Der Mann mit dem Hund: Die andere Seite des Spiegels – Kapitel 2 – Ein Tag am Strand

   Kurz nach 19 Uhr klingelte es an meinem Tor. Das konnte nur Chris sein. Der Geruch von kurz in Olivenöl angebratenen und mit Weißwein abgelöschten Zwiebeln und Knoblauch durchzog den Flur, als ich zum Monitor der Videosprechanlage ging und die Taste für den Toröffner drückte. Ich öffnete die Haustüre und begrüßte Chris, der Mable mitgebracht hatte.
“Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich Mable mitgebracht habe. Ich will sie nach diesem Sommer nicht unnötig alleine lassen.”
“Ãœberhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, ich freue mich, dass du sie mit gebracht hast.”
Chris folgte mir in die Küche und nahm an der Bar Platz. Unterdessen untersuchte Mable den Boden nach Essbarem, bevor sie Richtung Esszimmer verschwand.
„Kann ich dir helfen Thom?“, erkundigte sich Chris, während ich das Wasser für die Nudeln aufsetzte und mich um die Scampi kümmerte.
„Wenn du möchtest, kannst den Salat waschen.“
Ich ging zum Kühlschrank, nahm den Lollo Rosso heraus und gab ihn Chris. Nachdem er die Blätter vom Strunk getrennt hatte, ging Chris zur Spüle und begann den Salat zu waschen. Um zu verhindern, dass sein Pullover an den Ärmeln nass werden konnte, hatte er diese nach oben geschoben und ich bemerkte dass Chris ein Armband an seinem rechten Arm trug. Ich warf einen genauen Blick auf dieses Armband. Es war ein Lederarmband aus mehreren dünnen Lederriemen mit jeweils zwei Zierringen die von zwei S umschlossen wurden. Mein neugieriger Blick musste Chris aufgefallen sein.
„Du fragst dich bestimmt, was es mit diesem Armband auf sich hat?
„Ja tu ich. Was sollen die beiden S bedeuten  und seit wann trägst du es?
„Hat eine Bekannte letzten Juli für mich gemacht. Es sind zwei S für Sonnenschein.“
„Und warum trägst du das noch?“
„Sentimentalität, Liebe, möglicherweise Dummheit. Wer weiß?“
Ich ließ Chris Antwort unkommentiert, während mich das siedende Nudelwasser daran erinnerte, die Spaghetti zu kochen, bevor die Scampi trocken und hart wurden. Auf dem Weg ins Esszimmer fiel Chris die Rossioglossum Grande auf, die seit Geraldines Geburtstag auf dem Sideboard stand. Chris, der selbst viele Orchideen besaß, musste sie bei seinem ersten Besuch übersehen haben.
„Eine Rossioglossum Grande“, sagte er fast ehrfürchtig. „Eine tolle Orchidee.“
Ich versuchte diese Bemerkung zu ignorieren, bis Chris mich fragte, von wem ich diese Pflanze bekommen hatte.
„Von niemand. Ich habe sie gekauft“, beantworte ich seine Frage leicht mürrisch. „Sie sollte ein Geburtstagsgeschenk für Geraldine sein. Doch es kam etwas dazwischen.“
Chris wandte seinen Blick von der Orchidee ab und sah mich an.
„So etwas kenne ich nur zu gut. Ich habe auch ein paar Sachen, die…“
Chris beendete diesen Satz unvollständig. Offenkundig wollte er nicht über diese Dinge und den damit verbundenen Erinnerungen sprechen. Bevor wir anfingen zu Essen erkundigte ich mich nach den Ergebnissen seiner gestrigen Untersuchung. Ganz kurz, ohne irgendwelche Details zu erwähnen, berichtete Chris  darüber und den im Vergleich zum Vormonat fast unveränderten Werten. Dabei machte er einen sehr zufriedenen Eindruck, so als seien diese unveränderten Ergebnisse ein großer Erfolg. Im Laufe unseres Essens bemerkte ich, das Chris wiederholt zu meiner Bar hinübersah und die Whiskyflaschen betrachtete. Die vielen verschiedenen Single-Malt Flaschen übten eine erkennbare Faszination auf ihn aus.
„Was hältst du davon, wenn wir uns nach dem Essen vor den Kamin setzen und gemütlich ein Glas Whisky trinken?“, schlug ich vor.
„Das wäre großartig. Den Balvenie vielleicht? Den würde ich gerne probieren.“
Balvenie ist, wenn man so will, die kleine Schwester von Glennfiddich. Beide Destillerien gehören nicht nur demselben Besitzer, sie liegen auch auf demselben Gelände und teilen sich viele Einrichtungen. Dennoch schmeckt ein Balvenie deutlich anders als ein Glennfiddich. Der 17 Year Double Wood war für einen kühlen Abend im Spätherbst mit seinen feinen Geschmacksnoten von Honig und Vanille eine ganz hervorragende Wahl. Kaum hatten wir darüber gesprochen, fiel mir ein, dass Chris gewiss noch Medikamente nahm.
„Darfst du überhaupt Alkohol trinken? Du nimmst doch sicher eine Menge Medikamente?“ Meine Frage musste Chris, der schallend anfing zu lachen, aus einem mir unbekannten Grund amüsiert haben.
„Was ist an dieser Frage so witzig, dass du in Lachen ausbrichst?“
„Das kannst du nicht wissen“, erwiderte Chris, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte. Chris, der immer noch lachen musste, fing an zu erzählen.
„Im September bekam ich zum großen Teil neue Medikamente, weil ich die extrem starken bis auf weiteres nicht mehr benötigte. Ich habe meinen Arzt gefragt, ob ich Alkohol trinken darf. Die Whiskys hatte ich mir ja nicht gekauft, um die Flaschen anzuschauen. Er erklärte mir, dass es keine gute Idee sei, da die Medikamente in Kombination mit Alkohol in 2 bis 3 Jahren zu einem Leberschaden führen könnten. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm zur Antwort gab, Gott sei Dank sind sie nicht Kernphysiker geworden. Bei ihren Rechenkünsten würde uns jedes Kraftwerk um die Ohren fliegen.“
„Ich verstehe nicht ganz?“, wandte ich ein.
„1,5 minus 2 gibt?“
„Minus 0,5. Warum?“
Chris sah mich ungläubig an.
„Ich müsste nach meinem Tod weiter trinken um einen Leberschaden zu bekommen, verstehst du? Das heißt aber nicht, dass ich es mit dem Trinken übertreibe. Wer weiß, welche Auswirkungen das hätte?“
Chris hatte hörbar eine zynische Form von Humor entwickelt.
„Haben deine Medikamente große Nebenwirkungen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass solche Medikamente keine haben?“, fragte ich interessiert nach.
„Eigentlich nicht. Naja, ein paar schon. Sie machen müde, nach der Einnahme wird mir manchmal übel und eines davon macht es unmöglich …“ Chris verstummte. „Du weißt was ich meine. Das geht eben auch nicht mehr. Hatte ich aber bereits in meinem Tagebuch Mitte Februar erwähnt und du solltest wissen, was ich meine. Egal, spielt eh keine Rolle mehr und ich soll es ohnehin lassen. Zu gefährlich sagen die Ärzte.“
Ich erinnerte mich an diesen Eintrag und was Chris damals geschrieben hatte. Heute schien Chris diese Einschränkung nichts mehr auszumachen. Jedenfalls passte sein gleichgültiger Gesichtsausdruck zu seinem Tonfall.
„Musst du sie regelmäßig nehmen?“, versuchte ich mich weiter zu informieren.
„Unterschiedlich, manche regelmäßig, andere nach Bedarf“, beantwortete Chris meine Frage und griff nebenbei in seine Hosentasche. Er holte eine kleine Metalldose mit dem Werbeaufdruck eines Pfefferminzpastillen Herstellers heraus und legte sie auf den Tisch.
„Ich trage sie zur Sicherheit stets bei mir. Ohne sie würde ich das Haus nicht verlassen.“
„Warum gerade in so einer Dose?“, fragte ich verwundert.
„Ganz einfach“ erwiderte Chris, als er die Dose wieder einsteckte. „Sie erregt kein Aufsehen. Muss ich eine nehmen, was durchaus vorkommt, stellt niemand blöde Fragen und ich muss es nicht heimlich machen. Ich will nicht von jedem darauf angesprochen werden. Es ist meine Sache!“
Vor dem Hintergrund des Eindrucks, dass Chris nicht gerne über seine Krankheit redete, klang das einleuchtend.
„Wer weiß überhaupt davon? Ich meine außer deiner Exfreundin, dieser Frau und deinen engsten Freunden, wie ich annehme.“
„Du hast dich in deiner Aufzählung vergessen“, entgegnete Chris mit einem süffisanten Unterton, bevor er wieder ernst wurde. „Ein paar andere sind es schon noch, darunter Direktor Parker und die Personalabteilung natürlich.“
Chris wandte sich wieder seinem Essen zu.
„Die Scampi sind wirklich herrlich. Ich wusste gar nicht, dass du so ein guter Koch bist.“
Chris hatte bereits den halben Teller leer gegessen, während meiner noch fast voll war. Ein Zeichen, dass es ihm schmecken musste. Ich nutzte diesen günstigen Moment um Chris eine weitere Frage zu stellen, deren Antwort mich seit unserem Treffen an seinem Geburtstag interessierte.
„Eines habe ich nicht verstanden. Du hast doch Zugriff auf alle Ressourcen die zur Überwachung von E-Mails und Telefonen notwendig sind. Warum hast du nie die E-Mails oder SMS deiner Exfreundin mitgelesen? Oder ihr Handy geortet? Dann hättest du schnell gewusst, ob sie einen anderen hatte.“
Chris wandte den Blick von seinem Teller ab und sah mich an.
„Versteh das bitte jetzt nicht als Kritik an dir. Ich würde so etwas niemals tun. Außerdem, was hätte es geändert? Nichts. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könnte Dinge verhindern, nur weil man die Tatsachen kennt. Manches passiert einfach. Es ist nicht zu verhindern.“
„Aber du hättest sie darauf ansprechen können, anstatt dich immer wieder wochenlang mit dieser Ungewissheit zu quälen.“
Chris schüttelte den Kopf.
„Nein, es war besser so. Besser für sie. Besser für alle.“
„War es auch besser für dich?“, wollte ich wissen. Ohne meine Frage zu beantworten aß Chris weiter. Er signalisierte mir damit deutlich, dass er nicht gewillt war, diese Frage zu beantworten und dieses Thema damit beendet war.

   Wir hatten in den großen Ledersesseln vor meinem Kamin platz genommen, in dem leise knisternd ein wärmendes Feuer brannte. Wie von Chris gewünscht, hatte ich uns zuvor ein Glas Balvenie 17 Year Double Wood geholt. Vorsichtshalber hatte ich die Gläser nur knapp halb so voll gemacht, wie ich es üblicherweise tat. Bevor Chris ihn probierte, roch er lange und intensiv über dem Glas, um die vollen Aromen dieses Whiskys zu erfassen. Nach seinem ersten Schluck, wollte Chris von mir den wahren Grund meiner Einladung erfahren.
„Ich nehme an, diese Einladung hat einen Grund? Dir ist doch nicht nur langweilig, oder?“
„Nein, ist mir nicht“, erwiderte ich in dem Gefühl durchschaut worden zu sein. „Ich wollte mehr über die letzten Monate erfahren. Wie es dir ging, was du erlebt hast.“
Chris drehte sich in seinem Sessel leicht in meine Richtung, das Glas Whisky in seiner Hand haltend.
„Seitdem du kurz nach meinem Brief an Irina aufgehört hast in meinem Tagebuch zu lesen, ist einiges passiert.“
Chris lehnte sich zurück und trank einen Schluck Whisky.
„Wie ich dir bereits erzählt hatte, verlangsamte sich im Sommer das Wachstum des Dings unerwartet stark und es begann die Richtung zu ändern. Zur Sicherheit musste ich noch einige Zeit in der Klinik bleiben, bevor ich endlich nach Hause durfte. Ende September fühlte ich mich wieder so gut, wie zu Letzt im Februar oder März. Wobei das Wort gut relativ ist. Ich organisierte mein Leben so, dass ich mich nicht überanstrengte und trotzdem fast alles selbstständig erledigen konnte. Eine gute Freundin, die Frau, nach der du neulich gefragt hattest war mir dabei, wie schon in den Monaten zuvor, eine große Hilfe.“
Sein Stolz darauf, trotz seiner Krankheit und den sicher damit verbundenen Einschränkungen, sein Leben wieder im Griff zu haben, war unüberhörbar und in Anbetracht seiner Situation absolut berechtigt und verständlich. Chris griff nach seiner Zigarillo Schachtel, die er zuvor auf den kleinen Tisch zwischen den Sesseln abgelegt hatte und zündete sich ein Zigarillo an.
„Sie war es auch, die sich seit Mai die ganze Zeit um dich gekümmert hat? Richtig? Hat sie dich auch zu deinen Untersuchungen gefahren?“
Chris schaute mich an und nickte.
„Ohne sie wäre vieles nicht möglich gewesen. Ich verdanke ihr wirklich viel. Sehr viel sogar.“
„Du hattest gesagt, dass du diese Frau nie erwähnt hast, weil du nicht wolltest, dass deine Exfreundin…“
„Sie hat einen Namen und du kennst ihn! Nenn sie bitte nicht ständig meine Exfreundin. Sie heißt Irina!“, fiel Chris mir schroff ins Wort.
„Gut, dass Irina jemals von ihr erfährt. Deine Gründe dafür sind nachvollziehbar und verständlich. Was ich allerdings nie verstanden habe, worin unterscheidet sich diese Frau so grundlegend von Irina, dass du dich auf sie verlassen hast?“
„Die beiden trennen Welten“, antwortete Chris mit ruhiger Stimme. „Man kann sie nicht vergleichen. Außer dass beide Frauen sind, haben sie nichts gemeinsam.“
Chris war meiner Frage mit einer allgemein gehaltenen Antwort ausgewichen.
„Willst du mir nicht näher erklären, was du damit meinst?“
„Die beiden sind einfach zu verschieden, dass man sie miteinander vergleichen könnte. Jede hat ihre Fähigkeiten, ihre Talente. Beide sind tolle Menschen, aber eben sehr unterschiedlich. Verstehst du?“
Mein fragender Gesichtsausdruck musste Chris zu einer weiteren Erklärung bewogen haben.
„Sieh es so, die Firma schickt schließlich auch keine Cheerleader Truppe in Krisenregionen, sondern Leute, die dafür geeignet sind.“
Chris hatte einen drastischen Vergleich gewählt, der eines deutlich machte: Irina, auch wenn seine Gründe dafür mir nach wie vor nicht ganz verständlich geworden waren, war in seinen Augen ungeeignet ihn auf diesem Weg zu begleiten. Nahm man seinen Vergleich wörtlich und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Chris ihn so verstanden haben wollte, war Irina die Cheerleader Truppe und diese andere Frau die MFR, die Seals, die Deltas und wie sie alle heißen. Ein heftiger Unterschied. Aber es war auch zu bemerken, dass Chris nicht weiter auf die Unterschiede zwischen den beiden Frauen eingehen wollte. Statt eines weiteren, vermutlich untauglichen Versuchs mehr über seine Gründe in Erfahrung zu bringen, wollte ich lieber noch etwas über diese andere Frau in Erfahrung bringen. Wie sie heißt, wer sie ist, woher Chris sie kannte und ob sie tatsächlich nur ein Freund war. Ich versuchte mein Glück zuerst mit ihrem Namen.
„Hat diese andere Frau auch einen Namen, oder wollen wir sie weiter die Frau nennen?“
Chris blickte in das lodernde Feuer des Kamins.
„Sie heißt…“, er hielt inne und schien nachzudenken, als würde er mit der Nennung ihres Namens ein wohl gehütetes Staatsgeheimnis verraten, Sandra.“
Nach acht Monaten hatte ich endlich den Namen dieser geheimnisvollen Frau erfahren. Zufrieden mit meinem Erfolg, wollte ich hören, wie seine Geschichte weiterging.
„Anfang September warst du also wieder zuhause. Apropos, wo war Mable eigentlich die ganze Zeit? Bei dieser Frau?”
„Nein, bei meinen Nachbarn. Sie hatten früher selbst einen Hund und kennen sich deshalb mit Hunden aus. Zudem sind sie fast immer zuhause und hatten Zeit für sie. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass Mable herumgereicht wird. Mal hier, mal da ist und am Ende ein verstörter Hund aus ihr wird, weil sie nicht mehr weiß, wo sie hingehört. Bei ihnen hatte es Mable sehr gut.“
Ich unterbrach Chris Ausführung.
„Mir ist Mable einmal mit einem weißhaarigen Mann begegnet. Muss im Mai oder so gewesen sein. War das dein Nachbar?“
Ja“, bestätigte Chris.
„Und als du zurückkamst, hat sich Mable bestimmt riesig gefreut dich wiederzusehen, stimmt’s?“
„Du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr. Sie flippte total aus und war fast eine Stunde lang nicht zu beruhigen.“
Ich konnte mir einigermaßen gut vorstellen, was Chris meinte. Obwohl ich nichts von Hunden verstehe war mir bewusst, dass selbst für einen selbstständigen Hund wie Mable, der Chris, wie ich beobachtet hatte, viele Freiheiten ließ, das unerwartete Verschwinden ihres Menschen aus ihrem Leben sicher unverständlich gewesen war. Dementsprechend groß muss ihre Freude gewesen sein, als sie ihn wieder zurück hatte.
„Aber auch ich war glücklich, meinen kleinen Wirbelwind wieder zu haben“, fuhr Chris fort. „Auch, wenn ich sie mindestens einmal am Tag auf den Mond schießen könnte.“ Chris lächelte und sah Mable hinunter, die zwischen unseren Sesseln lag.
„Und deine Katze? Wer hat sich um die gekümmert?“
„Die blieb Zuhause in ihrer gewohnten Umgebung. Sie ist zu alt, um sie an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Um sie hatten sich auch meine Nachbarn gekümmert.“
Chris trank einen Schluck Whisky und erzählte weiter.
„Ich war circa eine Woche Zuhause, als es Sandra gelang mich zu überreden mit ihr zwei Wochen in die Normandie zu fahren. Um mich zu erholen und Abstand zu gewinnen. Sie hatte mir früher schon häufig davon vorgeschwärmt, wie schön dieser Teil Frankreichs im Herbst sei. Außerdem war sie davon überzeugt, ein paar Tage Urlaub würden mir bestimmt gut tun und der Landsitz ihrer Eltern in der Nähe von Saint-Lô sei genau der richtige Ort dafür.“
„Also ist sie Französin“, stellte ich fest.
„Nein, ist sie nicht, obwohl sie fließend französisch spricht. Ihre Eltern haben auch ein Haus in Gstaad. Eine Schweizerin ist sie deshalb auch nicht.“
Obwohl ich gerne mehr Details über Sandra erfahren hätte, verkniff ich mir eine weitere Frage und ließ Chris weitererzählen.
„Bevor wir los fuhren musste ich noch einmal zu Kontrolle ins Krankenhaus. Anschließend sind wir dann direkt nach Frankreich gefahren. Genauer gesagt ist Sandra gefahren. Den ersten Tag verbrachten wir in Lisieux und besichtigten die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Neben einer alten Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert, steht dort auch eine der größten Kirchen, die im zwanzigsten Jahrhundert gebaut wurden. Danach fuhren wir weiter Richtung Saint-Lô. Als wir in die Nähe der Landungsstrände des 6. Juni kamen, bat ich Sandra dort anzuhalten, weil ich diese gerne besichtigen wollte. Wann kommt man schon an einen historisch so wichtigen Ort? Da wir es nicht eilig hatten, war sie einverstanden. Wenn ich gewusst hätte, dass diese Idee zum ersten Streit führen würde, den wir in fünf Jahren hatten, hätte ich es gelassen. Aber der Reihe nach. Sandra blieb in Saint-Laurent-sur-Mer, während ich mir Omaha Beach anschaute. Als ich den Strand entlang ging, kam mir wieder diese Folge von Band of Brothers in den Sinn, die ich in meinem Tagebuch ein paar Wochen zuvor erwähnt hatte. Diesen Eintrag müsstest du noch gelesen haben?“
Chris machte eine Pause um meine Antwort abzuwarten.
„Selbstverständlich erinnere ich mich an diesen Eintrag. Er behandelte die Frage, warum wir für etwas kämpfen und ob es sich lohnt, auch für scheinbar aussichtsloses zu kämpfen. Zeilen, die mich sehr bewegt haben.“
Chris sah mich zufrieden an.
„Du hast mein Tagebuch aufmerksam gelesen,“ bemerkte er, ehe er mit seiner Erzählung fort fuhr. „Ich kann das, was an diesem Strand passiert ist, zwar nicht wirklich erklären, aber es war so, als hätte mich seine außergewöhnliche Aura eingefangen. Ich setzte mich in den Sand und dachte nochmal über alles, was bis zu diesem Tag geschehen war nach. Mir wurde klar, dass ich mit der Zeit die ich geschenkt bekommen hatte, wie lange sie auch immer sein mochte, das Beste machen musste und mich nicht unterkriegen lassen durfte. Den Kampf bis zum Ende niemals aufgeben durfte, auch wenn es vollkommen aussichtslos ist. Zufrieden wie lange nicht mehr, machte ich mich auf den Rückweg, als ich an einem kleinen Souvenirladen vorbeikam. Neben dem üblichen Kitsch, wie Tassen und anderem Kram, der dort zu kaufen war, konnte man sich auch eine eigene Erkennungsmarke als Erinnerung an den Besuch dieses historisch wichtigen Strands prägen lassen. Mir gefiel diese Idee und ich ließ mir eine solche Marke machen.“
Chris griff an seinen Hals. Er zog eine dünne Kette mit zwei Marken unter seinem Pullover hervor und gab sie mir. Wie bei Erkennungsmarken üblich hing eine Marke an der Hauptkette, die zweite an einer zusätzlichen kurzen Kette. Gespannt las ich die Prägung. Auf der Marke an der langen Kette stand, neben seinem Vor- und Nachnamen und seinem Geburtstag, noch Psalm 23.4, der unter dem Namen Hirten-Psalm besser bekannt ist. Die Marke an der kurzen Kette, die ebenfalls mit seinem Namen und Geburtstag versehen war, unterschied sich aber in der vierten und fünften Zeile von der ersten. Auf ihr stand Omnia vincit amor und darunter Semper Fidelis. Das zweite hatte ich lange nicht mehr gehört. Nachdenklich gab ich Chris die Kette zurück. Obwohl ich mir die Antwort beinahe denken konnte, fragte ich Chris, warum er ausgerechnet eine Prägung in dieser Anordnung gewählt hatte.
„Der 23. Psalm soll mich daran erinnern, dass ich nicht alleine bin und ich nichts fürchten muss“, erklärte Chris, als er die Kette wieder über seinen Kopf zog und sie unter seinen Pullover steckte.
„Die Prägung der zweiten ist eine Botschaft an eine bestimmte Person. Deshalb ist sie auf der Marke an der kurzen Kette.“
„Lass mich raten, an Irina?“
„Richtig und genau das wurde noch am gleichen Abend zum Problem.“
„Wie kann eine simple Erkennungsmarke mit zwei lateinischen Sprüchen zum Problem werden?“, fiel ich Chris ins Wort.
Chris schüttelte den Kopf.
„Warte doch ab. Du wirst es gleich erfahren. Abends im Hotel, wir hatten ein Doppelzimmer, weil nichts Anderes mehr frei war.“
Chris machte wieder eine Pause und sah mich streng an.
„Nicht was du jetzt denkst. Jedenfalls, als ich mich auszog sah Sandra diese Kette und wollte wissen, woher ich sie hatte. In kurzen Worten erzählte ich ihr woher und warum ich sie mir gekauft hatte. Bis dahin war alles gut. Als ich dann sagte, dass diese Kette eines Tages, wenn es soweit ist, Irina bekommen sollte, war Feuer unter dem Dach. Es war das erste Mal in fünf Jahren, dass ich Sandra richtig wütend erlebte. Mit einem lauten Knall warf sie die Badezimmer Türe hinter sich zu und schloss sich die halbe Nacht ein.“
„Ich verstehe zwar auch nicht viel von Frauen, wie du weißt“, stoppte ich Chris lachend, „aber das war das Dümmste, was du überhaupt sagen konntest.“
„Ich stimme dir vollkommen zu.“, bestätigte Chris. „Es war mit Abstand das Dümmste, was ich sagen konnte. Aber nicht, weil Sandra in mich verliebt ist, wie man jetzt annehmen könnte. Dieses Thema hatten wir schon ganz zu Anfang unserer Freundschaft geklärt, wie ich dir bereits neulich gesagt hatte. Sondern weil Sandra, die die ganze Geschichte mit Irina mitbekommen hatte, mich überhaupt nicht verstand. Wie auch immer. Am nächsten Tag hatte sie sich wieder beruhigt. Wir fuhren weiter zum Landsitz ihrer Eltern und verbrachten dort zwei herrliche Wochen. Es waren entspannte Tage und ich kam zum ersten Mal seit Monaten wieder innerlich zur Ruhe. Jeden Tag, wenn ich morgens die Kette anlege, erinnere ich mich an diesen Strand und was er mir beigebracht hat.“
Diese Kette war für Chris von elementarer Bedeutung. Das hatte ich verstanden. Ich war mir nur nicht sicher, was im Vordergrund stand. Die Nachricht an Irina oder der unbedingte Wille niemals aufzugeben?
„Hat Sandra eigentlich gelesen, was auf den Marken steht?“
„Nein, hat sie nicht, da bin ich sicher.“
Chris machte einen sehr überzeugten Eindruck.
„Und was macht dich so sicher?“
„Es gab nur diese eine Nacht gemeinsam in einem Zimmer, danach nie wieder. Seitdem achte ich darauf, dass Sandra sie nicht zu Gesicht bekommt.“
Er nahm sein Glas, trank den letzten Schluck Balvenie und stellte das leere Glas zurück auf den kleinen Tisch zwischen den beiden Sesseln.
„Möchtest du noch einen?“
Chris sah auf seine Uhr, als würde diese ihm sagen, was er zu tun hatte. Nach kurzem Zögern sagte er:
„Ja gerne. Wenn ich darf, würde ich gerne den Edradour probieren. Den 10 Jahre alten habe ich selbst, aber „The Fairy Flag“ kenne ich nicht.“
Eine weitere exzellente Entscheidung für einen gemütlichen Abend vor dem Kamin.
„Bleib sitzen, ich hole ihn uns.“
Von Mable aufmerksam beobachtet, stand ich auf, ging zur Bar, nahm die Flasche Edradour, zwei frische Gläser und kehrte zu Chris zurück.
„Hast du gewusst, dass Edradour die kleinste aller Destillerien Schottlands ist? Wäre die Brennblase nur ein winziges bisschen kleiner, würde sie nach schottischen Recht als mobil angesehen und wäre damit illegal.“
„Das wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass es eine sehr kleine Destillerie ist“, antwortete Chris.
„Das faszinierendste an Edradour ist aber die Tatsache, dass dort mehr Touristenführer arbeiten, als Leute in der Brennerei. Wie du dir sicher vorstellen kannst, habe ich darüber nicht schlecht gestaunt, als ich die Brennerei während meiner Schottlandreise besucht habe.“ fügte ich, ein wenig mit meinem Wissen prahlend, hinzu.
„Nach Schottland würde ich auch gerne einmal fahren, um mir die Destillerien anzuschauen. Vor allem die Gegend um Dalwhinnie soll sehr schön. Und die Inseln natürlich.“
Seine Stimme klang dabei melancholisch mit einem sehnsüchtigen Unterton und ich wusste nicht, was ich darauf hätte erwidern können. Nachdem ich uns eingeschenkt hatte, versuchte ich ihm etwas mehr über diese Sandra zu entlocken.
„Woher kennst du eigentlich Sandra? Ich meine, ein Landsitz in der Normandie, ein Haus in Gstaad. So eine Frau trifft man nicht zufällig beim Bäcker um die Ecke.“
„Du hast die Häuser in Richmond, New York, London, Paris, in den Hamptons, sowie ein paar andere und die Wohnungen in Madrid und Rom vergessen“, unterbrach mich Chris feixend.
Jetzt war ich wirklich sprachlos und verspürte den Drang mein Glas Whisky mit einem großen Schluck zu leeren. Chris war deutlich anzusehen, wie er diesen Augenblick genoss.
„Wegen mir auch noch eines auf dem Mond! Trotzdem, so eine Frau trifft man nicht einfach zufällig irgendwo. Die lernt man höchstens auf Galas oder Bällen kennen.“
„Wenn du meinst“, erwiderte Chris grinsend, bevor er seinen ersten Schluck Edradour zu sich nahm. „Der ist wirklich so gut, wie sie schreiben. Im Ernst, ich habe sie tatsächlich in einem Kaufhaus kennengelernt. Oder genauer gesagt, in der Parfümerieabteilung eines Kaufhauses, nachdem ich sie dort umgerannt hatte.“
„Du nimmst mich auf den Arm“, entgegnete ich.
„Keineswegs. Es war genauso wie ich sage. Ich hatte für meine damalige Freundin gerade ein Geburtstagsgeschenk gekauft und hatte es sehr eilig rechtzeitig damit nach Hause zu kommen. Ich bog hektisch um eine Ecke und rannte eine Frau um. Nachdem ich ihr aufgeholfen und mich entschuldigt hatte, vergewisserte ich mich kurz, dass es ihr gut ging. Ich gab ich ihr meine Karte für den Fall, dass einer ihrer Einkäufe zu Bruch gegangen war und setzte hastig meinen Weg fort.“
„Und dann rief sie dich an, ihr verbrachtet eine heiße Nacht zusammen und seitdem ist sie deine, was auch immer.“, setzte ich seine Geschichte fort.
„Nicht ganz, aber fast.“, erwiderte Chris gelassen. „Bis auf die gemeinsame Nacht stimmt es. Sie rief tatsächlich zwei Tage später an und wir verabredeten uns auf einen Kaffee. Danach telefonierten wir öfter. Zuerst unregelmäßig, dann häufiger und schließlich fast täglich. Am Anfang fühlte ich mich auch zu ihr hingezogen. Du hast sie doch gesehen. Ich meine, welcher Mann würde das nicht? Doch das legte sich sehr schnell wieder. Aber es ging nicht nur mir so. Auch Sandra fühlte sich zu mir hingezogen, wie sie mir ein paar Wochen später gestand. Wobei mir bis heute nicht klar ist, was Sandra an mir gefunden hatte. Eine Frau wie sie kann doch jeden haben. Wie dem auch sei. Ich machte Sandra klar, dass ich eine Freundin hatte, die ich sehr gerne mochte. Die ich nie betrügen würde und ich absolut kein Mann für eine Affäre bin. Ich finde Affären schäbig und unaufrichtig. Sie haben stets etwas Verlogenes an sich. Sandra respektierte das und wir wurden Freunde. Als ich mich später von meiner Freundin trennte, war sie bereits so etwas, wie eine Schwester für mich und das Thema Beziehung damit erledigt. Miteinander geschlafen haben wir übrigens bis heute nie.“
Ich drehte mich ein wenig nach rechts und sah Chris skeptisch an.
„Wusste sie die ganze Zeit von deinem, wie nennst du es doch gleich, Ding?“
„Ja, die ganze Zeit. Von Anfang an. Sie war die erste der ich es damals, als es im Frühjahr 2010 zum ersten Mal diagnostiziert wurde, gesagt hatte. Sie war auch während der ersten Behandlung im Herbst 2010 bei mir. Als es letzten Oktober wieder da war, habe ich es ihr wieder als erste und längere Zeit als einzige erzählt.“
Diese Sandra schien eine noch weitaus wichtigere Rolle im Leben von Chris zu spielen, als ich bislang angenommen hatte. Ich war neugierig, was Chris ihr über mich erzählt hatte.
„Hast du eigentlich mit ihr über mich und mein Buch, dass ich über dich schreiben wollte gesprochen?“
Chris sah mich ungläubig an und erwiderte entrüstet:
„Über dein Buch? Damit sie von meinem Tagebuch und allem was ich für Irina geschrieben habe erfährt? Wo denkst du hin? Nein, ich habe ihr nur erzählt, dass wir uns zufällig im Park kennengelernt hatten und dass du Spionagethriller schreibst.“
Wenngleich eine tiefe Freundschaft Chris mit dieser Sandra zu verbinden schien, hatte er Geheimnisse vor ihr, die nicht so recht in das Bild passen wollten, welches ich mir begonnen hatte von dieser Freundschaft zu machen. Er erzählte ihr von seiner Krankheit, aber sie wusste nichts von seinen Gedichten und Kurzgeschichten für Irina.
„Apropos, was ist eigentlich aus dem Buch geworden? Ist es fertig?“
„Nicht ganz. Es liegt fast fertig in meinem Schreibtisch. Nach unserem Gespräch an deinem Geburtstag habe ich erkannt, dass ich es nicht fertigzustellen und veröffentlichen durfte. Jedenfalls nicht so, wie ich es geschrieben hatte. Es hätte alles zunichte gemacht, was du fein säuberlich geplant hattest. Ich wollte nicht, dass Irina durch mein Buch erfährt, was wirklich im Hintergrund alles geschehen war. Zugegeben, die Chance, dass sie zufällig darauf stoßen und es lesen würde ist extrem gering. Dennoch wollte ich es nicht riskieren.“
Chris nickte anerkennend ganz leicht mit dem Kopf.
„Danke, aber das hättest du weder tun müssen, noch hatte ich das gesagt.”
„Naja“, erwiderte ich, „ehrlich gesagt wusste ich bis zu diesem Tag ohnehin nicht, welches Ende ich schreiben wollte. Das Buch handelt von deinem Leben und dir. Und das ist schließlich noch nicht vorbei.“
Chris fing an zu lachen.
„Stimmt, sonst wäre ich wohl kaum hier. So gesehen ist es für eine Biographie noch zu früh. Die schreibt man doch eher über Tote.“
Obwohl diese Bemerkung reichlich makaber war, musste ich auch lachen. Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, stellte ich Chris eine Frage, deren Antwort mich ebenfalls brennend interessierte.
„Was hat Sandra zu deiner, ich drücke es einmal vorsichtig aus, ungewöhnlichen Beziehung mit Irina gesagt? Du hast doch bestimmt mit ihr darüber gesprochen.“
Chris trank einen Schluck und schien dabei kurz nachzudenken.
„Natürlich habe ich das. Genaugenomen sogar sehr viel.“
Chris stellte sein Glas auf dem kleinen Tisch ab und lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück.
„Was sie dazu gesagt hat? Eine gute Frage. Wenn ich es mir recht überlege eigentlich wenig. Sie hat mir meistens nur zugehört. Aber gesagt hat sie kaum etwas. Bis auf ein paar Mal. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass sie je schlecht über Irina gesprochen hätte. Außer als ich ihr von Irinas Tattoos erzählt hatte, woraufhin sie leicht abfällig bemerkte, dass Irina ein Malbuch sei. Tattoos bei Frauen kommen in Sandras Welt eben nicht vor.“
„Das ist ungewöhnlich.“, unterbrach ich Chris in dem Wissen, dass die Ansicht einer Frau über eine andere im nächsten Umfeld eines Mannes zu weilen höchst interessant sein konnte. Ich erinnerte mich an den Streit zwischen Geraldine und Maria in meiner Küche, dem sich später ein Monolog von Maria in meinem Schlafzimmer anschloss, in dessen Verlauf sie ausgiebig über Geraldine hergezogen war.
„Sandra ist ungewöhnlich“, bestätigte Chris. „In jeder Hinsicht. Deshalb bin ich sicher, dass ihr Ausbruch in Saint-Laurent-sur-Mer sich nicht gegen Irina gerichtet hatte, sondern mehr gegen mich und meine Art mit manchen Dingen umzugehen. Sie war nicht immer einverstanden mit dem, was ich getan habe oder wie ich die Dinge sah.“
„Zum Beispiel?“
Chris zuckte leicht mit seiner linken Schulter.
„Der Brief zum Beispiel.“
Ich fiel Chris ins Wort.
„Sandra weiß von dem Brief?“
„Ja natürlich weiß sie davon. Wir hatten ausführlich über den Inhalt gesprochen und Sandra hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht damit einverstanden war.“
„Dann war sie es, die dich dazu bewogen hat, dich für freundlichere Version zu entscheiden?“
„Nein, das war alleine meine Entscheidung. Sandra hatte mich nur gebeten, das Lied von Vera Lynn wegzulassen. Sie sagte mir, es sei zynisch und gewissenlos, weil dieses Lied Hoffnung machen würde, die nach dem damaligen Stand der Dinge nicht bestand. Der Abend vom 14. April ist ein anderes Beispiel. Du weißt von welchem Tag ich spreche?“
Chris wartete meine Antwort nicht ab, sondern redete weiter.
„Ich wollte an diesem Abend nicht alleine sein. Mir ging es schlecht, weil ich Irina so ablaufen lassen hatte. Deshalb bat ich Sandra zu mir zu kommen. Sie machte einen ziemlich verärgerten Eindruck darüber, was ich an diesem Tag getan hatte und das hat sie mir auch unmissverständlich klargemacht.“
Ich nahm eine Zigarette aus der Box, die auf dem kleinen Tisch stand und zündete sie an.
„Dann wusste Sandra immer über alles Bescheid?“
Chris rieb sich mit seiner linken Hand über seine Augen und atmete tief.
„Sandra weiß vieles, aber nicht alles. Speziell sehr persönliche Details über den Partner gehen Außenstehende in der Regel nichts an. Es sei denn, es gibt einen überragend wichtigen Grund dafür, der es unvermeidbar macht. Du verstehst, was ich meine?“
Mit einem kurzen nicken bestätigte ich Chris Frage.
„Kennt Sandra eigentlich die ganze Geschichte von Irina und dir? Ich meine von Anfang an?“, wollte ich von Chris wissen.
„Du meinst die Vorgeschichte von damals? Ja, die kennt sie. Deshalb hatte ich im Frühjahr 2011, als ich unsicher war, ob ich mit Irina eine Beziehung anfangen sollte, viel mit ihr darüber gesprochen und ihr alles erzählt, was mich beschäftigte. Sie hatte mir damals geraten, dass wenn Irina tatsächlich meine große Liebe ist, ich meinem Herz und nicht meinem Kopf folgen solle. Die Vergangenheit ruhen lassen und in die Zukunft schauen soll. Ich denke ohne sie und ihren Rat hätte ich die Beziehung mit Irina nicht angefangen.“
„Aber die Beziehung ging deinem Tagebuch und euren E-Mails zufolge doch von Irina aus“, wandte ich ein.
„Das ist schon richtig“, erwiderte Chris und seine Stimme klang dabei eigentümlich schwer. „Aber man kann alles abbiegen, wenn man will. Irgendwie geht das immer. Sandra, die die Tiefe meiner Gefühle kennt, hatte das jedoch verhindert. Ohne sie hätte ich Irinas Annäherung mit Sicherheit abgewehrt. Aus vielen Gründen, die zum größten Teil nichts mit Irina und unserer gemeinsamen Vorgeschichte zu tun hatten.“
Ich ließ mich in die Lehne meines Sessels zurückfallen. Diese Sandra ist eine mehr als außergewöhnliche Frau sein und ich wollte noch mehr über sie erfahren.
„Kennt einer deiner Freunde Sandra?“
„Nein, keiner. Ich habe sie auch niemals jemanden gegenüber erwähnt. Auch nicht Irina gegenüber.“
„Und warum, wenn ich fragen darf?“
„Weil es besser so ist. Vor allem weil ein Versprechen ein Versprechen ist!“
Nach dieser mehr als unbefriedigenden Antwort, trank Chris den letzten Schluck seines Edradour, stellte das Glas ab und blickte erneut auf seine Uhr. Es war kurz nach 22:45 Uhr.
„Mehr von dem, was bis heute passiert ist, erzähle ich dir ein andermal. Ich sollte mich auf den Heimweg machen.“
Er nahm Mable, die die ganze Zeit zwischen unseren Sesseln geschlafen hatte, bedankte sich für das Essen, sowie den Whisky und verabschiedete sich.

   Während ich die Küche aufräumte, dachte ich über das nach, was Chris mir erzählt hatte. Das Ganze war so unglaublich, dass es schon wieder wahr sein musste. Trotzdem blieben einige Fragen offen. Fest stand für mich nur, dass Sandra, oder besser ihre Familie, sehr wohlhabend sein musste. Also nicht unbedingt die Kreise, in denen Chris nach meinem Wissen üblicherweise verkehrte. Die Chance, als Normalsterblicher Mann einer Frau aus diesen Kreisen zu begegnen ist im Allgemeinen eher gering. Sie in einem Kaufhaus umzurennen fast unwahrscheinlich. Einen Grund, warum mir Chris eine Lügengeschichte auftischen sollte, konnte ich aber nicht erkennen. Unerklärlich blieb mir auch, warum er aus Sandra ein solch großes Geheimnis machte. Seine Befürchtung, Irina könnte eines Tages zufällig sein Tagebuch lesen und sein Verhältnis zu Sandra falsch verstehen war einigermaßen nachvollziehbar. Irina würde dieses Verhältnis mit Sicherheit, wie jede andere Frau auch, falsch verstehen. Selbst für mich war es, trotz seiner Aussage, die beiden wären einfach zu unterschiedlich, kaum verständlich, dass Chris zwar Irina liebte, seine Sorgen und Ängste jedoch mit Sandra teilte, diese wesentlich weiter in sein Leben einbezog. Nur war das nicht der einzige Grund, wie ich heute erfahren hatte. Chris hatte ein Versprechen erwähnt. Aber leider weder wem gegenüber, noch wann er es abgegeben hatte. Ich war mir sicher, dass dieses Versprechen für ihn zumindest gleichbedeutend wichtig sein musste und dass es, aller Wahrscheinlichkeit nach lange bevor Irina wieder in sein Leben getreten war, gewesen sein musste. Dafür sprach nicht nur, dass nach seinen Angaben keiner seiner Freunde von Sandra wusste, sondern ganz besonders der zeitliche Ablauf. Das war nicht alles, das mir auf den ersten Blick ungewöhnlich vorkam. Objektiv betrachtet war es schwer zu verstehen, warum Chris mit dieser, mehr als attraktiven Frau, die ihm offensichtlich sehr nahe stand, in der Zwischenzeit nicht zumindest eine Art Beziehung angefangen hatte. Oder es wenigstens versucht hat. Die meisten Männer, die ich kenne, würden es wenigstens versuchen. Allerdings musste ich einschränken, dass diese Überlegung möglicherweise auf meinen eigenen Erfahrungen  beruhten oder zumindest auf dem landläufigen Vorurteil, dass jeder Mann mit einer hübschen Frau irgendwann schlafen will. Zudem ließ diese Überlegung völlig außer Acht, dass Chris dazu seit Monaten nicht mehr in der Lage war. Darüber hinaus gab es wahrlich noch mehr als genug andere Anhaltspunkte, die dagegen sprachen. Da waren zum Beispiel die Kette und das Armband. Würden beide aus seiner gemeinsamen Zeit mit Irina stammen, wäre es unter bestimmten Bedingungen noch nachvollziehbar, solche Erinnerungsstücke aus Sentimentalität weiterhin zu tragen. Ich hatte so etwas schon häufiger bei geschiedenen Paaren beobachtet. Meist ein unterbewusstes Zeichen dafür, dass sie mit ihrer Beziehung längst noch nicht abgeschlossen hatten. Aber sowohl das Armband, als auch die Kette stammten aus der Zeit deutlich nach der Trennung. Und dann diese Inschrift auf dem Anhänger der für Irina bestimmt war, Liebe besiegt alles und ewig treu. Niemand, der nur annähernd abgeschlossen hatte, oder wenigstens im Begriff war damit zu beginnen, würde so etwas tun. Auch seine Reaktion, als ich einige Male statt ihren Namen zu benutzen, ausschließlich von seiner Exfreundin gesprochen hatte, wies eindeutig in diese Richtung. Nein, Chris hatte nicht nach 27 Jahren innerhalb weniger Wochen oder Monate soweit mit Irina abgeschlossen, dass sie nur noch ein Eintrag in seinem Tagebuch aus längst vergangenen Zeiten war. Sie war präsenter als es den Anschein hatte. Chris redete nur nicht mehr darüber. Nicht über etwas zu sprechen bedeutet nicht, sich nicht mehr damit zu beschäftigen. Wenn ich im vergangenen Jahr eines gelernt hatte, dann war es die Macht von Gefühlen besser nicht zu unterschätzen. Am Ende legte das alles den Schluss nahe, dass Sandra für Chris ausschließlich eine sehr gute Freundin ist und nicht mehr.

   Am nächsten Morgen startete ich einen neuen Versuch endlich mit meinem Buch für Geraldine zu beginnen. Wie die Tage zuvor saß ich zunächst wieder an meinem Schreibtisch, ohne eine vernünftige Idee zu haben, was ich schreiben wollte, oder wie man im Allgemeinen über Liebe schreibt. Ich hatte in meinem Leben noch nicht einmal einen Liebesbrief geschrieben und nun wollte ich ein Buch für meine große Liebe schreiben. Zum wiederholten Mal spielte ich in meinem Kopf klassische Liebesgeschichten, beziehungsweise deren Adaption auf Geraldine und mich durch. Doch wie an den Tagen zuvor kam am Ende dabei entweder reiner Kitsch oder ein miserables Plagiat einer der großen Liebesromane der Literaturgeschichte heraus, der zudem seines Sinns beraubt worden war. Mir wurde klar, dass ich einen anderen Ansatz benötigte. Vielleicht war es am einfachsten, wenn ich die Geschichte von Geraldine und mir so erzähle, wie sie sich zugetragen hatte, alles Problem-behaftete jedoch wegließ. Mit diesem Plan im Hinterkopf fing ich an Konzepte zu erstellen. Doch nach spätestens zwei Seiten entsprach alles nicht mehr dem, was ich sagen wollte. Entweder nahm die Geschichte jedes Mal eine sonderbare Eigendynamik an, die mit meiner ursprünglichen Idee nicht viel gemeinsam hatte oder sie blieb  der ursprünglichen Idee verhaftet, driftete dann aber in eine eindimensionale und flache Handlung ab. Ich versuchte die Ursache für dieses Problem zu finden. Erzählte ich unsere Geschichte, die nach meinem Dafürhalten ohnehin nur schwer erzählbar und noch weniger begreifbar war, ohne die ganzen Wendungen und Probleme die zu Missverständnisse führten, wurde sie vollkommen unlogisch. Sie verlor nicht nur ihren Zusammenhang, sondern auch ihren Sinn. Alles was sie ausmachte. Zudem musste ich auf die eine oder andere Art auch Geraldines mögliche Gedanken und Gefühle berücksichtigen. Diese waren mir aber oft fremd und unergründlich geblieben. Wie also schreibt man die Geschichte einer großen Lieben, wenn man nur seine eigene Perspektive hatte und sich selbst mit dieser oft schwer tut? Ich stand auf und ging in meinem Arbeitszimmer auf und ab. Alle großen Liebesromane von den Klassikern wie „Romeo und Julia“, über „Anna Karenina“, von „Stolz und Vorurteil“ über „Die Kameliendame“ bis hin zu den Werken der Moderne wie „Ufer der Hoffnung oder „Wie ein einziger Tag“, behandeln die Konflikte ihrer Protagonisten mit sich selbst, mit ihrem Partner oder ihrem gesamten Umfeld. Selbst Geraldines Lieblingsbuch handelte von den inneren und äußeren Konflikten seines Titelhelden. Auch mich beschäftigen viel mehr Fragen, als ich lange Zeit zugeben wollte. Mir ging es um den Mensch Geraldine im Gesamten. Es war nicht nur die körperliche Anziehungskraft. Diese war zweifellos vorhanden und mir wichtig. Nein es war weitaus mehr. Ich liebe alles an ihr, auch ihre dunklen, verborgenen Seiten. Ich wollte wissen, was sie beschäftigt, was sie nicht aussprach. Ihr ein verlässlicher Partner in allen Situationen ihres Lebens sein, gegen die sie sich nicht wehren konnte oder wollte. Einfach nur für sie da sein. Ich stand lange am Fenster meines Arbeitszimmers und betrachtete, wie der Wind das letzte Laub aus den Kronen der Bäume wehte. In diesem Jahr hatte der Herbst, der sonst meine Lieblingsjahreszeit war, etwas Trauriges. Es war der erste Herbst seit vielen Jahren ohne Geraldine. Ein unvorstellbarer Gedanke, dass eine komplette Jahreszeit ins Land gehen konnte, ohne mit Geraldine auch nur ein einziges Wort gewechselt zu haben. Wenn ich wollte, dass dies nicht der erste Herbst von vielen, sondern der einzige ohne sie bleiben würde, musste ich eine Entscheidung treffen. Ich war bereit, mein Verhalten und damit verbunden manches an meinem Leben für Geraldine zu verändern. Das aber war nicht gleichbedeutend mit der Tatsache, dass ich alle Gedanken, die ich mir um Geraldine machte zu den Akten legte konnte. Mir dämmerte langsam, dass wenn ich diese Probleme außen vor ließ, quasi nur eine reine schön Wetter Liebesgeschichte schreiben würde, uns diese Probleme sehr schnell wieder einholen würden. Dass ich diese Probleme nicht für Geraldine lösen konnte, war mir klar. Das musste sie, sofern sie es überhaupt wollte, selbst tun. So, wie ich meine   in den letzten Wochen auch zuerst selbst  lösen musste. Aber ich konnte ihr Denkanstöße geben, wie sie mir welche gegeben hatte. Ihr zeigen, was ich sah. Sie wissen lassen, dass ich ausführlich über sie nachgedacht hatte. In der Hoffnung, dass wo mehr Licht ist, der Schatten weniger werden muss. Chris hatte also Recht gehabt. Es ging um das große Ganze, und nicht nur um weitere, besser durchdachte und nett formulierte Liebeserklärung, die weder mich, noch Geraldine, am Ende weiterbringen würde. Die Zeit war reif Geraldine ausnahmslos alles mitzuteilen und nicht länger wechselweise einen Mantel des Schweigens über alles was geschehen war zu legen oder ihr unüberlegt Vorwürfe und Meinungen um die Ohren zu hauen. Ich hatte einen Monat gebraucht um dies zu erkennen und noch länger, um eine Definition von gemeinsam zu finden. Mein geplantes Buch auf diese Art zu schreiben war der einzige Weg. Im Unterschied zu diesem Abend im August musste ich viel überlegter vorgehen. Die richtige Balance zwischen allem finden und Geraldine am Ende Wege aufzeigen. Nur hatte ich keine Idee, wie ich das anfangen sollte. Wie kann man jemand auf gewisse Dinge aufmerksam machen, ohne direkt Bezug darauf zu nehmen? Ich müsste alles erzählen, die ganzen 20 Jahre. Nur so würde es einen Sinn ergeben. Das führte mich zu der Frage, konnte ich das überhaupt schaffen? Ich müsste über tausend Seiten schreiben, um überhaupt annähernd alles erklären zu können. Das war aber nicht nur eine Frage des Wollens, sondern hauptsächlich eine Frage des Könnens. Reichte mein schriftstellerisches Talent für ein derartiges Buch wirklich aus? Eine Frage, die mich stark verunsicherte. Überdies hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, mir lief die Zeit davon.

   Frustriert von der Ergebnislosigkeit meiner Bemühungen beschloss ich, mich um mein diesjähriges Geburtstagsgeschenk zu kümmern. Chris Kritik an den Felgen meines Mustangs war nicht unberechtigt gewesen. Auf einen 68er Mustang Fastback, speziell in Highland Green, gehörten einfach diese Felgen. Schon letztes Jahr an meinem Geburtstag hatte ich mit dem Gedanken gespielt, sie mir endlich zu kaufen, hatte mich dann aber doch für einen neuen riesigen Fernseher entschieden und die Felgen in dem folgenden aufregenden Jahr schließlich wieder vergessen. In diesem Jahr hatte ich bislang noch keine Idee gehabt, was ich mir zum Geburtstag schenken wollte. Dank Chris hatte ich sie nun. Fast drei Tage brachte ich, immer wieder unterbrochen von ergebnislosen Überlegungen, wie ich mein Buch aufbauen wollte, mit recherchieren im Internet und noch mehr Telefonaten zu, bis ich schließlich einen Händler ausfindig gemacht hatte, der diese Felgen, nebst passenden Reifen lagernd hatte. Dort waren sie zwar etwas teurer, als bei den anderen, aber da ich ungern auf mein Geschenk warten wollte, bestellte ich schließlich die Felgen samt Reifen. Laut Kaufbestätigung, die ich kurze Zeit später via E-Mail erhielt, sollte der Liefertermin einen Tag vor meinem Geburtstag sein.