vielleicht haben wir Glück und er ist in nächster Zeit wieder öfters im Büro.“
Ich kopierte Geraldine die gesamten E-Mails auf einen USB-Stick und gab ihn ihr. Ein bisschen in der Hoffnung, meine und nicht ihre Theorie würde bestätigt.
„Über den Brief wollte ich noch mit dir sprechen.“, fuhr Geraldine fort. „Mir ist aufgefallen, dass wir einer der wichtigsten Zeilen in seinem Brief fast keine Beachtung geschenkt haben.“ „Welche Zeile soll das sein?“, unterbrach ich Geraldine.
„Sie steht im oberen Viertel der zweiten Seite. Es seine Antwort auf ihre Aufforderung, die sie ihm mit dem Lied im März geschickt hatte.“ erwiderte Geraldine in selbstsicherem Ton.
„Dir geht die Phantasie durch. In diesem Lied ist keine Aufforderung. Es geht um Fehler und Verzeihen!“, stellte ich voller Überzeugung fest.
Geraldine schaute mich verständnislos an.
„Der Mann hat offenkundig ein bisschen mehr Feingefühl als du. Überhaupt, ihr seid euch doch nicht so ähnlich, wie ich neulich dachte. Der Mann scheint ganz anders zu sein, als du. Ich habe mir dieses Lied nicht nur, weil es nach meiner Meinung einen Schlüssel für ihr Verhalten darstellt, sondern auch weil ich es wunderschön finde, in letzter Zeit sehr oft angehört und so, wie sie es sicher auch tat, als sie dieses Lied ausgewählt hatte, sehr genau auf den Text geachtet. Noch genauer, als neulich. Es gibt eine Textzeile, die lautet, „bring mich bis zum Schluss“. Das ist die Frage, oder besser die Bitte, der Wunsch, bis zum Ende zusammenzubleiben. Seine Antwort darauf war die Zeile, in guten, wie in schlechten Zeiten hätte ich Dir jederzeit geschworen. Ich gebe zu, es ist etwas über Eck gedacht und neben der Kernaussage des Briefes geht sie etwas unter. Aber sie ist da und wenn man den Brief aufmerksam liest, muss einem das auffallen. Ich muss ihr aber zugutehalten, dass sie diese Zeile, aufgrund des folgenschweren Inhalts des Briefes mit dem schlimmen Hinweis auf den Notausgang, leicht übersehen konnte. Oder sie diese nicht so verstanden hat, wie er sie gemeint hatte. Mir wäre es wahrscheinlich genauso gegangen, wäre ich emotional involviert. Eines aber muss ich dem Mann lassen. Er ist sehr gut darin, bestimmte Aussagen zu verstecken. Fast wie du, nur wesentlich besser. Aber genau deswegen, weil er sie so versteckt hat, bin ich mir sicher, er meinte das ernst. Nach meiner Auffassung ist er nicht der Typ Mann, der mit einem Versprechen so schlampig umgeht, wie du mein Liebling!“

   Ich überhörte dieses Geraldine nicht auszutreibende mein Liebling geflissentlich, nicht aber die interessante, wenngleich ein wenig abwegige Überlegung, die sie angestellt hatte. Ich erinnerte mich zwar an diese Zeile, hatte sie aber für nicht so wichtig erachtet. Für mich war sie mehr eine schön gewählte Floskel, die seine Freundin beruhigen sollte. Zudem erschloss sich mir nicht, warum Geraldine heute wieder mit diesem Lied anfing und ihm eine derart große Bedeutung zumaß. Es war nicht mehr als eine Momentaufnahme, betrachtete man die ganze Geschichte. Andererseits konnten Geraldines Überlegungen, wenn man außer Acht ließ, dass sie einem romantisch verklärten weiblichen Gehirn entsprangen, durchaus einen Sinn ergeben. Der Mann hatte schon zuvor häufiger in E-Mails Aussagen versteckt. Aussagen, die erst bei genauem Lesen auffielen. Die meisten Menschen überfliegen E-Mails in der Eile des Alltags jedoch mehr, als dass sie diese wirklich aufmerksam lesen. Eine Tatsache, die sich der Mann geschickt zunutze gemacht hatte. Er muss sich sicher gewesen sein, dass sie seine E-Mails in der Hektik ihres Alltags oft auch nur überflog und nicht richtig las. Ihre häufig knappen und an dem Inhalt seiner E-Mails vorbeigehenden Antworten unterstrichen diese Vermutung. Was das Thema Versprechungen und mein Umgang mit ihnen anbelangte, irrte sich Geraldine. Ich war nicht schlampig im Umgang mit ihnen. Um der Gefahr aus dem Weg zu gehen, sie vielleicht doch einhalten zu müssen, gab ich seit Jahren grundsätzlich keine. Jedenfalls nicht Frauen und schon gar nicht solche.
„Ist dir noch mehr aufgefallen?“, wollte ich von Geraldine wissen.
„Ja, weißt du, was es mit dieser Schachtel Zigaretten auf sich hat, die sie im schlimmsten Fall bekommen soll?“
„Nein. Ich habe dafür nirgends eine Erklärung gefunden. Obwohl er sie in einem seiner Briefe letzten Sommer auch erwähnt hatte, bin ich sicher, dass es sich dabei um eine eher unwichtige Kleinigkeit handelt. War das alles?“
„Noch lange nicht alles“, erwiderte Geraldine während sie in ihrer Handtasche nach etwas suchte. „Ich habe nochmals über sein Tagebuch nachgedacht und die Frage, ob es nicht gut wäre, wenn sie es bekommen würde.“
Geraldine machte eine kurze Pause, hob ihre Handtasche auf den Tisch und kramte hektisch darin herum.
„Hast du Zigaretten? Ich habe meine wohl im Auto liegen lassen und bei dem Regen will ich sie jetzt nicht holen.“
Ich nickte kurz, stand auf, ging in die Küche, eine Schachtel Zigaretten holen, kehrte zurück und legte diese direkt vor Geraldine auf den Tisch. Sie verdrehte leicht die Augen als sie die Schachtel sah.
„Chesterfield? Habe ich etwas verpasst?“ fragte sie erstaunt. „Hast du keine Luckies mehr? Naja, besser als nichts.“
Sie öffnete die Schachtel, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an.
„Sie wird sein Tagebuch nie bekommen“, verkündete sie nach dem ersten Zug.
„Obwohl ich nach wie vor der Überzeugung bin, es wäre mehr als hilfreich für sie, wenn sie seine Gedanken kennen würde.“
„Wie kommst du jetzt darauf?“ unterbrach ich Geraldine.
„Aus einem ganz einfachen Grund. Er liebt seine Freundin viel zu sehr, um sie jemals mit dem gesamten Inhalt seines Tagebuchs zu konfrontieren. Sie würde erfahren, was der Mann was phasenweise über sie gedacht hatte. Wenn sie so ist, wie ich glaube, würde sie der Inhalt, obwohl er ihr alle Fragen beantworten wird, zu tiefst erschüttern. Der Mann weiß das und genau deshalb wird er das niemals tun.“
„Und was noch?“, bohrte ich ein wenig ungeduldig nach.
„Angenommen, der Zustand des Mannes stabilisiert sich, oder verbessert sich gar, glaube ich nicht, dass sie das Zeichen in der Form, von der er in seinem Brief sprach bekommen wird. Er wird sich etwas anderes, viel romantischeres einfallen lassen. Er ist nicht so einfallslos, wie du mein Liebling!“

   Einen Augenblick zog ich in Betracht auf Geraldines persönlichen Angriff und dieses wiederholte Liebling einzugehen. Es erschien mir aber im Hinblick auf den Fortgang unseres Gespräches als wenig zielführend.
„Glaubst Du wirklich, sie wartet oder hofft auf dieses Zeichen? Das kann nicht dein Ernst sein? Ich bin überzeugt, sie hat mit dem Kapitel längst abgeschlossen. Wahrscheinlich aus purem Desinteresse an ihm und, das können wir immer noch nicht ausschließen, weil es schon längere Zeit einen anderen Mann in ihrem Leben gibt. Bestimmt sie hat den Brief einfach zerrissen und weiß gar nichts von diesem Zeichen.“
Ich erwartete eine unmittelbare Reaktion von Geraldine, die erstaunlicherweise ausblieb.
„Oder“, fügte ich jetzt doch beleidigt, als Replik auf die unangebrachte Bemerkung Geraldines provozierend hinzu, „ihr ist es ganz Recht, wenn er diese Krankheit nicht überlebt. Dann hat sie ihn endlich los und muss nicht damit rechnen, dass er sie noch einmal belästigt.“
Gespannt erwartete ich Geraldines Antwort.
„Du bist ein ignorantes zynisches Arschloch!“, entfuhr es Geraldine zornig.
Ihre Erregung über meine Feststellung unterstreichend, drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus, als wollte sie ihre ganze Entrüstung an dieser unschuldigen Zigarette auslassen. Meine Provokation war ein voller Erfolg, denn dieses Wort kam in Geraldines normalen Sprachgebrauch eher nicht vor. Wir schwiegen uns einige Zeit an, bis Geraldine schließlich sagte:
„Das ist alles möglich, aber doch sehr unwahrscheinlich.“
Für ihre Verhältnisse eine ungewöhnlich knappe Antwort. Gewöhnlich begründete Geraldine ihre Antworten immer.
„Was macht dich so sicher?“, fragte ich neugierig geworden nach.
Geraldine holte tief Luft und ein kaum hörbares „Ohje“ kam über ihre Lippen.
„Von solchen Dingen verstehst du wirklich rein gar nichts! Schade. Sehr, sehr schade.“
Geraldine sah mich direkt an.
„Glaubst du sein Verhalten und ein dummer Brief reichen aus, um alles in ihr auszulöschen? Glaubst du wirklich, sie hat aufgehört an ihn zu denken? Höchstwahrscheinlich verleugnet sie ihre Gefühle sich selbst gegenüber aus Selbstschutz. Das wäre verständlich. Nur, das kann niemand lange durchhalten. Irgendwann brechen sie wieder hervor und sind stärker als je zu vor.“
Geraldine zündete sich die nächste Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und führte ihren Gedanken weiter aus.
„Meiner Meinung nach wird sie viel eher Angst haben. Angst alles falsch gemacht zu haben. Wovon sie seit diesem Brief ausgehen muss. Möglicherweise wird sie sich vorwerfen, seine Signale nicht erkannt zu haben und ihn so sehr verletzt zu haben, dass sie ihn für immer verloren hat. Egal was mit ihm geschieht. Oder es ist einfach nur Resignation vor der Tatsache den geliebten Menschen nicht begleiten zu dürfen. Zu einem hilflosen Zaungast degradiert worden zu sein.“
Geraldine zog erneut an ihrer Zigarette und betrachtete gedankenverloren den aufsteigenden Rauch.
„Das alles ist furchtbar und daran hast du sicher noch keinen Gedanken verschwendet. Bedenke, die Gefühle zweier Menschen, die viele Jahre nach ihrer ersten Beziehung erneut zueinander finden, sich fast wieder trennen und sich dann doch zusammenraufen, weil sie einander unglaublich wichtig sind, sind etwas Einzigartiges. Etwas ganz Besonderes. Die wischt man nicht einfach mit einer Handbewegung vom Tisch, wie du deine Beziehungen. Ich bin mir sicher, sie weiß und fühlt das. Mir würde es an ihrer Stelle genauso gehen. Davon bin ich absolut überzeugt!“
„Aus Erfahrung?“, warf ich scherzend ein. Ein Scherz, der gründlich daneben ging.
„Idiot!“, fuhr Geraldine mich wütend an. „Was glaubst du eigentlich, was du dir heute noch alles erlauben kannst?“
Ich war eindeutig zu weit gegangen und entschuldigte mich sofort bei ihr.
„Tut mir wirklich leid. Das war nicht so gemeint. Ich wollte dir sicher nicht zu nahe treten.“
„Schon gut“, erwiderte Geraldine regungslos, „ich weiß ja von welcher Sorte Mann es kam.“
Um von meiner Entgleisung abzulenken fragte ich Geraldine, ob sie eine Vermutung hätte, was das Zeichen von dem Mann sein könnte. Ohne eine Sekunde zu überlegen sagte sie:
„Das wundervollste wäre, der Mann würde die schönsten seiner Gedichte binden lassen und sie ihr als Buch schenken. Ich an ihre Stelle wäre überwältigt. Ein Buch mit Gedichten über sich zu bekommen, das ist etwas ganz Besonderes! Das passiert höchstens einer unter Millionen Frauen. Bei mir hat es bisher, wie bei den allermeisten Frauen, nur zu Rosen, Einladungen zum Abendessen, allerlei Kleinigkeiten und ein paar Schmuckstücken gereicht. Aber nicht einmal zu dem Ring. Aber vielleicht bin ich niemand wichtig genug, so etwas für mich zu tun.“
Der Ausdruck in Geraldines Gesicht war bei ihrem letzten Satz unübersehbar ernst und traurig. Ich wusste nur zu genau, welchen Ring Geraldine gemeint hatte. Aber mit über 40 Jahren fällt sie statistisch gesehen eher einem Terroranschlag zum Opfer, als dass sie von einem gewöhnlichen Mann geheiratet wird.
„Ich hoffe sehr für sie, er hat noch die Zeit dafür. Das würde alle ihre schlimmen Erinnerungen vertreiben. Sie hätte etwas Bleibendes von ihm. Etwas, dass sie, unabhängig davon, was auch immer in der Zukunft passieren wird, immer an ihn erinnern wird. Nach all dem wünsche ich es ihr von Herzen!“
Jetzt war Geraldines Gesicht war ein Anflug von Neid zu erkennen. Die versteckte Anspielung auf ihr Lieblingsbuch, dessen Verfilmung sie bestimmt 20 gesehen hatte und das sie mir zum Geburtstag geschenkt hatte, war kaum zu überhören. Nur hatte Geraldine einen französischen und keinen russischen Vornamen, wie ihn die Exfreundin des Mannes ebenfalls hatte. Die Geraldine Gedichte, das klang bei weitem nicht so bezaubernd wie die Lara Gedichte. Möglicherweise hörte es sich ja komplett in Französisch irgendwie schöner an. Ich versuchte Geraldine aufzuheitern.
„Du bist etwas Besonderes. Sogar etwas ganz Besonderes. Aber du darfst nicht gleich erwarten, dass jemand ein Gedichtband, oder etwas Ähnliches für, beziehungsweise über dich schreibt. Oder am besten aus Liebe zu dir gleich einen zweiten Taj Mahal erbaut. Mein Großvater pflegte stets zu sagen, dass durch Übertreiben selten etwas besser wird.“
Geraldine nickte vielsagend und ich war mir nicht sicher, ob dieses Nicken Zustimmung bedeuteten sollte.
„Ich denke, es ist Zeit nach Hause zu gehen“, sagte sie aus heiterem Himmel und stand auf. „Ich muss morgen früh raus und wenn ich schon keinen Gedichtband bekomme, dann wenigstens meinen Schlaf.“
Geraldine lächelte bei diesem Satz eigenartig. Eine Art Lächeln, das ich nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Es war kurz nach 24 Uhr, als Geraldine mein Haus verließ. Sie hatte sich kurz und ungewöhnlich kühl verabschiedet. Irgendetwas Falsches musste ich gegen Ende unseres Gespräches gesagt haben. Ich hatte nur nicht die leiseste Ahnung, was es gewesen sein könnte. Hinterlassen hatte sie mir eine Menge zum Nachdenken. Viel über den Mann und ein wenig über mich. Ich räumte noch das Esszimmer und ging dann zu Bett, mit dem Entschluss, in dieser Nacht nicht weiter darüber nachzudenken. Über das Wochenende dachte ich hin und wieder über Geraldines Worte nach. Sicher, sie waren nicht vollkommen abwegig, dennoch stand für mich weiter die Frage im Vordergrund, wie das Verhalten seiner Freundin tatsächlich zu verstehen war. Ob sie ihm wirklich untreu gewesen war und was der Mann ihr in Wahrheit bedeutet hatte. Das waren die Fragen, die für mich zählten.

   Drei Tage später, es war einer dieser hierzulande eher seltenen lauen Sommerabende. Ich kehrte in der einsetzenden Dämmerung von einem Abendessen zurück, als mir ein kleiner roter offener Sportwagen auffiel, den ich bislang noch nie in meiner Straße gesehen hatte. Während ich langsam in meine Auffahrt einbog, sah ich im Rückspiegel, wie eine junge blonde Frau auf dieses Auto zuging. Das konnte nur die neue Nachbarin sein. Ein genauerer Blick würde sicher nicht schaden. Ich beeilte mich, den Challenger in die Garage zu fahren, um diese Frau nicht zu verpassen. Ich eilte meine Auffahrt hinunter. Das automatische Tor meiner Einfahrt konnte sich jeden Augenblick zu schließen beginnen. Als ich den Gehweg erreicht hatte, sah ich, wie der Kopf der Frau im geöffneten Kofferraum des Sportwagens verschwand. Bevor ich sie ansprach, betrachtete ich mir zur Sicherheit ihre durchaus sehenswerte Figur eingehend.
„Kann ich ihnen helfen?“, rief ich ihr zu. Zugegeben, nicht gerade der einfallsreichste Spruch, aber immer wirkungsvoll und in Anbetracht der Tatsache, dass eine junge Frau in der einbrechenden Dunkelheit etwas in ihrem Auto suchte, auch nicht völlig deplatziert.
„Ich glaube nicht“, antwortete die junge Frau aus der Tiefe ihres Kofferraums. „Ich wollte nur meine restlichen Einkäufe aus dem Wagen holen.“
„Ihre restlichen Einkäufe holen?“, wiederholte ich fragend. „Ich habe sie hier noch nie gesehen. Wohnen Sie hier?“
Die Straße, in der ich wohne, ist mit insgesamt neun Häusern ziemlich kurz und jeder kennt hier jeden.
„Ich wohne seit 2 Tagen in der Einliegerwohnung von Haus Nummer 7. Und sie, wohnen sie auch hier?“
Um das Eis endgültig zu brechen, versuchte ich es mit einem Scherz.
„Nein, ich parke nur immer mein Auto in der Garage fremder Leute. Das ist ungeheuer lustig.“
„Aha, von Beruf Komiker“, erwiderte sie, ohne dabei diesen typisch ablehnenden Unterton zu haben, der Frauen eigen war, wenn ihnen ein Spruch nicht besonders gefiel.
„Wenn sie wollen, für sie gerne. Aber im Ernst, ich bin ihr Nachbar und wohne in Haus Nummer 5. Schön sie kennenzulernen.“
„Ebenfalls“, sagte die junge Frau mit einem freundlichen Lächeln. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile, bis sie mir schließlich bedeutete, dass sie jetzt unbedingt ihre Einkäufe in den Kühlschrank bringen müsse, bevor die Sachen anfingen zu verderben. Sie war bereits fast in der Dunkelheit des Hauseingangs verschwunden, als sie sich umdrehte und sagte:
„Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Ich heiße übrigens Emma.“
Zufrieden über den Verlauf des Gespräches und angetan von dem, von der Frau gesehen hatte, ging ich in mein Haus. Mein Nachbar hatte nicht übertrieben. Sie war wirklich bildhübsch. Seit meiner Trennung von Maria war fast ein halbes Jahr vergangen, in dem ich Single war. Eine, für mich ziemlich lange Zeit und Emma war eine gute Gelegenheit dies zu ändern.

   In den folgenden zwei Wochen sah ich Emma hin und wieder, wenn sie morgens zur Arbeit fuhr und fast jeden Abend, wenn sie nach Hause kam. Um sie nicht zu verpassen, hatte ich an diesen warmen und sonnigen Tagen fast ausschließlich auf meiner Terrasse gearbeitet. Das letzte Mal, dass ich im Tagebuch des Mannes gelesen hatte lag über 2 Wochen zurück. Ich hatte nicht nur aufgehört, weil mich die Arbeit an meinem Buch und Emma beschäftigten, sondern vor allem deshalb, weil mir das Lesen der teilweise jetzt wirklich düster gewordenen Einträge schwerfiel. Auch den Kontakt zu Geraldine hatte ich einschlafen lassen, was gewiss mit Emmas auftauchen in meinem Leben zu tun hatte. Jeden Abend, wenn Emma nach Haus kam, unterhielten wir uns ein wenig über dies und das, bis ich die Zeit für reif hielt und ihr vorschlug, am kommenden Wochenende gemeinsam essen zu gehen. Ohne zu zögern nahm sie meine Einladung an. Nun hatte ich eine Verabredung für Samstagabend, aber noch keinen konkreten Plan, wo ich mit ihr hingehen wollte. Mit riesigen Schritten rückte der Samstagabend näher und noch immer hatte ich keine Idee, wohin ich meine attraktive Nachbarin ausführen wollte, als mich ein E-Mail von Geraldine aus meinen Tagträumen von der möglicherweise bevorstehenden gemeinsamen Nacht mit Emma riss. Zu meinem Erstaunen wollte sie wissen, ob ich am Samstagabend mit ihr Essen gehen und sie anschließend zu einem Konzert einer ihrer Lieblingssänger begleiten wollte. Plötzlich befand ich mich in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite war das Essen mit der jungen Emma und der Aussicht auf mehr. Auf der anderen Seite war ein Abendessen mit Geraldine und das Konzert dieses Sängers, der mir ebenfalls gut gefiel. Allerdings ohne eine Aussicht auf mehr, auf die ich ohnehin nicht besonders erpicht war. Überdies war mir ihr merkwürdiges Verhalten in den letzten Wochen noch viel zu gut im Gedächtnis, als dass mir der Sinn nach Geraldine als Frau für die Nacht stand. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde das ohnehin nur in eine neuerliche Katastrophe führen. Nach kurzer Überlegung war ich mir sicher, dass selbst ohne die Aussicht auf mehr, mir ein Abend mit Emma lieber war, als einer mit Geraldine.

   Kurz nach 18 Uhr, ein paar Minuten zu spät wie immer, holte ich Emma ab und fuhr mit ihr spontan zu einem Restaurant, welches ich bislang ausschließlich mit Geraldine besucht hatte. Um ganz sicher zu gehen hatte ich an diesem Abend, im Wissen um seine Wirkung auf Frauen, den Aston genommen. Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben und einen Aperitif getrunken hatten, begannen wir diesen für das erste Date typischen Smalltalk. Während sie von ihrer Schulzeit, dem Jurastudium und dem sich daran anschließenden Referendariat berichtete, wurde mir langsam bewusst, warum mir Emma so gut gefiel. Sie war ein fast perfektes jugendliches Abbild von Geraldine. Je länger ich Emma betrachtet, desto mehr erinnerte sie mich an die Geraldine, in die ich mich vor 20 Jahren verliebt hatte. Die Haare, das Lächeln, die Art, wie sie sich bewegte, alles Geraldine. Wenn es überhaupt einen erwähnenswerten Unterschied gab, dann den, das Emma ein wenig kleiner und schmaler war. Dafür ein bisschen mehr Oberweite und keine Fältchen hatte. Während wir unseren Hauptgang aßen und Emma sämtliche Register ihrer Flirtkunst zog, fragte ich mich, warum ich an diesem Abend mit einer Kopie ausgegangen war, wenn ich doch das Original haben konnte. Niemand würde den Druck eines Gemäldes nehmen, wenn er das Original haben könnte. Mit dieser unerwarteten Erkenntnis, von der ich nicht wusste, ob sie mir gefiel, verbrachte ich den restlichen Abend mit Smalltalk und dem Ignorieren von Emmas Verführungsversuchen. Anders als ursprünglich geplant, brachte ich Emma nach dem Essen zurück zu ihrer Wohnung, bedankte mich für den schönen Abend und ging nach Hause. Als ich später in meinem Bett lag, erinnerte ich mich daran, was Maria über mein Beuteschema gesagt hatte. Emma fiel nicht darunter, oder gerade doch? Hatte ich mir in den letzten Jahren ein von Geraldine abweichendes Schema zugelegt, um nicht immer, wie am heutigen Abend an sie erinnert zu werden und Emma war nichts weiter als eine Laune des Schicksals, die mich an etwas erinnern sollte? Immerhin und das wurde mir heute klar waren das Mädchen von damals, auch wenn ich mich nur verschwommen an sie erinnern konnte, Geraldine und Emma ein Typ Frau. Mein Typ Frau.

   Am Sonntagabend war ich seit längerem wieder in der Stimmung, um im Tagebuch des Mannes zu lesen. Er war in der Zwischenzeit wieder von einem Aufenthalt in der Klinik zurückgekehrt. Er beschrieb die Atmosphäre in diesem Krankenhaus, berichtete ausführlich von vielen Gesprächen, die er mit anderen Patienten geführt hatte und den freundschaftlichen Beziehungen, die sich teils daraus zu entwickeln begannen. Es waren überaus interessante Einträge, die mir einen Einblick in den Ablauf seines Lebens im Krankenhaus gaben. Wie zu erwarten schrieb er auch davon, wie sehr er seinen Hund, seine Katze und nicht zuletzt seine ehemalige Freundin vermisst hatte. Über seine Behandlung schrieb der Mann jedoch kaum. Es waren nur Randnotizen, neben all dem anderen, das ihn beschäftigte. Besonders erstaunte mich an diesen Einträgen die weitgehende Sachlichkeit, mit der der Mann diese Tage schilderte. Das häufig Düstere seiner Einträge in den Tagen zuvor war zu meinem Staunen völlig verschwunden. Sah man von den Stellen über seine Freundin und seine Tiere ab, lasen sich seine Aufzeichnungen beinahe wie ein Bericht. Irritiert über das Unerwartete, das ich gelesen hatte, trennte ich die Verbindung und fuhr meinen Computer herunter. Auf dem Weg in die Küche erinnerte ich mich wieder an die Frage, die sich mir, als ich im Garten dieser Klinik auf einer Parkbank saß, gestellt hatte. War der Mann nur alleine oder war er einsam. Ich ging zu meinem Kühlschrank, holte mir ein Wasser und lehnte mich gegen die Bar. Obwohl ich glaubte den Mann und seine Denkweise mittlerweile gut zu kennen, war ich mir nicht sicher, wie die richtige Antwort lauten mussten. Sein Tagebuch hatte mich heute der Antwort kein Stück näher gebracht.