Eine Reise (Teil 3)

Ich setze heute meine Reise mit deutlicher Verspätung fort. Aus dem kleinen Abendessen bei dem Fischer und seiner Frau wurde ein langer Abend mit einem interessanten Gespräch. Die Küstenstraße führt mich weiter Richtung Westen. Die felsige Küste weicht mit jeden Kilometer wieder flachen, sandigen Stränden mit weichen grünen Hängen. Am frühen Nachmittag erreiche ich eine kleine Hafenstadt. Ich stelle mein Auto unweit des Hafens ab und erkunde die Stadt zu Fuß. Die Häuser des Stadtkerns stammen allesamt aus dem vorigen Jahrhundert und strahlen den Charme längst vergangener imperialer Zeit aus. Ich gehe die schmalen Gassen, mit ihren kleinen, liebevoll eingerichteten Geschäften und den, mit vielen Blumen geschmückten, Häusern entlang, bis ich einen kleinen Park erreiche. Die Bäume des Parks sind in sich immer weiter verjüngenden Kreisen, unterbrochen von Rosen und Büschen, angelegt. Vereinzelt gibt es ein paar Bänke und einen kleinen Platz, direkt neben einem Blumenbeet, mit ein paar Tischen und Stühlen. Ich nehme auf einer der Bänke platz und beobachte die Menschen, die an den Tischen sitzen.

Zumeist sind es ältere Männer, die sich entweder unterhalten, oder sich die Zeit mit Brettspielen vertreiben. Etwas abseits sitzt ein einzelner alter Herr vor einen Backgammon–Spiel. Abwechselnd liest er in einer Tageszeitung oder schreibt in einem Block. Offensichtlich scheint er auf seinen Spielpartner zu warten. Nach einer Weile stehe ich auf und verlasse den Park. Ich habe Hunger bekommen und mache mich auf die Suche nach einem Restaurant. Nach einem kurzen Mittagessen gehe ich wieder zurück in den Park. Ich will mich noch einmal von seinem Charme einfangen lassen, bevor ich meine Reise fortsetze. Mir fällt auf, dass der alte Herr immer noch an seinem Tisch sitzt und auf seinen Spielpartner wartet. Ich beobachte ihn eine Zeit lang, bevor ich mich entschließe, ihn anzusprechen.
“Darf ich Sie fragen, ob Sie auf ihren Spielpartner warten?”
Den Steinen nach zu schließen, war das Spiel unterbrochen worden und sollte fortgesetzt werden.
“Sind Sie neu in unserer Stadt, oder nur auf der Durchreise?”
“Auf der Durchreise”, erwiderte ich. “Wir haben hier nicht viele Touristen. Wir liegen zu sehr abseits der großen Straße und haben außer diesem Park und unserem kleinen Museum keine Attraktionen. Das ist eigentlich schade, denn diese Stadt hat einen einmaligen Charme.”
Zustimmend nickte ich.
“Sie wollen wissen,  ob ich auf meinen Spielpartner warte? Wie man es nimmt. Ich warte auf meine Frau.”
“Wann wollte sie hier sein?”, erkundige ich mich.
“Sie wird nicht kommen. Sie ist seit 2 Jahren tot. Seitdem komme ich jeden Tag in den Park, baue das Backgammon auf,setze die Steine so, wie wir unser letztes Spiel unterbrochen haben und warte auf sie. Viele hier nennen mich schrullig oder halten mich für verrückt. Aber sie verstehen nicht. Ich habe meine Frau sehr geliebt.”
Der alte Mann macht eine kurze Pause und blickt mich an.
“Vor zwei Jahren, an einem Sonntagmittag im Mai, es war der 27., saßen wir hier im Park und spielten Backgammon, als es plötzlich anfing zu regnen. Ich merkte mir die Position der Steine, packte alles zusammen und wir gingen nach Hause. In dieser Nacht erlitt meine Frau an einen Schlaganfall. Ich pflegte sie mehrere Monate und stieß dabei oft an meine Grenzen. Einige sogenannte Freunde rieten mir, ich solle sie in ein Pflegeheim bringen. Aber das widersprach meinem Verständnis von Liebe. In guten, wie in schlechten Zeiten hatte ich ihr am 1. Juli 1950 in unserer Kirche geschworen. So etwas sage ich nicht leichtfertig. Welchen Sinn haben Versprechen, wenn man sie jederzeit brechen kann? So egoistisch zu denken, macht mich wütend. In der Nacht zum 29. September verstarb meine Frau.”
Der alte Herr greift in die Innenseite seines Jackets, holt ein Taschentuch hervor und die Tränen aus seinen Augen.
“Wissen Sie,”, fährt er fort, “sie war eine ganz besondere Frau. Sie war Malerin und viele ihrer Bilder hängen heute in unserem Stadtmuseum. Darauf bin ich sehr stolz. Als wir uns kennen gelernt haben, war sie eine junge unbekannte Malerin und ich Buchhalter bei der Hafenverwaltung. Ich liebte Ordnung. Alles in meinem Leben hatte seinen festen Platz, seine feste Zeit. Sie war das genaue Gegenteil,. Flexibel, unternehmungslustig und umtriebig. Sie brachte mein ganzes geordnetes Leben durcheinander. Zuerst, dass können sie sich sicher vorstellen, war ich wenig begeistert und wir hatten deswegen häufig Streit. Ich wollte mein wohl geordnetes Leben nicht aufgeben.
“Aber Sie taten es?”
“Nein, nicht sofort. Es dauerte seine Zeit, bis ich begriff, dass man auch montags waschen kann und mittwochs einkaufen gehen konnte.”
“Und wie war es bis dahin?”, will ich wissen.
“Nun, ich hatte meine festen Pläne. Freitags ging ich einkaufen, samstags putzte ich meine Wohnung und erledigte die Hausarbeit. Es ist oft vorgekommen, dass meine Frau, sie war damals natürlich noch nicht meine Frau, mit mir am Samstag etwas unternehmen wollte, ich aber  meine Hausarbeit machen wollte und von meinem Plan nicht abweichen konnte. Es ist unnötig darauf hinzuweisen, dass dies für Probleme sorgte.
“Das kann ich mir lebhaft vorstellen”, erwidere ich lachend.
“Ja, lachen Sie nur! Aber beinahe wäre die Beziehung daran gescheitert und sie nie meine Frau geworden. Eines Samstags, es war Anfang Mai, wollte ich den Rasen mähen, der es eigentlich gar nicht notwendig hatte. Als ich zum Schuppen ging, um den Rasenmäher zu holen, fragte ich mich, ob ich den Rest meines Leben freitags einkaufen gehen und samstags Hausarbeit machen will, oder diesen starren Rahmen verlassend, lieber mit meiner Freundin Zeit verbringe? Wenn man die Frage so stellt, ist die Antwort einfach.”
Ich amüsiere mich sichtlich über diese Geschichte und gebe mir keine besondere Mühe das zu verbergen.
“Natürlich fiel ich hin und wieder in meinem gewohnten Ablaufe zurück und musste mein inneres Ich aktiv bekämpfen. Aber ich wollte an ihrem Leben teilhaben, ihre Freunde kennenlernen und Dinge mit ihr unternehmen, die ihr Freude bereiteten. Kurz gesagt, ihre Welt kennenlernen und mich nicht mehr hinter meinem Gerüst verstecken. 1 Jahr später haben wir geheiratet. Und wir hatten immer zu essen und saubere Wäsche. Sie verstehen? Dieser Platz hier im Park ist der Ort, an dem ich ihr am nächsten bin. Deshalb bin ich jeden Tag hier, baue das Backgammon auf und warte.”
“Sie wissen, dass ihre Frau nicht wieder kommen wird.”
“Ja, das weiß ich. Ich bin nicht verrückt. Ich warte nur darauf, dass ich gehen kann und sie endlich wieder treffe.”
Ich bin sehr erstaunt über den Mann. Über die Art, wie er von seiner Frau spricht und mehr noch darüber, dass ihm etwas gelungen war, das die wenigstens von uns nicht schaffen. Die eigenen Gewohnheiten einem anderen Menschen zuliebe zu durchbrechen. Wir unterhalten uns noch lange über die Stadt und deren Geschichte, die sich bis weit in das 11 Jahrhundert zurückverfolgen lässt, bevor ich aufbreche.
Viel später als ich geplant habe, mache ich mich auf den Rückweg. Eigentlich wollte ich Freitag gegen Nachmittag wieder zuhause sein, doch das war jetzt kaum noch zu schaffen. Während der Fahrt denke ich über die Menschen und deren Geschichten nach, die ich in den letzten 3 Tagen getroffen habe. Den Taxifahrer, den Fischer und zuletzt der alten Herr. Jeder für sich half mir dabei Antworten auf die Fragen zu finden, die mich seit Wochen beschäftigten und mir neuen Sichtweisen zu eröffnen.

 

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