Gab es also doch ein zu spät, vor dem finalen zu spät? So viel ich auch darüber grübelte, ich konnte keine Antwort darauf finden. Vielleicht verschloss ich auch nur meine Augen vor der Realität und entschied mich eine Illusion zu erschaffen, eine in der sich Geraldine eines Tages doch wieder bei mir melden würde. In den letzten Monaten war dieses Buch zu einem alles fressenden Monster geworden, das mein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt hatte und mich an diesen Punkt gebracht hat. Das Beste, was ich jetzt tun konnte, war zu versuchen, Abstand von allem hier zu gewinnen. Von dem Mann und seiner Geschichte, von Geraldine und dem Friedhof. Seit vielen Jahren wollte ich schon in die schottischen Highlands fahren, um eine Tour durch die dortigen Whisky-Destillerien zu machen. Wenn es in meinem Leben je einen passenden Zeitpunkt dafür gab, dann war er heute, an diesem 1. Oktober, gekommen. Kurzentschlossen packte ich meine Koffer, schaltete mein Handy ab und legte es auf die Kommode in meinem Flur. Für einen kurzen Moment musste ich an die Freundin des Mannes denken. Abtauchen nannte sie das immer, wenn er wieder für Tage für sie unerklärlich verschwunden war. Ein Verhalten, dass sie sichtlich hasste und dessen Ursprung sie niemals richtig zu deuten in der Lage war. Geraldine hasste es auch, wenn ich mir früher meine unangekündigten Auszeiten genommen hatte um in Ruhe schreiben zu können, sie mich suchte und ich für sie nicht erreichbar war. Sie nannte mich dann immer Verschollener. Aber heute war ich mir sicher, dass Geraldine mich nicht mehr suchen wird und wir für lange Zeit keinen Kontakt mehr haben werden. Vielleicht sogar nie wieder. Insofern war es also kein Abtauchen. Ich war frei von Verpflichtungen gegenüber ihr, weil sie es so wollte. Als ich in die Garage ging, erinnerte ich mich an die vielen Möglichkeiten die es gab, moderne Autos zu orten und Spuren einer Person zu verfolgen. Gleichwohl ich überzeugt war, dass Geraldine mit uns abgeschlossen hatte, war ich mir auch der weiblichen Neugier sicher, die das Ende einer Beziehung fast immer überdauerte und Geraldine verfügte über jedes erdenkliche Mittel, diese Neugier befriedigen zu können. Andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass Geraldine, die immer streng nach Dienstanweisung handelt, die Ressourcen der Firma für ihre privaten Zwecke nutzen würde. Sicher, sie hatte mir bei den E-Mails geholfen und damit eine Unzahl an Vorschriften verletzt. Aber das war in ihren Augen sicher Hilfe für einen Freund und kein reiner Eigennutz.
  Aus diesem Grund entschied ich mich für meinem Ford Mustang, ein Auto ohne GPS und andere moderne Elektronik, sowie einer ausreichenden Menge an Bargeld, anstatt Kreditkarten. Abgesehen davon, dass ich mit der guten alten Landkarte navigieren musste, war er bestimmt nicht das komfortabelste Auto für eine solche Reise, aber er konnte es Geraldine im Zweifel zumindest sehr erschweren, mich zu finden. Zunächst führte mich meine Reise quer durch Frankreich, bis in ein kleines Dorf in der Nähe von Calais, in dem ich übernachtete. In der Bretagne, die im Herbst besonders malerisch ist, gibt es wunderschöne kleine Dörfer mit alten, charmanten Hotels. In jeder Hinsicht der ideale Ort für einen romantischen Urlaub zu zweit. Am nächsten Tag fuhr ich noch vor dem Sonnenaufgang weiter Richtung Calais, dann durch den Tunnel nach England. Bis Manchester war der Verkehr beinahe unerträglich, weiter in Richtung Norden leerten sich die Straßen aber zusehends. Spät am Abend erreichte ich Glasgow und blieb dort über Nacht. Ich entschied mich, nach einem kurzen Aufenthalt im Loch Lomond Nationalpark, meine Tour durch die Destillerien Schottlands auf der Isle of Islay, mit der Besichtigung von Bowmore Bruichladdich und Lagavulin zu beginnen. Ich reiste weiter von Insel zu Insel. Von der Isle of Jura, bis zur Isle of Skye von Destillerie zu Destillerie, bis weit in den Norden der Highlands. In den Pubs und Hotelbars lernte ich viele interessante Menschen mit ihren Geschichten kennen, die ausreichend Stoff, für weitere Bücher boten. Trotz der vielen neuen Eindrücke, die ich gesammelte hatte, ganz vergessen konnte ich den Mann, seine Geschichte und damit verbunden auch Geraldine und ihre letzte E-Mail nicht. Was mit Sicherheit nicht nur daran lag, dass ich einige Destillerien besuchte, deren Whisky ich bei dem Mann im Regal gesehen hatte. Mein Rückweg führte mich durch die Wiege des schottischen Whiskys, der Speyside. Ich mietete mich für die Tage in der Speyside im Highlander Inn in Craigellachie, das jeder Whisky-Liebhaber einmal in seinem Leben besucht haben sollte, ein. Uisge beatha, das schottische Wort, von dem sich Whisky ableitet und Wasser des Lebens bedeutet ist nirgendwo in Schottland so gegenwärtig, wie hier.
  Eines Abends, ich hatte tagsüber die Destillerien von Dufftown, Glennfiddich und Balvenie besucht, fiel mir während des Abendessens etwas auf, das ich die ganze Zeit nicht bemerkt hatte. Geraldines letzte E-Mail glich in vielem, einer der letzten E-Mails der Freundin des Mannes. Sie war, soweit ich mich aus dem Gedächtnis erinnern konnte, eine auf uns angepasste Kopie. Ich fragte mich, was Geraldine damit bezwecken wollte. Es war nie ihre Art gewesen sich Gedanken oder Worte anderer zu bedienen. Möglicherweise war es nur ein Zufall, oder schlicht die Tatsache, dass Frauen im Allgemeinen sich doch ähnlicher sind, als wir Männer gemeinhin annehmen. Dieser Gedanke führte mich zurück, zu all dem in der Geschichte des Mannes mit dem Hund, für das ich bis heute keine Erklärung gefunden hatte. Da waren die beiden Filme an Neujahr. Waren sie tatsächlich ein Hinweis auf seine innere Zerrissenheit, wie ich vermutete, oder konnten sie noch eine ganz andere Bedeutung haben? Dann diese mehrfach umgeleiteten E-Mails, für die ich niemals auch nur im Ansatz eine logische Erklärung gefunden hatte. Über Waltzing Matilda, dass, hatte ich mit meiner Annahme recht, eines der wichtigsten Teile in diesem Puzzle überhaupt war. Hin zu der Frage, warum er ihr die Gedichte nie gegeben hatte und schließlich was der Auslöser dafür war, dass er ihr am Ende die freundlichere Version seines Briefes geschickt hatte. Warum er ihn ihr geschickt hatte? An diesen ominösen unbekannten Dritten wollte ich bis heute nicht so richtig glauben. Alles Fragen, auf die ich, wie vermutlich seine ehemalige Freundin auch, irgendwann gerne eine Antwort gehabt hätte, die wir aber wohl niemals bekommen werden.
  Am 17. Tag in Schottland beschloss ich, wieder nach Hause zu fahren. Ich war jetzt seit 19 Tagen für niemanden erreichbar unterwegs. Ein Zustand, den ich sehr genoss. Keine E-Mails, oder SMS, kein Handy, keine Termine einfach nur Ruhe und Zeit für mich. Sicherlich vermissten mich ein paar Menschen und fragten sich, wo ich bin, aber im Moment kümmerte mich das nicht. Mein Heimweg führte mich über Edinburgh, mit seiner traumhaften Altstadt, entlang der Ostküste nach London, das ich gegen Abend erreichte. Es war schon ein paar Jahre her, dass ich in London gewesen war und viel hatte ich damals von der Stadt und ihren Sehenswürdigkeiten nicht gesehen. Ich beschloss noch ein paar Tage in London zu bleiben um das nachzuholen. Den ersten Tag verbrachte ich mit Bummeln durch Londons Einkaufsmeilen, von der Oxford Street über die Regent Street, bis hinunter zu Harrods in der Brompton Road. In diesem wundervollen Kaufhaus kann man, je nach Geldbeutel, ein kleines oder großes Vermögen loswerden, oder einfach nur die Zeit vergessen. Ich schlenderte den ganzen Nachmittag durch die verschiedenen Abteilungen, aß hier und da etwas, bis, als ich durch die Abteilung für Damenoberbekleidung schlenderte, ein wunderschöner Schal meine Aufmerksamkeit erregte. Es war genau die Art Schal, die Geraldine so sehr mochte, zudem noch in ihrer Lieblingsfarbe Orange. Kurzentschlossen griff ich den Schal, ohne in diesem Moment zu wissen, was ich damit wollte und ging zur Kasse. Auf dem Weg dorthin hatte ich eine Idee. Ich werde Geraldine den Schal schicken lassen und eine Entschuldigung beilegen. Aber nicht irgendeine Entschuldigung, sondern eine in Form eines Gedichtes. Ich erinnerte mich daran, wie neidisch ich insgeheim auf den Mann und seine Gedichte war. Jetzt hatte ich die Chance es ihm gleichzutun. Ich setzte mich in einen der vielen Sessel, die überall zum Platznehmen einluden, nahm Stift und Papier und begann zu schreiben. Schnell musste ich feststellen, dass es nicht so einfach war, wie ich es mir vorgestellt hatte und ich nicht besonders gut darin war. Nach über einer Stunde und unzähligen Versuchen, hatte ich es schließlich geschafft ein paar Zeilen zu Papier zu bringen. Bevor ich mit Schal und Gedicht zur Kasse ging, las ich es mir nochmals in Ruhe durch.
„Verzeih, ist alles was ich Dir sagen kann.
Zuvor jede Möglichkeit ungenutzt verrann.
In Wort und Tat strapazierte endlos ich deine Geduld.
Fast unmöglich mich freizumachen von dieser Schuld.
Die Formulierung für die Wahrheit ungeschickt gewählt.
Bis dorthin Monate lang mich selbst damit gequält.
Ich sagte ich liebe Dich, sagte es ernst und sagte es leicht.
Doch eine Entschuldigung für die Art und Weise nicht reicht.
Perlenketten gleich, sich meine Fehler aneinanderreihen.
Bleibt mir nur die Hoffnung, du kannst sie mir verzeihen.
Mir all das eines Tages zu vergeben.
Danach werde ich endlos streben.“
Wirklich überzeugt war ich von dem Ergebnis meiner Bemühungen nicht. Das Gedicht erweckte mehr den Eindruck ein Kinderreim zu sein, als ein Liebesgedicht an eine Frau. Urplötzlich war es mir peinlich, Geraldine ein derart schlechtes Gedicht schicken zu wollen. Geraldine würde mein Gedicht bestimmt mit den von ihr so sehr geliebten Lara Gedichten vergleichen. Ein Vergleich, bei dem ich nur verlieren konnte und mich lächerlich machte. Dieser Gefahr wollte ich mich nicht aussetzen. Möglicherweise ging es dem Mann genauso wie mir und er hatte deshalb nie eines seiner Gedichte an seine Freundin verschickt. Auch sie hatte einen Lieblingsdichter, von dem sie ihm am Anfang ihrer Beziehung einige Gedichte als E-Mail geschickt hatte. Aber die Gedichte des Mannes waren so viel besser, als mein trauriger Versuch. Seine Gedichte brauchten keinen Vergleich zu scheuen. Ich faltete den Zettel mit dem Gedicht und steckte ihn in meine Jackentasche. Während ich den Schal als Geschenk einpacken ließ, fragte ich die Dame an der Kasse, ob es möglich sei, das Geschenk direkt an eine Adresse zu verschicken. Für einen Augenblick schien ich vergessen zu haben, dass ich in dem Kaufhaus war, in dem alles möglich ist.
„Selbstverständlich“, antworte die Dame höflich, aber bestimmt.
„Expressversand oder Standard?“, lautete ihre anschließende Frage.
Ich entschied mich für Express, da ich unbedingt sichergehen wollte, dass das Paket vor mir eintraf. Ich bezahlte mit dem Gefühl, nicht nur einen sündhaft teuren Schal, sondern gleich auch einen ganzen Paketdienst gekauft zu haben. Drei Tage später, ich hatte fast sämtliche Sehenswürdigkeiten der Stadt gesehen, verließ ich London und fuhr über Dover und Calais nach Hause. Es war spät in der Nacht, als ich zuhause ankam. Ich ließ mein Gepäck im Auto und ging direkt in mein Bett. Am nächsten Morgen begann ich meinen Tag, wie ich es immer tat, mit einer Tasse Kaffee und einem Blick in die Zeitung. Anschließend startete ich meinen Computer, in der leisen Hoffnung, dass nicht allzu viele E-Mails mir den Start in den Tag verderben würden. Außer dem üblichen Spam, Newslettern und anderem unwichtigen, waren vier von meinem Verlag und die Sendungsverfolgung von Geraldines Geschenk dabei. Aber nicht eine einzige von Geraldine. Ich überprüfte sofort, ob das Geschenk bei ihr angekommen war. Den Angaben des Paketdienstes zufolge, war das Paket vor drei Tagen Geraldines Nachbarin zugestellt worden. Ich konnte also ziemlich sicher sein, dass Geraldine es erhalten hatte.
  Enttäuscht über die ausgebliebene Reaktion Geraldines und um in Ruhe nachdenken zu können, was ich jetzt tun wollte, beschloss ich einen Spaziergang durch den Park zu machen, in dem vor einem Jahr alles seinen Anfang genommen hatte. Wie an jenem Tag schien auch heute die Sonne und es war ausgesprochen warm für Ende Oktober, nur war heute Donnerstag und nicht Sonntag. Ich nahm denselben Weg wie damals. Vorbei an der großen Wiese, auf der morgens die Hunde spielten, durch das kleine Wäldchen, in Richtung des toten Baumes. Man hat entlang des Weges, der an dem toten Baum endet, einen wunderbaren Blick über das Tal. Dort angekommen setzte ich mich auf den großen Ast neben dem Baum. Augenscheinlich hatte er sich in dem Jahr überhaupt nicht verändert. Selbst die Inschrift, die der Mann damals gesucht hatte war noch, wenn auch schwächer, da. Ich blickte lange in das Tal, dann auf den gegenüberliegenden Hang. Alle Felder, bis auf ein Maisfeld waren abgeerntet. Ich fragte mich, warum ausgerechnet der Mais Ende Oktober noch stand, als mir ein Satz des Mannes wieder einfiel: Alles ist vergänglich. Fast alles. Wie Recht er damit doch behalten hatte.
  Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ich jemand hinter mir sagen hörte:
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Es war der Mann mit dem Hund. Ich drehte mich, mit einem sicherlich erstaunten Gesichtsausdruck, zu ihm.
„Gerne“, erwiderte ich erfreut.
Er nahm seinen Hund von der Leine und setzte sich neben mich. Der Mann wandte sich mir zu, während er seinem Hund über den Kopf streichelte.
„Was macht ihr Buch? Ist es schon fertig und wie geht es aus? Ich bin neugierig. Das verstehen Sie sicher.“, eröffnete der Mann das Gespräch.
„Und wo waren Sie eigentlich die letzten drei Wochen?“, fügte er mit einem leichten Grinsen hinzu.
Ich wusste nicht, worauf ich zuerst antworten sollte.
„Mich vorzustellen ist wohl nicht mehr notwendig. Das meiste scheinen Sie ja bereits zu wissen.“
Der Mann sah mich wortlos an. Er erweckte den Eindruck, als wartete er auf eine Erklärung.
„Ich hatte Urlaub gemacht und das Buch? Naja, im Moment komme ich nicht so voran, wie ich es gerne hätte und wie es ausgeht weiß ich nicht. Wie soll es ihrer Meinung nach denn ausgehen? Aber wollen Sie mir nicht zuerst verraten, woher Sie das alles wissen?“
„Urlaub ohne Telefon, Kreditkarten und Auto mit Navigation, ziemlich clever. Ich hätte mit Geraldine wetten sollen.“ Der Mann lachte leise vor sich hin.
„Woher kennen Sie Geraldine?“, fragte ich verwundert.
„Die kleine Computerfirma, in der ich arbeite, ist eine Außenstelle der Firma. Sie kennen doch solche Tarnfirmen von früher. Oder haben Sie das vergessen?“
Ich sah den Mann verdutzt an, der ungerührt, ohne meine Antwort abzuwarten, weitererzählte.
„Anfang Juli, es war der vorletzte Tag an dem ich im Büro war, kam Geraldine mit einer Datei zu mir, die tausende von E-Mails enthielt. Sie bat mich ohne Angabe von Gründen, einen Mitarbeiter diese Datei durch ConInt laufen zu lassen und ihr Bescheid zu geben, sobald die Analyse fertig war. Das war soweit nichts Ungewöhnliches. Auch dass sie es furchtbar eilig mit der Analyse zu haben schien. Am nächsten Mittag war die Analyse fertig. Als ich die Ergebnisse durchsah traute meinen Augen nicht. Geraldine hatte die E-Mails von meiner Freundin und mir analysieren lassen. Gespannt auf ihre Erklärung, informierte ich sie umgehend über den Abschluss der Analyse. Eine knappe Stunde später kam sie vorbei, um die Ergebnisse abzuholen. Bevor ich sie ihr übergab, wollte ich wissen, für welchen Auftrag das gewesen ist. Sie teilte mir, dass es eine private Angelegenheit sei und gab mir zu verstehen, dass ich diesen Vorgang unbedingt für mich behalten sollte. Die Ergebnisse seien für einen Freund bestimmt, der gerade ein neues Buch schreibt und dringend Hintergrundinformationen benötigte. Ich wusste sofort um welchen Freund es sich handelte. Geraldine hatte schon immer gerne und viel von ihnen geredet. Sie erzählte mir ausführlich, wovon dieses Buch handeln sollte, über die beiden Hauptpersonen und warum diese Analyse so wichtig war.“
Der Mann unterbrach seine Erzählung und drehte kurz seinen Kopf um nach seinem Hund zu sehen, der in der Zwischenzeit um den Baum herumgelaufen war. Dann wandte er sich wieder mir zu.
„Da schreibt also jemand ein Buch über mein Leben, mich und meine Freundin und war mit der Beschaffung von Informationen nicht gerade zimperlich. Geraldine und ich haben uns lange und sehr ausführlich über die Ergebnisse der Analyse unterhalten. Etliche Male fragte sie mich sogar nach meiner Meinung und ob sie bestimmte Punkte richtig sehen würde. Ich habe Geraldine alle ihre Fragen wahrheitsgemäß beantwortet. Sie können sich sicher vorstellen, wie sehr mich das phasenweise amüsiert hat. Natürlich habe ich Geraldine nicht gesagt, dass der Mann über den ihr Bekannter ein Buch schreibt ich bin und das werde ich auch niemals tun. Genauso, wie dieses Gespräch hier niemals stattgefunden hat. Übrigens, gefällt Ihnen meine Wohnung?“
Jetzt wurde mir einiges klarer. Der Bekannte aus der Technik, von dem Geraldine gesprochen hatte, war er. Dazu passte auch, dass Geraldine gesagt hatte, er sei seit Monaten häufig abwesend und keiner wüsste genau warum. Daneben erklärte es das Magazin der SIG Sauer, das ich bei ihm gefunden. Es gehörte zu seiner Dienstwaffe.
Ich überging seine letzte Frage und ließ den Mann fortfahren.
„Vor zehn Tagen, an meinem ersten Arbeitstag seit fast drei Monaten kam Geraldine abermals in mein Büro. Sie stürmte förmlich durch die Türe und wies mich in schroffem Ton an sofort Bewegungsmuster von einem Handy zu erstellen. Außerdem sollte ich überprüfen, wann und wo bestimmte Kreditkarten benutzt worden waren, ferner wo sich bestimmte Autos befanden. Auf meine Nachfrage nach der Vorgangsnummer reagierte sie sehr ungewöhnlich. Normalerweise benötigen wir dafür eine Vorgangsnummer, aber das wissen sie ja. Zuerst wies sie mich deutlich auf ihren höheren Dienstrang hin und darauf, dass sie mir aus diesem Grund keine Erklärung für ihre Anweisung schuldig sei. Einige Augenblicke später, als hätte sie ihr schlechtes Gewissen überkommen, bat mich Geraldine leise, fast entschuldigend niemand davon zu erzählen. Es sei eine sehr persönliche Angelegenheit. Ich wollte von ihr wissen, ob das wieder mit diesem Buch zu tun hatte, woraufhin sie mir erklärte, dass sie ihren Freund, den Autor sucht, ihn aber nirgends erreichen kann. Als ich keine Spuren entdecken konnte wurde sie sichtlich nervös und ersuchte mich sehr freundlich die Sache unbedingt mit höchster Dringlichkeit weiter zu verfolgen und sie umgehend über jedes noch so unbedeutende Detail zu informieren. So kannte ich Geraldine bislang nicht. Als sie gehen wollte, nahm ich sie zur Seite und wir gingen in den Pausenraum. Nachdem ich die Türe hinter uns geschlossen hatte, informierte mich Geraldine, ohne dass ich ausdrücklich nachgefragt hätte, ausführlich über ihr, nennen wir es einmal komplizierten Verhältnis zueinander. Sie sprach davon, wie gut sie die Freundin seiner Romanfigur mittlerweile versteht und wie ähnlich sie sich in vielem seien. Sie erzählte mir auch, dass sie für ihre letzte E-Mail an Sie absichtlich viele Passagen einer der letzten E-Mails dieser Frau benutzt hatte, um Ihnen zu zeigen, an welchem Punkt sie angekommen war. Exakt am gleichen, wie diese Frau. Sie äußerte die Hoffnung, dass Sie durch die Arbeit an ihrem Buch sie endlich verstehen würden und ihre Wahrnehmung für sie als Mensch ändern würden. Sie war sehr enttäuscht darüber, dass keine Reaktion von Ihnen auf die E-Mail erfolgte, auf die sie, wie sie wörtlich sagte sehnsüchtig gewartet hatte.“
Der Mann machte eine kurze Pause.
„Enttäuscht ist nicht das richtige Wort. Tief traurig trifft es viel eher“, korrigierte er nach einer Weile.
Ich war entsetzt über das, was ich gerade erfahren musste und erschütterte über seine Einschätzung von Geraldines Verfassung an jenem Tag. Eines wollte ich unabhängig von unserem jeweils vorherrschenden Status nie, dass ich Geraldine traurig machte. Der Mann rieb sich mit beiden Händen über seine Augen. Ich wusste nicht, ob er in diesem Moment nachdachte, ob ihn diese Gedanken an Geraldine ebenso betroffen machten, wie mich oder ob das Zeichen von Müdigkeit war? Besonders gut sah er heute jedenfalls nicht aus. Er hatte dunkle Ränder unter seinen Augen und stark abgenommen hatte er auch. Seine Bewegungen wirkten bisweilen unsicher. Nach einer Weile sprach er weiter.
„Wie Sie sich sicher vorstellen können waren Geraldines Empfindungen für mich aus einem anderen Grund interessant. Zum ersten Mal seit über einem Jahr, wurde ich mit der Ansicht einer Frau konfrontiert, die nicht direkt mit meinem Leben und meiner Geschichte zu tun hatte und das brachte mich erneut zum Nachdenken, ob meine Entscheidung richtig gewesen sein konnte. Aus persönlichem Interesse fragte ich Geraldine, ob Sie die Frau kennen würde. Sie verneinte das, erklärte mir aber, dass sie die Frau durchleuchtet hatte. Das ganze übliche Programm, Ausbildung, Beruf, Familie, Bank, Gesundheit und so weiter. Dabei hat sie erfahren, dass ihr Leben bislang alles andere als gradlinig verlaufen sein musste. Eine Sammlung von interessanten Erfahrungen, wie Geraldine es diplomatisch umschreibend nannte. Bevor sie weiter in Details gehen konnte, brach ich das Gespräch mit der Begründung ab, dass noch viel Arbeit auf mich wartete. Ich konnte es nicht ertragen weiter über sie zu sprechen. Schließlich, vor zwei Tagen, rief Geraldine mich an und ließ mich ohne Angabe von Gründen wissen, dass sich die Sache erledigt hat und ich die Suche einstellen soll. Sie war ungewöhnlich kurz angebunden. So kurz, dass sie einfach auflegte, ohne sich zu verabschieden. Und jetzt sitze ich hier neben Ihnen und frage Sie, was wollen Sie tun?“
  Der Mann zündete sich ein Zigarillo an und betrachtete mich eingehend, während er auf meine auf meine Antwort wartete.
„Das ist eine gute Frage. Ich liebe Geraldine. Das ist mir in den letzten Wochen klargeworden. Aber zwischen uns ist so vieles falsch gelaufen, dass ich nicht weiß, ob es eine gute Idee ist, wenn wir es noch einmal versuchen würden. Das, was Sie eben erzählt haben bekräftigt es nur. Außerdem bin ich davon überzeugt, Geraldine würde mittlerweile gar keinen Kontakt mehr zu mir wollen. Immerhin hätte sie sich sonst für den Schal bedankt. Ich verstehe zwar von Frauen nicht viel, aber ich weiß, was es zu bedeuten hat, wenn sie Geschenke ignorieren. Sie haben abgeschlossen. Vielleicht ist es das Beste für sie, ich melde mich nicht mehr, bis das Ganze eines Tages endgültig im Sand verläuft. Sie wird weiter hart an ihrer Karriere arbeiten und sich wieder kopfüber ins Leben stürzen. Trotz unserer Beziehungen und der jahrelangen Freundschaft, Geraldine vergisst mich sicher schnell. Zudem ist sie eine attraktive Frau und findet sicher umgehend jemanden.“
„Wenn das nicht bereits längst passiert ist“, fügte ich kleinlaut nach einer kurzen Pause hinzu.
„Sind Sie sich da so sicher?“, erwiderte der Mann mit einem merkwürdig fragenden Unterton. Dann zog er an seinem Zigarillo und schaute mich an.
„Sind Sie sicher, dass dies die richtige Entscheidung ist und Sie sich nichts vormachen? Solche Entscheidungen können in Reihe 16 enden.“
„Woher wissen Sie davon? Ich hatte darüber nur mit einem Freund bei der Polizei gesprochen.“
Der Mann grinste hintergründig und bemerkte:
„Alle Wege führen nach Rom, oder zu uns. Gerade Sie sollten das wissen. Wie gesagt, es ist ihre Entscheidung.“
  Er hatte Recht. Ich war auf dem besten Weg, das gleiche zu tun, wie damals. Nur diesmal, abgesehen von ein paar unnötigen Befindlichkeiten, wie meiner gekränkten Eitelkeit und der mir fehlenden Sicherheit, ohne zwingenden Grund. Geraldine hatte es nicht verdient, so von mir behandelt zu werden.
„Wissen Sie eigentlich, wo Geraldine im April war?“, fragte mich der Mann unvermittelt.
„Ich denke, sie war im Auftrag der Firma unterwegs und durfte niemand davon erzählen?“
Der Mann schüttelte fast unmerklich seinen Kopf.
„Nein, war sie nicht. Sie war im Krankenhaus und wollte unter gar keinen Umständen, dass Sie davon erfahren. Ihre Begründung dafür war ziemlich konfus und widersprüchlich. Zuerst sprach sie davon, dass Sie das sowieso nicht interessieren würde, weil Sie sich nie wirklich für sie als Mensch interessiert hätten. Später sagte Sie, sie wollte ihnen gegenüber auf keinen Fall mehr Schwäche zeigen. Sie sollten in ihr weiterhin nur die starke Frau sehen. Unter keinen Umständen wollte sie, dass Sie sie in diesem Zustand sehen. Bei meinem letzten Besuch, sagte sie urplötzlich, ohne eine weitere Erklärung, dass sie Sie ganz einfach nicht sehen will. Die starke und unerschütterliche Frau. Ein Bild von sich, das Geraldine immer gerne nach außen trägt, das aber in keiner Weise der Wahrheit entspricht. Aber wem sag ich das.“
Ich wusste nicht, was mich mehr entsetzte. Die Tatsache, dass Geraldine im Krankenhaus gewesen war, dass sie mir nichts davon erzählt hatte, weil ich ihr den Eindruck vermittelte, sie sei mir nicht wichtig, oder das sie mich schlicht nicht sehen wollte. Das auch ich, wie viele andere, in Geraldine, bis auf jene kritische Zeit, die kurzen Phasen der Flashbacks und ihren ab und zu auftretenden Depressionen, die ich aber zumeist als typisch weiblich abgestempelt hatte, überwiegend die starke Frau gesehen habe, die alles schafft, die alles kann, die jedes Problem lösen kann, entsprach leider zum größten Teil der Wahrheit. Viel zu selten, vor allem in den letzten fünf, sechs Jahren, hatte ich mir die Mühe gemacht auf Geraldine, ihre Wünsche und ihr Befinden einzugehen und wenn ich ehrlich bin hatte ich das all die Jahre eigentlich nie getan. Ich nahm sie als das, was sie für mich war. Selbstverständlich. Als ich mich wieder gefasst hatte, fragte ich den Mann, warum Geraldine im Krankenhaus war.
„Sie hatte einen Zusammenbruch“, antwortete er ungewöhnlich ruhig. „Wahrscheinlich das Zusammenspiel der Spätfolgen ihres Posttraumatischen Belastungssyndroms, ihrer übertriebenen Arbeitswut und ihrer Art zu leben im Allgemeineren.“
Eine Feststellung mit der ich nicht gerechnet hatte.
„Sie wissen von ihrem PTBS?“, erkundigte ich mich überrascht.
„Ja und bevor Sie fragen woher, das spielt keine Rolle. Ich weiß es, das muss Ihnen genügen.“
Ich war ziemlich konsterniert. Bislang ging ich davon aus, dass neben mir nur eine Handvoll Menschen, die ich alle persönlich kannte, darüber Bescheid wussten. Die einzige vernünftige Erklärung die mir einfiel war, dass der Mann und Geraldine sich besser kennen mussten, als Geraldine gesagt hatte. Dazu passte auch, dass er sie im April mehrfach im Krankenhaus besucht hatte. Ich fing darüber nachzudenken, warum Geraldine diese Freundschaft mir gegenüber nie erwähnt hatte, als mir schlagartig einfiel, dass der Mann im April selbst im Krankenhaus war. Ich musste mich vergewissern, wie seine Besuche bei Geraldine in den chronologischen Ablauf passten.
„Sie waren doch im April selbst ein paar Tage im Krankenhaus. Wie konnten Sie dann Zeit haben Geraldine zu besuchen?“
Der Mann lächelte wieder.
„Eine zu erwartende, weil logische Frage, bedenkt man ihre emotionale Situation. Ich habe sie zweimal vor meinem Krankenhausaufenthalt und einmal danach besucht. So gesehen war ich im April ziemlich viel in irgendwelchen Krankenhäusern.“
  Für ein paar Minuten saßen wir schweigend nebeneinander auf dem Ast. Die Sätze des Mannes über Geraldine waren wie Hammerschläge auf mich niedergegangen und ich brauchte Zeit, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Als das Gedankenkarussell in meinem Kopf wieder zum Stillstand gekommen war wurde mir klar, jetzt war die Gelegenheit, Antworten auf die Fragen zu bekommen, die ich seit Monaten suchte und nicht finden konnte.
„Darf ich Sie etwas fragen?“ sagte ich vorsichtig.
Als hätte er meine Frage erwartet, erwiderte der Mann:
„Nur zu, fragen Sie.“
Unsortiert, wie sie mir in den Sinn kamen, stellte ich meine Fragen.
„Zuerst das Wichtigste, wie geht es Ihnen? Dann, weshalb haben Sie die Gedichte niemals abgeschickt? Warum haben Sie diesen Brief wirklich geschrieben und hatten Sie mit einer Antwort gerechnet? Was hatte es mit den mehrfach umgeleiteten E-Mails Anfang März auf sich? Und zuletzt, wer ist diese bildschöne Frau, die sie nirgendwo erwähnen?“
Der Mann lachte kurz.
„Das sind ziemlich viele Fragen auf einmal. Ich werde sie Ihnen eine nach der anderen beantworten.“
Der Mann zog erneut an seinem Zigarillo und schaute nach seinem Hund, der mittlerweile etwa 200 Meter entfernt ein paar andere Hunde entdeckt hatte und zu ihnen gelaufen war.
„Mir geht es den Umständen entsprechend gut, sehr zur Verwunderung der Ärzte. Ginge es nach deren Prognosen und Wahrscheinlichkeiten, würden wir uns heute nicht unterhalten. Aber wie jede gute Wissenschaft, scheint auch die Medizin sich ab und an zu irren und Theorien über Wahrscheinlichkeiten beinhalten eben auch unwahrscheinliches. Nur mit einem haben die Ärzte Recht, ich werde sterben. Eines Tages. Wie wir alle.“
Der Mann schmunzelte dabei bedeutungsvoll vor sich hin.
„Heißt das, Sie sind geheilt?“, unterbrach ich den Mann.
„Nein, das nicht“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Es hat nur unerwartet sein Wachstum verlangsamt und seine Richtung geändert. Damit ist vorübergehend eine Verbesserung eingetreten. Aber es ist nach wie vor da und muss weiterhin streng beobachtet werden.“
Der Mann atmete tief durch.
„Noch vor drei Monaten hatte damit niemand rechnen können. Im Sommer sah es tatsächlich so aus, als würde ich diesen Herbst nicht mehr erleben. Aber Gottes Plan sieht wohl anders aus. Zurzeit gehen die Ärzte davon aus, dass wenn sich mein Zustand nicht signifikant verändert und das Ding nicht doch wieder in eine andere Richtung wächst mir noch etwa anderthalb Jahre bleiben. Diese verdammten Kopfschmerzen sind zwar immer noch da, aber ich kann wieder relativ normal leben und arbeiten. Jedenfalls in nächster Zeit.“
Auf eine eigentümliche Art war ich erleichtert, diese unerwartet guten Nachrichten zu hören.
„Was die Gedichte angeht“, fuhr der Mann fort, „es ist ganz einfach. Die schönen konnte ich ihr nicht schicken. Unter Umständen hätte sie sonst doch noch an unsere Beziehung geglaubt. Die traurigen durfte ich ihr nicht schicken, dann wäre womöglich alles außer Kontrolle geraten. Sie wird sie eines Tages finden, wenn sie an der richtigen Stelle danach sucht. Dort wo sie sind, sind sie für alle Ewigkeit unauslöschlich.“
Der Mann zog ein letztes Mal an seinem Zigarillo. Dann drückte er es an der Sohle seiner stark abgenutzten Wanderstiefel aus, bevor er meine nächste Frage beantwortete.
„Diese andere Frau, nach der Sie gefragt haben, ist eine sehr gute Freundin. Seit Jahren im Sinne von Freund. Auf diese andere Art zu ihr hingezogen, die Sie mir bei ihrem Aussehen verständlicherweise zu Recht unterstellen, habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich habe sie nie erwähnt, weil ich mir nicht sicher sein konnte, dass mein Tagebuch nicht eines Tages doch seinen Weg zu meiner…“.
Der Mann zögerte, als würde er nach dem richtigen Ausdruck für seine Exfreundin suchen, um ihn dann schließlich einfach zu umgehen.
„…finden könnte. Immerhin handelt es fast drei Jahre überwiegend von ihr und vielleicht gibt es Menschen, die nach meinem Tod der Ansicht sind, sie sollte es lesen. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie falsche Schlüsse ziehen könnte. Nicht nur diese, die im Allgemeinen einem Mann der viel Zeit mit einer hübschen Frau verbringt unterstellt werden. Mir ging es vielmehr darum, dass sie sich nicht die Frage stellen muss, warum vertraute ich einer anderen Frau, redete mit ihr über alles, wenn ich doch nur sie liebe und mein Leben mit ihr verbringen wollte. So etwas kann noch sehr viel verletzender sein. Besonders, wenn man es im Nachhinein erfährt.“
  Das meiste war genauso, wie ich es vermutet hatte, nur konnte ich mir jetzt sicher sein. Allerdings hatte der Mann mir ein neues Rätsel aufgegebenen. Wo waren diese Gedichte zu finden?
„Darf ich Sie fragen, wo sie die Gedichte finden kann?“
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Das werde ich ihnen nicht verraten! Aber ich gebe ihnen einen Tipp. Geraldine und ich haben ein gemeinsames Lieblingsbuch. Am Ende dieses Buch, die richtige Ausgabe vorausgesetzt, finden sie etwas, dass Sie mit einem Wort aus der ersten Zeile meines letzten Briefes in der richtigen Sprache verbinden müssen. Nach dem Ergebnis dieser Kombination müssen Sie suchen. Ich bin mir sicher, Sie werden es schaffen. Es ist eigentlich ziemlich einfach.“
Der Mann drehte sich kurz von mir weg, um nach seinem Hund zu sehen, der immer noch in einiger Entfernung mit den anderen Hunden herumtollte. Ich nutzte diese Pause um ihm eine weitere Frage zu stellen.
„Sie haben ihre Freundin doch äußerst selten gesehen, sehr wenig Zeit mit ihr verbracht und meist nur per E-Mail kommuniziert. Hat Ihnen das nichts ausgemacht? Ihr Tagebuch ist dazu teils sehr ungenau und manchmal widersprüchlich.“
Sein Blick wandte sich von mir ab und richtete sich kurz auf das gegenüberliegende Maisfeld. Für einen Augenblick schien der Mann zu überlegen.
„Doch hat es. Meistens. Fast jeden Tag. Wenn ich ehrlich bin, jede Minute. Ich habe sie oft schrecklich vermisst. Nicht nur seit Mai.“
Seine Augen waren bei seinen letzten Worten feucht geworden. Die Gedanken an diese Frau wühlten ihn emotional sichtlich sehr auf.
„Wissen Sie was Graham Greene in „Das Ende einer Affäre“, ein Buch das ich sehr schätze, darüber geschrieben hat? Wahre Liebe endet nicht, nur weil man sich nicht mehr sieht. Die Menschen lieben auch Gott und sehen ihn nicht. Vielleicht ist das die einzige wirkliche Form der Liebe. Ich denke, er hat Recht und das sollten Sie in den letzten Wochen gelernt haben.“
Auf so eine Antwort war ich nicht gefasst. Ich hatte dieses Buch von Graham Greene selbst zweimal gelesen, mir aber nie Gedanken über diese Aussage gemacht.
  Der Mann richtete seinen Blick erneut auf den gegenüberliegenden Hang mit diesem einzelnen Maisfeld. Er schien in diesem Moment sehr nachdenklich und auf eine besondere, nicht sofort zu erkennende Art traurig zu sein.
„Die Sache mit den E-Mails“, fuhr er nach einer Weile fort und sprach dabei ganz leise. „Ich hatte sie mehrfach zwischen meinen verschiedenen E-Mail-Adressen hin und her geleitet, weil das gleichzeitig ein sehr ungewöhnlicher und auffälliger Vorgang ist. Ich ging davon aus, dass ihr das auffallen musste und sie irgendwann fragen würde, warum meine E-Mails so oft umgeleitet wurden. Es war ein Versuch, sie dazu zu bewegen, Fragen zu stellen. Fragen, die ich ihr zu dieser Zeit beantwortet hätte. Aber wie alle meine anderen Versuche, war auch das zu kompliziert gedacht und zeugte letzten Endes nur davon, dass ich nicht von mit ihr reden konnte. Ich wollte erreichen, dass sie, in dem sie die richtigen Fragen stellt, das Gespräch beginnt. Nur leider funktioniert das so nicht. Entweder, der andere bemerkt diese Hinweise gar nicht, weil sie zu gut versteckt sind, oder er interpretiert sie vollkommen falsch. Von der bloßen Belanglosigkeit, über ein unreifes Spielchen bis hin zur sinnlosen Spinnerei. Das Spektrum der Möglichkeiten ist sehr groß. Ich bin heute davon überzeugt, dass mein Erwartungshorizont an sie in dieser Hinsicht viel zu groß war. Überhaupt hatte ich viel zu oft die falschen Erwartungen an sie. Vielleicht, weil ich sie nie wirklich richtig einschätzen konnte, oder sie immer an sogenannten alleingültigen Maßstäben gemessen hatte. Genauso, wie Sie Geraldine stets an allgemeingültigen Maßstäben gemessen haben, die nicht zu ihrer Persönlichkeit passten und denen sie deshalb nie gerecht werden konnte.“
Der Mann schaute mich dabei eindringlich an, als wollte er mit seinem Blick seinen letzten Satz verstärken.
„Zum Schluss zu dem Brief.“ Er machte erneut eine kurze Pause und steckte sich wieder ein Zigarillo an. Es schien ihm sichtlich schwerer zu fallen, über diesen Brief zu sprechen, als über die Gedichte, diese andere Frau oder die E-Mails.
„Ich will versuchen es in der Sprache der Firma auszudrücken. Sie kennen doch diese Zufälle, mit denen keiner gerechnet hat? Durch die eine sorgsam geplante Operation außer Kontrolle geraten kann und schnell eine Lösung gefunden werden muss. Der Brief war eine solche Lösung. Durch einen Zufall, mit dem ich nicht gerechnet hatte, bestand plötzlich die sehr realistische Möglichkeit, dass sie über eine bestimmte dritte Person erfahren könnte, was wirklich vor sich ging. Dem musste ich mit dem Brief unbedingt zu vorkommen. Egal, was im Anschluss passieren würde. Ich wollte nicht, dass wenn sie schon die Wahrheit erfahren muss, sie diese von jemand anderem als mir erfährt. Dass das Operationsziel damit nicht mehr erreicht werden konnte, war mir klar. Aber zu diesem Zeitpunkt bestand keine Alternative, zumal die Untersuchungsergebnisse zu der Zeit bereits seit längerem eine eindeutige Sprache gesprochen hatten. Mit einer Antwort, oder irgendeiner Reaktion hatte ich zu keinem Zeitpunkt gerechnet.“
Bei diesem Satz strahlte der Mann eine ungewöhnliche und nach meiner Überzeugung nicht nachvollziehbare Sicherheit aus. Dabei blickte er mich an, als erwartete eine Frage von mir. Ich wollte aber seine Ausführung keinesfalls unterbrechen und schwieg.
„Welchen Grund hätte sie haben sollen, das zu tun? Alles, was ich Wochen und Monate zuvor getan hatte, hatte sie sicher schon weit genug von mir weggetrieben. Alles sollte sie an das Jahr zuvor erinnern, auch wenn der Hintergrund ein vollkommen anderer war. So wie der, der die Vergangenheit nicht kennt, dazu verdammt ist, sie zu wiederholen, kann der, der sie kennt, sich ihre Wiederholung zu Nutze machen.“
Der Mann betrachtete bei seinem letzten Satz sein Zigarillo, dass er zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand hielt. Dann nahm er einen langen Zug und atmete langsam aus.
„Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es nicht ein Fehler war. Alles, nicht nur der Brief ein großer, nicht wiedergutzumachender, unverzeihlicher Fehler war.“
Bei diesem Satz blickte er wieder auf dieses Maisfeld, das eine besondere, mir unerklärliche Faszination auf ihn auszuüben schien.
„Wir machen alle Fehler, unter anderem weil wir unsere Mitmenschen falsch einschätzen, oder weil wir glauben, zu wissen, was das Beste für sie ist. In logischer Konsequenz zieht dieser erste Fehler die anderen nach sich, wie bei Ihnen. Es ist unvermeidbar. Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich. Ihn zu korrigieren ist nahezu unmöglich. Glauben Sie mir.“
Wieder ließ der Mann seinem Blick über dieses Maisfeld gleiten und zog nebenbei an seinem Zigarillo.
„Aber es gibt auch eine andere Seite. Jedes Mal, wenn ich ein Werbeplakat ihres Labels sehe, wie neulich an einer U-Bahn Haltestelle, wenn ich über ihre Firma in Zeitungen lese, weiß ich, dass meine Entscheidung wenigstens bis zu einem bestimmten Punkt richtig war. Wäre sie bei mir geblieben, hätte sie das womöglich nie erreicht. Sie hätte sich vermutlich zwischen ihrer Arbeit, allem was sonst noch an ihr herumzerrt und mir zerrissen. Ich bin unendlich Stolz auf sie und ihren Erfolg.“
  Ich war nachdenklich geworden. Der Mann hatte mit dem was er sagte Recht, ob mir das gefiel oder nicht.
„Und was würden Sie an meiner Stelle jetzt tun? erkundigte ich mich bei dem Mann.
„Geraldine und meine, wie soll ich sagen, sind sich an bestimmten Punkten wirklich sehr ähnlich. Ich kenne beide eine lange Zeit und so verschieden die beiden äußerlich wirken, so ähnlich gelagert sind ihre Gefühlswelten. Sollte ich mich damit nicht irren und das stimmt, was Sie vorhin sagten, dann haben Sie nur eine Möglichkeit, eine allerletzte Chance. Sie sollten ihr das, was Sie fühlen auch offen zeigen. Nicht mit Blumen, Schmuck oder anderen einfallslosen Geschenken. Auch nicht mit einem sündhaft teuren Hermés Schal. Geraldine ist ein ganz besonderer Mensch. Sie verdient etwas ganz Besonderes. Etwas Einzigartiges, das nur Sie für Geraldine zu leisten im Stande sind! Unabhängig von dem was sie tun werden, handeln und leben sie anschließend danach! Lassen Sie Geraldine an ihrem Leben teilhaben! Zeigen Sie ihr, dass sie ihr vertrauen. Und glauben Sie nicht, dass es einfach wird. Sollten Sie sich für Geraldine entscheiden, wird sie sich das lange ansehen, bevor sie überzeugt ist. Sie haben sie zu tief verletzt. Das kann Wochen, wenn nicht Monate dauern, in denen Sie nicht nachlassen dürfen. Erinnern Sie sich an meinen ersten Brief, den ich im Sommer 2012 geschrieben hatte?“
Ich wusste nicht genau, worauf der Mann hinauswollte. In diesem 8-seitigen Brief stand so vieles.
„Ja, aber nicht mehr in allen Details. Hauptsächlich daran, dass Sie mit ihren widersprüchlichen E-Mails umgegangen sind, wie McNamara und Rusk während der Kuba-Krise mit den sich widersprechenden Telegrammen aus der UdSSR.“
„Das war aber nicht der einzige historische Vergleich, den ich in diesem Brief gezogen hatte“, erwiderte der Mann ruhig. „Ich schrieb auch, in Anlehnung an Winston Churchill von meiner Beziehung, die zunächst nichts außer Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen versprach und genau das kann ich ihnen jetzt versprechen, wenn Sie Geraldine gegen alle Widrigkeiten zurückgewinnen wollen. Sind Sie sicher, dass Sie das können und in letzter Konsequenz auch wirklich wollen?“
Der Mann sah mich bei diesen Worten mit ernster Miene an und ich war für einen Augenblick sprachlos.
„Was soll ich machen, wenn mir drei oder vier Monate nichts einfällt und sich Geraldine bis dahin endgültig von mir entfernt hat? Solche Ideen kann man nicht einfach aus dem Ärmel schütteln.“
  Der Mann stand auf und rief seinen Hund zu sich.
„Auf die Zeit kommt es nicht an. Sie bedeutet nichts. So wie 1/54 des Ganzen nichts ist. Eines aber weiß ich. Dieses Gefühl begegnet jedem Menschen nur ein, höchstens zweimal im Leben und es verschwindet auch nicht wieder von heute auf morgen. Im Gegenteil es begleitet uns unser ganzes Leben. Egal, was viele Leute heute über Liebe sagen. Leider sind viele von uns nicht in der Lage es zu erkennen oder wollen es erst gar nicht erkennen. Andere wiederum bemühen sich zu wenig darum, sagen sich, die Umstände haben es nicht zugelassen. Führen fadenscheinige Begründungen als Ausreden an. Manche sind zu festgefahren in ihrem Leben und eingefangen von vermeintlichen Zwängen. Oder materielle Dinge sind wichtiger. Vergessen Sie nie, wenn es der Preis wert ist, ist es immer auch der Kampf dafür. Werfen Sie es nicht leichtfertig weg, nur weil der Weg lang und steinig werden wird.“
Der Mann hatte Recht. Wir kämpfen um oder für Dinge, die es häufig genug nicht wert sind, aber selten genug für dieses Gefühl. Passiert es dann ausnahmsweise doch, dann oft genug aus Egoismus und nicht, weil dieser andere Mensch diese überwältigende Bedeutung hat. Ich hatte das Gefühl, dass der Mann unser Gespräch langsam beenden wollte. Eilends schob ich daher noch zwei weitere Fragen nach, deren Antworten mich ebenfalls seit geraumer Zeit beschäftigen.
„Zwei Sachen noch. Das Erste ist wahrscheinlich vollkommen unwichtig, aber es beschäftigt mich, da Sie es wiederholt erwähnten. Was hat es mit dieser Schachtel Zigaretten auf sich?“ Die Frage schien dem Mann zu gefallen. Fast so, als hätte er auf sie gewartet.
„Das ist eine lange und eigentlich doch sehr kurze Geschichte. Vor 25 Jahren zertrümmerte ich auf der Geburtstagsfeier ihres damaligen Freundes ihre volle Schachtel Zigaretten. Ich kann heute nicht mehr sagen, warum ich das getan habe. Wahrscheinlich wollte ich sie ärgern. Sie hat sich damals furchtbar aufgeregt. Ich versprach ihr, dass sie eines Tages dafür Ersatz bekommen würde. Lange Zeit war die Schachtel Zigaretten eine Art Faustpfand. Die Möglichkeit jeder Zeit aus heiterem Himmel zu ihr gehen zu können, ihr die Schachtel Zigaretten zu geben und zu sehen, was sich daraus entwickeln würde. Irgendwann erfuhr ich, dass sie geheiratet hatte und ich begrub diese Idee für alle Ewigkeit. Aber es sollte anders kommen. Im letzten Jahr hat sich die Bedeutung allerdings verändert. Sollte sie diese Schachtel jemals erhalten, bedeutet das für sie, ich bin endgültig aus ihrem Leben verschwunden. Die zweite Bedeutung kennt sie. Die erste nicht und sie muss sie auch nicht kennen. Und das Zweite?“
„Sie beide haben sich häufig Lieder über das Internet geschickt. Musik scheint ihnen sehr wichtig zu sein und sie miteinander zu verbinden. Letzten Sommer haben Sie ihrem zweiten Brief sogar einen USB-Stick beigelegt, der viele Musikstücke enthielt und sie antwortete darauf, mehr oder weniger direkt, ebenfalls mit einem Lied. Alle Lieder, bis auf ein einziges, waren in dem Zusammenhang, in welchem sie benutzt wurden mehr oder weniger eindeutig. Nur „Waltzing Matilda“ nicht. Ich hatte mir damals lange den Kopf darüber zerbrochen, warum Sie ausgerechnet dieses Lied gewählt hatten. Es passte weder wörtlich, noch sinngemäß zu der damaligen Situation. Schließlich gelangte ich zu der Überzeugung, dass es nicht um das Lied als solches ging, sondern das Lied als Hinweis auf den Film „Das letzte Ufer“ zu verstehen war und ihre Freundin überhaupt nicht verstanden hat, was sie ihr sagen wollten. Liege ich damit richtig?“
„Sie sind wohl der Einzige, der dahinter gekommen ist“, sagte der Mann lächelnd, um sofort wieder ernst zu werden. „Es war damals eine sehr schwierige Zeit für mich. Ich war aus zwei Gründen, die Sie ja kennen, hin und her gerissen, zwischen mit ihr darüber zu reden, oder es besser zu lassen. Eines Abends hatte ich mir, ohne besonderen Grund, diesen Film angeschaut. Obwohl ich ihn schon zwei- oder dreimal gesehen hatte, konnte ich ihn zum ersten Mal richtig verstehen. Warum Fred Astaire unbedingt mit seinem Ferrari noch dieses Rennen fahren wollte und weshalb der Kapitän des U-Bootes seine Liebe zurückließ und mit seiner Mannschaft nach Hause fuhr, wo ihn auch nur der sichere Tod erwartete. Von außen betrachtet handeln Menschen in großen Krisen häufig irrational. Nicht so, wie man es gemessen an normalen Maßstäben erwarten würden. Gelingt es aber, sich in den Menschen hineinzuversetzen, hat man eine gute Chance, sein Handeln zu verstehen. Dieser Film bringt diese Thematik zwar deutlich, aber nicht plakativ herüber. Meine Überlegung, oder besser Hoffnung, war, wenn sie mit dem Lied nichts anfangen kann, sucht sie im Internet nach diesem Lied und seiner Geschichte und stößt so mit Sicherheit auf diesen Film. Vielleicht schaut sie sich den Film auf dem Hintergrund meines ungewöhnlichen Verhaltens der Monate zuvor an, oder liest wenigstens, von was der Film handelt und wird von sich aus die richtigen Fragen stellen. Die Schwierigkeit war nur, in dem Lied den Hinweis auf diesen Film zu sehen. Leider ist ihr das nicht gelungen. Leider war es, wie das meiste von mir zu jener Zeit, zu kompliziert und anspruchsvoll gedacht. Als ich bemerkte, dass sie es nicht versteht, weil sie in dieser Zeit sehr angespannt war, den Kopf nicht für ein solches Rätsel frei hatte und von mir wissen wollte, wie sie das Lied verstehen soll, benutzte ich den von mir geplanten Notausgang. Bezugnehmend auf die letzte Zeile des Liedes erklärte ich ihr, als gute Nacht Lied. Zuerst war ich sehr verwundert, dass sie sich mit dieser Antwort zufriedengab. Ein paar Tage später führte diese Antwort dazu, dass sich meine Zweifel an ihr mehr und mehr verstärkten, wie Sie aus meinem Tagebuch wissen.“
„Wenn sie den Hinweis auf den Film verstanden und sie im Anschluss die richtigen Fragen gestellt hätte, wie wäre ihre Antwort gewesen?“, wollte ich von dem Mann wissen.
„Ganz einfach“, antwortete der Mann. „Zu diesem Zeitpunkt die Wahrheit. Warum sonst hätte ich mir diese Mühe machen solchen?“.
„Genau wie „Harry und Sally“ und „Casablanca“ an Neujahr auch ein Hinweis war, der ihr zeigen sollte, dass Sie nicht wissen, wie sie sich entscheiden sollten?“, erwiderte ich rasch.
„Ja. Richtig erkannt.“
  Der Mann drehte sich um und entfernte sich langsam mit seinem Hund, der mittlerweile vom Spielen mit den anderen Hunden wieder zurückkehrt war, von mir. Ich blickte auf meine Uhr, um zu sehen wie spät es geworden war, als ich das Datum bemerkte. Heute war der Geburtstag des Mannes. Ein Tag, den man im Allgemeinen mit seinen Freunden verbringt und sich nicht stundenlang mit einem Fremden im Park unterhält. Ich war neugierig, welche Pläne der Mann noch für den heutigen Tag hatte.
„Haben Sie heute eigentlich nichts Anderes vor? Ich meine gerade heute?“, rief ich ihm nach. Er blieb stehen und wandte sich zu mir zurück.
„Nein, was sollte ich heute noch vorhaben? Es ist ein ganz normaler Tag. Ein Tag, wie jeder andere. Ein Donnerstag, der keine besondere Bedeutung hat. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Tun Sie das Richtige. Wir werden uns bestimmt wiedersehen!“
„Und was werden Sie jetzt tun?“
Der Mann lächelte kurz, drehte sich wieder um und ging mit seinem Hund an seiner Seite weiter, ohne meine Frage beantworten.
  Ich blieb noch einige Zeit auf dem Ast sitzen und überlegte mir, ob er die Frage für sich nicht schon lange beantwortet hatte und wie diese Antwort lautete. Als er mit seinem Hund fast außer Sicht war, fielen mir noch weitere Fragen ein, die ich ihm gerne noch gestellt hätte. Aber dafür war es nun zu spät. Das Ende meines Buches hingegen wollte er offensichtlich meiner künstlerischen Freiheit überlassen. Auf dem Weg nach Hause spielte ich alle denkbaren Varianten durch. Ein Happyend oder doch das traurige Ende. Zudem bestand noch die Möglichkeit, ein offenes Ende zu schreiben. Mit Sicherheit nicht nur die beste Option, sondern die einzig richtige. In anderthalb Jahren kann viel passieren und niemand vermag zu sagen, was morgen sein wird.
  Zuhause setzte ich mich vor meinen Kamin und blätterte nochmals meine Notizen, sowie die diversen Ausdrucke, die ich mir in den letzten Monaten gemacht, durch. Ich blieb an einem Eintrag aus seinem Tagebuch hängen, den ich mir einst komplett kopiert und ausgedruckt hatte, da ich seine Bedeutung nie verstanden hatte. Der Mann hatte ihn Herbst 2012 für seine Freundin verfasst. Obwohl ich diesen Text in den letzten Monaten mehrfach gelesen hatte, war er mir, in seiner allgemeingültigen und gleichzeitig kryptisch anmutenden Aussage, nie wirklich verständlich geworden. Nach dem Gespräch des heutigen Nachmittags war ich mir sicher, dass er diese Zeilen nicht nur für sie, sondern hauptsächlich über sie geschrieben hatte. Sie waren die Antwort auf eine meiner letzten offenen Fragen. Was für ein Mensch sah er in seiner ehemaligen Freundin tatsächlich? Der Mann hatte sie längst gegeben. Sie war mir nur nie aufgefallen, weil wir immer nur mit den Augen sehen und mit dem Verstand begreifen wollen.
„Jeder von uns kann seine Fähigkeiten voll ausschöpfen, er muss nur bereit dazu sein.Â
Bestimmte Strukturen unserer Persönlichkeit mögen in gewisser Weise festgelegt sein.Â
Den Weg, den wir in unserem Leben beschreiten, suchen wir uns jedoch letztlich immer selbst aus.Â
Wir dürfen nie zulassen, dass unsere Ängste die Grenzen unserer Möglichkeiten festlegen. Ebenso müssen wir verhindern, dass die Erwartungen anderer uns zu etwas machen, das wir nicht sind,
Der Platz, den wir im Leben einnehmen wird von vielen Faktoren bestimmt. Die Kontrolle darüber zu behalten ist eine schier unlösbare Aufgabe.
Die wichtigsten Dinge in unserem Leben sind gleichzeitig die Zerbrechlichsten und sie sind schnell zerstört. Wir sollten lernen nicht leichtfertig mit ihnen umzugehen, damit wir sie nicht stetig mühsam wieder von neuem aufbauen müssen.Â
Zeit ist eine Variable, unsere Wünsche und Träume relative Konstanten. Ob die Gleichung positiv oder negativ ausfällt, werden wir erst am Ende erfahren.Â
Dabei wird unser Wissen stets geringer sein, als unser Nichtwissen.Â
Egal was wir glauben zu wissen oder wie sicher wir uns damit sind.Â
Zu oft sprechen wir in der Gegenwart die Sprache der Verteidigung und überlassen die Sprache der Hoffnung einer unbestimmten Zukunft.Â
Die Schönheit des Sommers bemerken wir erst, in der Traurigkeit des Winters.Â
Wir glauben an Zufälle, bis wir feststellen, dass es keine Zufälle gibt.Â
Das Schicksal lässt sich nicht ändern. Man kann davor kapitulieren, oder die Herausforderung annehmen.Â
Ein Mensch wird mit vielen möglichen Persönlichkeiten geboren und abhängig von seiner Entwicklung, stirbt er letztlich als eine Persönlichkeit.“
Offen blieb jetzt noch die Frage, wo er die Gedichte für sie so aufbewahrte, dass sie diese eines Tages finden konnte? Obwohl ich mir sicher war, was dort vorfinden werde, nahm ich das Buch, welches mir Geraldine zum Geburtstag geschenkt hatte und schaute mir die letzten Seiten an. Dann lass ich die Worte der ersten Zeile seines Briefes. Dank seines Hinweises war es nicht schwierig auf die Lösung zu kommen. Es war musste eine Internet-Adresse sein. Ich startete mein Laptop, tippte die Adresse ein und nach wenigen Augenblicken erschien eine liebevoll gestaltete Seite auf meinem Monitor. Ich hatte seine Gedichte gefunden. Chronologisch sortiert. Die schönen, wie die nachdenklichen. Aber nicht ein einziges, das einen Vorwurf erhob oder sie in irgendeiner Form verletzen konnte. Auch die düsteren, die er phasenweise geschrieben hatte fehlten. Ohne es zu wissen, hatte er Geraldines Wunsch, er möge ihr die Gedichte als Buch schenken auf eine moderne Art umgesetzt und ich war mir sicher, eines Tages würde sie diese Gedichte finden. Geraldine hatte auch damit Recht behalten, dass der Mann niemals wieder etwas tun würde, dass seine große Liebe mit hässlichen Gedanken verletzen würde. Noch viel wichtiger in diesem Augenblick aber war eine andere Erkenntnis. Mir wurde bewusst, wie wichtig sich der Mann und seine Freundin gewesen sein mussten und höchstwahrscheinlich, ohne dass sie es jemals wieder aussprechen werden, immer noch sind. Ich hatte die Dimension in den letzten Monaten zwar rational einigermaßen verstehen, aber ihre emotionale Tragweite nie erfassen können. Mir wurde deutlich, dass ich mein Buch, so wie ich es geplant hatte, niemals schreiben durfte. Die Gefahr, sollte es überhaupt verlegt werden, dass seine ehemalige Freundin es zufällig liest, sich darin wiederfindet und die ganze Wahrheit erfährt, war viel zu groß. Den ganzen Abend dachte ich über die Begegnung des heutigen Nachmittags nach. Der Mann hatte mit allem was er gesagt hatte Recht. Schon einmal vor vielen Jahren hatte ich einen Fehler begangen, der sich nicht Wiedergutmachen ließ. Jetzt war ich im Begriff wieder einen solchen Fehler zu begehen. Wenn ich ihn nicht schon längst begangen hatte. Sollte es so sein, gab es eine Chance, ihn wieder gut zu machen? Es gibt einiges, das mich an Geraldine stört, mich manchmal zur Weißglut bringt oder in den Wahnsinn treibt. Aber selbst alles zusammen genommen, war längst nicht mehr stark genug, um mich davon abzuhalten, den Rest meines Lebens mit Geraldine verbringen zu wollen. Gleichermaßen gibt es auch Eigenschaften an mir, die Geraldine ähnlich missfielen und an denen ich arbeiten musste. Damit meine ich nicht nur solche Banalitäten, wie Kosmetikartikel in meinem Bad, sondern grundlegendes. Aus unseren Ichs musste ein Wir werden. Ich stand auf, holte mir ein Glas Edradour, einer dieser wunderbaren Whiskys, die ich mir aus Schottland mitgebracht hatte, zündete mir eine Zigarre an und legte Sinatras „Some nice things I’ve missed“ ein. Während „What are you doing the rest of your life“ lief, bemerkte ich, wie wunderbar dieser Text zum Ausdruck bringt, wie wichtig einem eine andere Person sein kann. Unpathetisch, ohne abgedroschene Phrasen. So wunderbar, wie der Mann seine Gefühle in seinen Gedichten zum Ausdruck gebracht hatte. Geraldine hatte Recht. Es gibt Frauen, im Leben eines Mannes, denen man Blumen kauft, andere führt man zum Essen aus, manchen schenkt man Schmuck, einigen schwört man vermeintlich ewige Liebe. Aber es gibt nur die eine besondere Frau, für die man aus wahren, nie endenden und aufrichtigen Gefühlen schreibt. Ich war es müde, ohne Geraldine zu sein. Durch den Mann und seine Geschichte, hatte ich gelernt, was Graham Greene damit meinte, als er schrieb, wie relativ leicht es sich über Schmerz schreibt. Aber was schreibt man über Glück? Einen Menschen, wie Geraldine in seinem Leben zu haben ist Glück, großes Glück. Zudem hatte ich das Glück, schreiben zu können. Ein Buch zu schreiben dauert etwa ein halbes Jahr, vielleicht ein Jahr Das ist nicht viel Zeit, wenn man es für jemand schreibt, den man liebt.
ENDE