Der Mann mit dem Hund: Drei W̦lfe РKapitel 6 РDie Sonntagsvorleseung

   Der Flug nach Jerez war ruhig und problemlos verlaufen. Im Gegensatz zu dem wirklich miserablen Wetter bei meinem Abflug, herrschte in Südspanien traumhaftes Wetter. Den größten Teil des ersten Abends hatte ich an der Hotelbar mit verkosten verschiedener Sherry Sorten verbracht. Obwohl am nächsten Morgen der Challenger auf mich wartete, dachte ich zwischen dem einen oder anderen Glas Sherry an den Mann und seine Geschichte. Je länger ich darüber grübelte, desto mehr wuchs in mir die Erkenntnis, dass alles womöglich doch nicht so eindeutig war, wie ich noch am Abend zuvor angenommen hatte. Es existierten drei mehr oder weniger wahrscheinliche Varianten, die ihr Verhalten erklären konnten. Die erste, wahrscheinlichste Variante, sie hatte die Beziehung mit ihrem Exfreund möglicherweise schon im Sommer wiederaufgenommen. Dafür sprach fast alles. Diese Krankenbesuche, das fortgesetzte Erwähnen seiner Person und nicht zuletzt Weihnachten und Silvester. Tage, die man mit den Personen verbringt, die einem wirklich nahestehen. Dazu kam noch ihr extrem kurzer Besuch am Geburtstag des Mannes und schließlich die Tatsache, dass sie am Wochenende angeblich immer krank war. Dagegen sprach, hatte sie wieder in einer Beziehung mit ihrem Exfreund, hätte sie jene mit dem Mann ganz einfach beenden können. So selten, wie sich die beiden sahen, stellte das sicher kein Problem für sie dar. Eine kurze SMS oder E-Mail, wie heute allgemein üblich, und die Sache wäre erledigt gewesen. Falls das überhaupt notwendig gewesen wäre. Sie hätte den Kontakt auch ganz einfach einstellen können. Dafür hätte sie nur lange genug nicht mehr auf seine E-Mails reagieren müssen. Schweigen, eine Sprache, die jeder versteht. Warum sollte sie das unnötige Risiko eingehen, als Betrügerin entlarvt zu werden? Es sei denn, ihr war vollkommen egal, welches Bild der Mann am Ende von ihr haben wird. Für diese Art innerer Einstellung sprachen unter anderem die Äußerungen seines Freundes. Dieser hatte offenbar intime Kenntnisse über ihre Art Beziehungen zu führen und zu beenden. Die zweite war, sie saß klassisch zwischen zwei Stühlen und konnte oder wollte sich nicht entscheiden. Schließlich die dritte und nach meinem Verständnis unwahrscheinlichste Variante. Es war eine Summe von Missverständnissen, hervor gerufen durch die mangelhafte Kommunikation der beiden und ihr war überhaupt nicht bewusst, was in dem Mann vor sich ging und wie er ihr Verhalten interpretierte. Während ich über diese Theorien nachdachte, fiel mir auf, dass der Mann gar nie und ich mir vor einigen Tagen nur am Rande die Frage gestellt hatte, ob sie nicht schon zwischen Herbst 2011 und Frühsommer 2012 eine Beziehung mit einem anderen Mann hatte? Konnte es nicht sein, dass es damals ebenso gewesen war. Einiges sprach für diese Annahme. Normalerweise folgt das Verhalten eines Menschen einem bestimmten Muster, das hauptsächlich von der Erziehung, den eigenen Erfahrungen und dem nahen sozialen Umfeld geprägt wird. Da der Mann aber zu keinem Zeitpunkt davon ausging, dass sie ihn damals schon hintergangen hat, musste er angenommen haben, dass sie über dasselbe Wertesystem verfügt, wie er. Was aber, wenn das nicht so war? Sich ihr Wertesystem in wichtigen Punkten grundlegend von seinem unterschied? Möglicher-weise war er für sie lediglich eine Art Notnagel? Eine kurze Affäre von der sie wusste, dass sie nur wenige Wochen dauern würde? Oder sie betrachtete das Ganze lediglich als Spiel zu ihrer Belustigung? Ich nahm meinen Sherry und setzte mich in eine Nische etwas abseits der Bar um in Ruhe weiter nachdenken zu können. In diesem Zusammenhang erinnerte ich mich wieder an diesen sonderbaren Ausdruck der Nebenbeziehung, den sie dem Mann gegenüber ganz zu Anfang für Beziehungen, bei denen ihr von Anfang an klar war, dass sie nur ein Zeitvertreib darstellten, gebraucht hatte. Damals hatte der Mann in seinem Tagebuch eindringlich die Sorge geäußert, nur eine dieser Nebenbeziehungen für sie zu sein. Ich hatte über diesen Ausdruck für Beziehungsabstufungen damals nicht weiter nachgedacht, da er mir in gewisser Weise vertraut war. Geraldine verwendet den auf den ersten Blick gleichbedeutenden Ausdruck Zwischenbeziehung für jene, die ihr nicht wichtig waren oder die, die ohnehin nur ein paar Wochen dauern sollten. Interpretierte man den Ausdruck Nebenbeziehung jedoch richtig, beinhaltet das Wort Neben, die Möglichkeit der Koexistenz verschiedener Beziehungen zur selben Zeit. Das spräche zusätzlich für meine erste Theorie. Aber möglicherweise war dieser Ausdruck bloß eine verunglückte Wortwahl und hatte nicht die Bedeutung, die ich ihm gerade zumaß. Warum sich das Ganze dann so lange hinzog, immerhin waren es jetzt fast 2 Jahre, erschloss sich mir nicht und stand irgendwie im Widerspruch zu dieser Theorie. Ich fragte mich, ob es nicht noch andere Erklärungen für ihr Verhalten geben konnte, aber viel Plausibles fiel mir nicht ein. Statt mehr Klarheit hatte ich nun mehr Fragen als mir lieb war.

   Nach einem ausgedehnten Frühstück machte ich mich am nächsten Morgen zu dem Vorort auf, in dem der Dodge stand. Glücklicherweise sprach der Verkäufer sehr gut Englisch und erklärte mir ausführlich, wie das Fahrzeug nach Spanien gekommen war, wie viel er bislang investiert hatte, vor allem welche Teile erneuert worden waren. Über eine Stunde schaute mir das Auto sehr genau an. Besonders die bekannten Schwachstellen. Motor und Getrieben waren trocken, die Elektrik funktionierte und die Karosserie war frei von Spachtelorgien. Einzig das schlechte Verdeck und die verschlissene Innenausstattung boten Anlass zur Kritik und damit Spielraum für Verhandlungen. Nach ausgedehnter Pro-befahrt und langem, zähem Verhandeln einigten wir uns am Ende auf einen Preis von 65.000 €. Zusätzlich rang ich dem Verkäufer ab, dass er die Kosten für den Transport über-nahm. Zufrieden mit meiner erfolgreichen Verhandlung fuhr ich mit einem Taxi zurück in die Stadt. Während der Fahrt musste ich an Geraldine und ihre vorhersehbare Reaktion auf mein neuestes Spielzeug denken. Sicher würde sie sich, wie schon damals bei meinem Mustang, furchtbar aufregen und mich fragen, wie man so viel Geld für einen alten Schraubenhaufen ausgeben kann. Ich hatte ihr damals entgegnet, dass sie mir dann erklären müsste, wieso sie neben ihrem Dienst-wagen noch vier Motorräder besaß. Mit dem berühmten Satz: „Das ist meine Sache und geht dich überhaupt nichts an!“, beendete Geraldine damals die Unterhaltung und schmollte fast eine Woche mit mir. Ich beschloss den Dodge, solange es möglich war, vor Geraldine geheim zu halten. Da er noch ein neues Verdeck und neue Sitzbezüge benötigte und somit ohnehin erst zu einem Sattler musste, wird es eine Zeit dauern bis Geraldine ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekommen wird. Am Nachmittag besichtigte ich die Altstadt von Jerez. Eine wunderschöne Stadt mit wunderbaren alten Gebäuden, deren maurischer Einfluss überall zu erkennen war. Drei Stunden schlenderte ich durch die Straßen, bevor ich wieder in mein Hotel zurückkehrte. Eine der großen Sehenswürdigkeiten von Jerez ist die königlich-andalusische Reitschule, die ich am Sonntag besuchte. Selbst ich, der sich eigentlich nichts aus Pferden machte, war beeindruckt. Den letzten Abend verbrachte ich, wie schon den ersten, mit der Verkostung von verschiedenen Sherrys, bevor ich am Montagmorgen wieder zurückflog.

   Empfangen vom tristen Grau eines nasskalten Wintertages erwartete mich zuhause, außer einem Stapel Post auch eine E-Mail von Geraldine. Es war die Antwort auf meine Absage. Zwischen den höflich gehaltenen Zeilen konnte ich unzweideutig herauslesen, dass sie, für mich vollkommen unverständlich, enttäuscht von meiner Absage war. Zu meiner Trennung von Maria bemerkte sie lapidar, dass ihr von Anfang an klar gewesen sei, dass diese Beziehung, wie meine anderen zuvor, ebenfalls nur von kurzer Dauer sein würde. An diesem Abend ging ich, müde von meiner erfolgreichen Reise, früh zu Bett. Die in meinem Arbeitszimmer, geordnet nach Wichtigkeit, gestapelten Notizen über die Geschichte des Mannes, erinnerten mich am nächsten Tag daran, dass ich in seinem Tagebuch weiterlesen sollte. Nach einem Kaffee und 2 Scheiben Toast ging ich kurz meine letzten Notizen durch, bevor ich mich an meinem Computer setzte. Ich war vor meinem Abflug am 24. November stehen geblieben Bis Anfang Dezember enthielt das Tagebuch des Mannes nichts Überraschendes. Der Eintrag vom 7. Dezember lieferte dann die von mir gesuchte Erklärung dafür, warum der Mann nicht wenigstens versucht hatte, Weihnachten oder Silvester mit seiner Freundin zu verbringen. Die automatische Antwortfunktion ihres E-Mail Server hatte ihn darüber unterrichtet, dass seine Freundin vom 22.12.2012 bis einschließlich 6.01.2013 Urlaub hatte. Unpersönlicher ging es nicht mehr. Ein Vorgang, der in das Bild der letzten Wochen passte. Menschen, die mir wichtig sind und das sind zugegeben nicht besonders viele, informierte ich stets persönlich über einen geplanten Urlaub. Dazu zählte auch immer meine gerade aktuelle Freundin, auch wenn mir die jeweilige Beziehung nichts, oder nicht sehr viel bedeutete. Für die mir unwichtigen hielt ich es für vollkommen ausreichend von meiner Abwesenheit unpersönlich von einem Computer informiert zu werden. Dieser Vorgang erinnerte mich daran, dass Geraldine vor Jahren, wenn auch am Ende versehentlich, mit mir ähnlich verfahren war. Daraufhin hatte ich mich mehrere Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet, bis Geraldine schließlich fragte, warum ich den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Sie war einigermaßen entsetzt darüber, wie ich diese Nachricht aufgenommen hatte und bemühte sich wortreich und in letzter Konsequenz auch glaubhaft, mir zu erklären, dass dies unter keinen Umständen ihre Intention war. Am Ende war es nichts weiter, als ein großes Missverständnis basierend auf einer Fehlinterpretation. Hier lag der Fall aber anders. Alle Umstände deuteten darauf hin, dass seine Freundin sich so Freiraum für die Feiertage verschaffen wollte. Ich war mir sicher, dass sie, im Gegensatz zu Geraldine, sich durchaus bewusst war, was sie damit bewirkte. Um sicher zu gehen, ging auch nochmal sämtliche E-Mails und Tagebucheinträge der letzten Wochen durch, fand aber nirgends einen Hinweis, dass sich die beiden über ihren geplanten Urlaub unterhalten hatten. Ich verstand nicht, warum der Mann an diesem Punkt nicht endlich die Konsequenzen zog und diese Beziehung beendete. Sicher, sie war seine große Liebe und das nicht erst seit 2 Jahren. Dennoch, diese Art von Gleichgültigkeit hätte zum Ende dieser Beziehung führen müssen, die nach meiner Meinung diese Bezeichnung schon lange nicht mehr verdiente hatte. Erstaunlicherweise ging der Mann nicht weiter darauf ein. Es hatte den Anschein, als würde ihn etwas ganz Anderes beschäftigen. Etwas, über dass er noch nicht schreiben konnte oder wollte. Höchstwahrscheinlich etwas, dass mit seiner Krankheit in Zusammenhang stand.

   Es vergingen weitere fünf Tage bis zum nächsten interessanten Eintrag. In diesem setzte sich der Mann zum ersten Mal damit auseinander, ob und wann er mit seiner Freundin über seine Erkrankung reden sollte. Auffällig war, dass er dabei nie das Wort Erkrankung benutzte, oder um mir endlich weiter zu helfen den korrekten medizinischen Terminus, sondern immer das neutrale Wort Zustand. Diese Überlegungen wurden am folgenden Tag durch ihre Beförderung und einer ausgesprochen eigenartigen Bemerkung ihrerseits unterbrochen. Der Mann notierte in seinem Tagebuch, dass seine Freundin mit ihrer Beförderung nicht besonders glücklich war, sie ihre neue Position sogar einen Schleudersitz, der keine Fehler verzeiht genannt hatte und am Telefon niedergeschlagen geklungen hatte. Weiter schrieb er, dass sie ihm an diesem Abend gesagt hatte, sie wünsche sich nichts mehr, als das jemand abends mit ihrem Hund Gassi geht und ihr ein Glas Wein an das Sofa bringt. Eine Anspruchslosigkeit, die mich zunächst verwunderte und die auf Anhieb so gar nicht zu meinem Eindruck von ihr passen wollte. Ich dachte eine Weile über diesen Satz und dessen Bedeutung nach, bis ich am Ende zu einem Schluss kam. Im Klartext hieß das nichts anders als ich brauche dich dafür, dass du abends mit meinem Hund rausgehst und mir meinem Wein bringst. Für mehr nicht. Als Laufbursche, wenn man dieses längst vergessene Wort benutzen will. Im Kern eine Aussage, die so ähnlich auch von mir hätte stammen können. War das Gros meiner Freundinnen doch auf ihre Kernfunktionen beschränkt gewesen. Ansonsten aber spielten sie in meinem Leben keine Rolle. Im Grunde also genauso eindimensional, wie ihr Anspruch an dem Mann. Bevor ich die Verbindung trennte, machte ich mir über das gelesene ein paar Notizen. Ich stand auf und ging eine Weile zwischen meinem Wohnzimmer und meinem Esszimmer auf und ab. Sollte ich meiner Vermutung richtig-liegen, drängten sich mir erneut dieselben beiden Fragen wie vor einer halben Stunde auf. Warum beendete der Mann dieses Trauerspiel nicht, um seine Kraft und Zeit für sinnvolleres nutzen zu können und sich nicht mehr länger Gedanken über eine Frau machen zu müssen, der er offensichtlich voll-kommen gleichgültig war und warum ergab ihr Verhalten, das zwar eindeutig in eine Richtung wies, am Ende genauso wenig Sinn? Was, wenn sie spürte, dass mit ihrem Freund etwas nicht stimmte? Sie den Widerspruch zwischen seinen Bemühungen im Sommer und seinem Benehmen seit Oktober unterbewusst wahrnahm? Sie ihn wirklich liebte und sich aus Gründen, die mir verborgen blieben, so merkwürdig verhielt? Ich hatte oft genug erlebt, dass selten etwas so war, wie es auf den ersten Blick zu sein schien. Ihr alleine den schwarzen Peter zu zuschieben war aufgrund der Aufzeichnungen des Mannes und einiger ihrer E-Mails fast zwingend, letztlich jedoch eine Spur zu einfach. Zu dem tat ich mir aus einem mir nicht nachvollziehbaren Grund schwer damit in ihr einen derart charakterlosen Menschen zu sehen. Ich beendete meine am Ende fruchtlosen Überlegungen mit diesem Gedanken und ging in meine Küche. Mein halbleerer Kühlschrank erinnerte mich daran, dass ich einkaufen gehen sollte. Nach dem ich eine Kleinigkeit gegessen hatte, wollte ich mich für eine halbe Stunde auf mein Sofa legen. Auf dem Weg zu meinem Sofa erinnerte ich mich daran, dass ich Geraldine unbedingt Bescheid geben sollte, dass ich wieder zuhause war. Ich über-legte kurz, ob ich sie anrufen sollte, entschied mich dann aber doch für eine E-Mail, um nicht unnötig Gefahr zu laufen, mit ihr über meine Absage ihrer Einladung diskutieren zu müssen. Natürlich hätte ich die E-Mail auf dem Sofa liegend an meinem Handy schreiben können, aber ich hasse das Getippe auf dieser viel zu kleinen Tastatur. Da mein Laptop ebenfalls in meinem Arbeitszimmer lag, musste ich zurück an meinem Schreibtisch. In knappen Sätzen, natürlich ohne den Dodge zu erwähnen, berichtete ich Geraldine von meiner Reise und beendete die E-Mail, als Reaktion auf ihre patzige Antwort auf meine Absage, mit einem unverbindlichen „bis dann“. Da ich nun wieder an meinem Computer saß, konnte ich auch im Tagebuch des Mannes weiterlesen. Es waren nur noch wenige Tage bis zu seiner nächsten Untersuchung, die regelmäßig für Mitte des Monats angesetzt worden war. Zunächst schrieb der Mann darüber, dass der Hund seiner Freundin unerwartet schwer erkrankt war. Er machte sich nicht nur große Sorgen um den Hund, den er außergewöhnlich zu mögen schien, sondern auch um seine Freundin, für die ihr Hund nach seiner Darstellung das wichtigste in ihrem Leben war. Eine Aussage, die er zum wiederholten Male traf und die mir deshalb als außerordentlich wichtig erschien. Er überlegte kurz, was er für die beiden tun konnte. Verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder, weil er genau zu wissen schien, wie sie auf seine ungebetene Einmischung reagieren wird. Über das Thema Hund hatte er bereits im Spätsommer geschrieben. Sofort durchsuchte ich meine Notizen und fand schnell, was ich dazu notiert hatte. Ende August hatte sie ihren Hund zwei Tage bei ihm gelassen. Nach dem dieser wieder bei ihr war, hatte sie ihm in deutlichen Worten vorgeworfen, er hätte ihren Hund innerhalb zweier Tage für sie vollkommen unbrauchbar gemacht. Der Mann hatte damals nicht verstanden, was er falsch gemacht hatte und war sehr enttäuscht. Jedenfalls hatte sie ihren Hund seitdem nicht mehr bei ihm gelassen. Im Anschluss an diesen Eintrag über-schlugen sich die Ereignisse. Der Mann berichtete über seinen Krankenhaustermin, dass die CT Aufnahmen und das Blutbild besorgniserregend waren und im weiteren, dass die Werte sich im Vergleich zum November weiter verschlechtert hatten. Fast schon erwartungsgemäß berichtete der Mann, wie bei der vorangegangenen Untersuchung, emotionslos und sachlich über diese. Einen Tag darauf schilderte er einen Autounfall, von dem er seiner Freundin wohlüberlegt nichts erzählt hatte. Zu dem Unfallhergang vermerkte er, dass er einen Müllcontainer beim Abbiegen nicht gesehen und diesen gerammt hatte. Mir erschien es grob fahrlässig, dass der Mann mit seinem eingeschränkten Sehvermögen, speziell bei Dunkelheit, immer noch Auto fuhr. Aus ganz anderen Gründen stimmte mich der Eintrag des nächsten Tages noch nachdenklicher.

„… sie hatte mich neulich nach einer Backup-Lösung für die Laptops ihrer Mitarbeiter gefragt und obwohl ich eine Lösung dafür habe, weiß ich nicht, ob eine langfristige Geschäftsbeziehung zwischen uns noch einen Sinn macht?“

Es war nicht eindeutig, was der Mann damit gemeint hatte. War eine langfristige Geschäftsbeziehung in seine Augen nicht sinnvoll, weil er krank war, oder weil er dieser Beziehung nicht mehr viel Zukunft gab. Die Antwort auf diese Frage stand, wenn auch eher indirekt im Eintrag des folgenden Tags.

„Ich bin es wirklich leid. Die Antwort auf die Gute Nacht Mail von gestern, kam heute 14:16. Dann spar’s dir doch komplett, wenn es Dir so unwichtig ist und dein „Ich denk an Dich“ am besten gleich mit. Dieses scheinheilige Getue kenne ich zu gut und es hat mir damals schon nicht gefallen. Weihnachten sollte in das Fest der Lügen umbenannt werden“.

Nie zuvor hatte ich einen wütenderen Eintrag in seinem Tagebuch gelesen. Um den chronologischen Ablauf zu wahren las ich seine Aufzeichnungen von Silvester und Neujahr nochmals Ich wollte sicher zu gehen, dass sich ich diese wichtigen Einträge vor ein paar Wochen richtig verstanden hatte und sie jetzt im Kontext der vorangegangenen Ereignisse, die ich damals nicht kannte, weiterhin diesen Sinn ergaben. Obwohl ich nun eine Fülle von Informationen besaß, blieben eine wichtige Frage nach wie vor ungeklärt. Zunächst musste ich unbedingt in Erfahrung bringen, ob es sich bei seiner Erkrankung tatsächlich um einen Tumor handelte, bevor ich weiter der Frage nachgehen konnte, ob seine Freundin ihn wirklich betrog und was für ein Typ Mensch sie letztlich war.

   Um von der Geschichte des Mannes abschalten zu können und auf andere Gedanken zu kommen, nicht zu Letzt aber deshalb, weil sich in meinem Kühlschrank kaum noch essbares befand, ging ich an diesem Abend Essen. Nicht, dass ich gerne allein essen ging, aber an diesem Abend war mir nicht nach Gesellschaft. Trotz des Wechsels der Umgebung gelang es mir nicht von dem Gelesenen abschalten. Aber es war nicht die Geschichte als solche, die mich beschäftigte, sondern mehr die Frage, ob ich eine derartig schwierig zu erzählende Geschichte schreiben konnte. Bisher handelten meine Bücher von Geschichten, die sich innerhalb weniger Tage abspielten, die einfach zu erzählen waren, in denen es kaum widersprüchliches gab und deren Charaktere klar gezeichnet waren. Hier war alles anders. Die Charaktere, allen voran seine Freundin verhielten sich widersprüchlich. Die Gedanken des Mannes zu erfassen und klar zu strukturieren war fast unmöglich, das Thema einer lebensbedrohenden Krankheit ohnehin mehr als schwierig und schließlich die Dauer von fast 2 Jahren, über die ich schrieben musste. Seit ich die Firma verlassen hatte, war mir alles mehr oder minder in den Schoß gefallen. Ich war ein Glückskind, das für seinen Erfolg nicht wirklich hart arbeiten mussten und dementsprechend hatte ich nicht nur eine große Zahl an Neider, sondern auch eine Menge Zweifler an meinem schriftstellerischen Talent. Aber dieses Buch würde anders werden. Es wird alles verändern. Mittlerweile war es zu einer Herausforderung für mich geworden. Eine, mit deren Hilfe ich allen beweisen konnte, dass mein Erfolg doch kein Zufall war. Welcher Autor würde sich eine solche Geschichte entgehen lassen? Zufrieden mit mir und meiner Entscheidung dieses Buch zu schreiben, aß ich mein Dessert und sah vor meinem geistigen Auge schon die diversen Preise, die ich für dieses Buch bekommen würde.

   Nach einem gemütlichen Frühstück fand ich am nächsten Morgen Zeit endlich einkaufen zu gehen. Das schlechte Wetter, es regnete oder schneite abwechselnd bewog mich dazu, das Auto zunehmen und nicht wie ich es gerne tat, den kurzen Weg zu dem Einkaufzentrum zu Fuß zu gehen. Auf dem Heimweg kam ich unvermittelt auf die Idee, durch die Straße zu fahren, in der der Mann wohnte. Langsam rollte mein Wagen durch die Straße, in der die Höchstgeschwindigkeit sinnvollerweise auf 30 Km/h begrenzt war. Unerwartet standen beide Autos an ihren üblichen Plätzen. Der Mann schien heute wieder nicht zur Arbeit gegangen zu sein. Als ich mich seinem Kombi näherte, bemerkte ich, dass dieser auf der rechten Seite ab Mitte der hinteren Türe stark eingedrückt und ziemlich zerkratzt war. Diese Spuren stammten definitiv nicht von dem leider auch in dieser Wohngegend immer zahl-reicher werdenden Vandalismus, sondern von einer stärkeren Berührung. Einem Pfeiler oder etwas ähnlich Rundlichem. Der Mann musste wieder einen Unfall gehabt haben. Dass das noch die Spuren von dem Müllcontainer waren, den er im Dezember erwähnt hatte konnte ich mir an Hand der Beschädigung nicht vorstellen.

   Nicht nur mein Kühlschrank, auch meine Vorratsschränke waren nach meinem Einkauf wieder beruhigend gefüllt und ich konnte mich wieder dem Tagebuch des Mannes zuwenden. Mir fehlten nur noch wenige Wochen um auf dem Laufenden zu sein. Gespannt öffnete ich die Datei mit der Bezeichnung Q1 im Ordner 2013. Ich erwartete eine weitere Auseinandersetzung mit der Frage, ob seine Freundin ihn betrog. Doch wie schon ein paar Mal zuvor überraschte mich der Mann wieder. Zunächst erfuhr ich, dass seine Freundin die erste Hälfte des Januars geschäftlich in China war und anschließend den überwiegenden Teil des Februars bis ein-schließlich Mitte März, unterbrochen von einer Messe Ende Februar in Mailand, täglich in ganz Deutschland unterwegs sein würde. Ein anstrengendes Programm für seine Freundin. Nicht nur darüber hatte der Mann offensichtlich viel nachgedacht, sondern über ihr Leben im Allgemeinen und was das Beste für sie sei. Dafür gab es in diesem Januar wieder mehr als genug Anlass. Zuerst war, kurz nach dem sie aus Asien zurückgekehrt war, ihr Hund erneut schwer erkrankt. Kurz darauf wurde ihre Mutter völlig überraschend mit einer Lebererkrankung ins Krankenhaus eingeliefert. Es war gut zu beobachten, wie diese Probleme seine Gedanken über ihre mutmaßliche Untreue verdrängten. Selbst jene über seine eigene Krankheit, die ihn unzweifelhaft beschäftigen mussten, schienen durch diese überlagert zu sein. Über seine regelmäßige Untersuchung Mitte des Monats, berichtete er unerwartet nicht so sachlich wie bei den anderen zuvor. Er beschrieb ausführlich die besorgten Gesichter der Ärzte beim Betrachten seiner CT Bilder und von seinen Werte, die sich weiter verschlechtert hatten. Auch von neuen Medikamente, die er bekommen hatte und deren Nebenwirkungen unter anderem Sex für ihn unmöglich machte, berichtete er. Zwei Tage später folgte der längste Eintrag in seinem Tagebuch, seit jenen Tagen im Frühsommer 2012, in denen er seine Briefe geschrieben hatte. Über mehr als zwei Seiten trug er für und wider zusammen und wägte alle Argumente ab. Am Ende kam der Mann zu dem Schluss, das Beste für seine Freundin sei, dass sie unter keinen Umständen von seinem Zustand erfahren durfte und er geeignete Maßnahmen ergreifen musste. Er begründete seine Entscheidung damit, dass in ihrem Leben, neben ihrer aufreibenden Arbeit, ihrer eigenen angegriffenen Gesundheit, ihrem chronisch kranken Hund und ihrer Familie, kein Raum für eine weitere schwere Belastung war. Äußerst wichtig schien ihm auch, da er diesen Punkt mehrfach wiederholte, die ungehinderte Fortsetzung ihrer erfolgreichen Arbeit, für die er sie offensichtlich sehr bewunderte. Er war sich bewusst, dass er in erhebliche Widersprüche zu seinen Briefen und allem was er im Sommer 2012 getan hatte, geraten würde, wenn er die Beziehung selbst beendete. Daher entschied er sich für einen anderen Weg, den er mehr oder weniger ausführlich schilderte. Dieser sah vor, den von ihm in den letzten zwei Monaten bedingt durch seine Krankheit und den damit verbundenen Einschränkungen seines Lebens begonnenen Rückzug aus der Beziehung weiter und konsequenter zu verfolgen, bis seine Freundin darin das gleiche Verhalten erkennen musste, dass sie schon im Frühjahr 2012 aufgrund ihrer Fehlinterpretation seines Verhaltens faktisch zur Beendigung der Beziehung gebracht hatte. Sie sich dann endgültig enttäuscht von ihm abwenden würde, da er ihr die von ihr gewünschte und erwartete Aufmerksamkeit wieder nicht schenkte. In zwei, für das Gelingen seines Planes entscheidenden Punkten war er sich absolut sicher. Noch hatte sie nicht den leisesten Verdacht, dass er krank war. Zudem war er sich sicher, dass er ihr längst nicht so wichtig war, wie sie ihm gegenüber im Sommer noch betont hatte. Daraus folgerte er, dass sie in Anbetracht ihres stressigen und aufreibenden Lebens niemals um diese Beziehung kämpfen würde. Die entscheidende Rolle für den Erfolg seines Planes kam nach seiner Einschätzung je-doch dem Faktor Zeit zu. Um die größtmögliche Sicherheit für sie zu schaffen, musste er sein Ziel spätestens Mitte April erreicht haben. Mit anderen Worten, der Mann hatte sich für Casablanca und nicht für Harry und Sally entschieden. Nach der Lektüre dieses Eintrags hatte ich verstanden, was der Mann wollte und wie der Weg dahin aussehen sollte. So perfide seine Überlegungen auf den ersten Blick schienen, so zwingend logisch mussten sie aus seiner Sicht sein. Der eigentümliche Satz im Oktober neben diesem Baum war zum Menetekel geworden. Mir stellte sich nicht nur die Frage, ob ein solcher Plan überhaupt aufgehen konnte, sondern viel mehr, ob der Mann in der Lage war ihn durchhalten zu können. Immerhin war diese Frau pathetisch ausgedrückt, die Liebe seines Lebens. Außerdem gab es noch einen anderen Aspekt, den er in seinen Überlegungen scheinbar völlig außer Acht ließ. Verschlechterte sich sein Zustand, wovon zwingend auszugehen war, dann würde er in naher Zukunft auf Hilfe im Alltag angewiesen sein. Wer, außer seiner Freundin wäre dafür die geeignetere Person? Aber nicht nur diese Frage beschäftigte mich. Warum spielte bei seinen Überlegungen der Verdacht sie würde ihn betrügen offensichtlich überhaupt keine Rolle mehr? Vielleicht war er sich mittlerweile sicher, dass ihre Gefühle für ihn in Wahrheit niemals die Tiefe hatten, die sie ihm lange Zeit versucht hatte weiß zu machen? Dennoch, auch wenn die meisten Menschen mit Sicherheit anders gehandelt hätten und nicht wenige kein Verständnis für seine Entscheidung aufbringen würden, hatte ich großen Respekt vor dem Mann. Auf eine sonderbare Art erinnerte er mich an eine Begebenheit aus meinem ersten Leben. Ich war in einem Land, in dem ich nie gewesen sein durften. Kurz bevor mich Hubschrauber abholten, geriet ich in ein massives Feuergefecht. Eine Handvoll Soldaten die sich an Bord der beiden Hubschrauber befanden, deckten damals den Rückzug damit ich unversehrt einen der beiden Hubschrauber erreichen konnten. Sie blieben solange zurück, bis der erste Helikopter abgehoben hatte und bestiegen erst dann den Begleithubschrauber.

   Das andere Problem, in meinen Augen größere Problem, kehrte an ihrem Geburtstag Anfang Februar, in Anbetracht seiner Gefühle für sie, für mich nicht unerwartet schnell wie-der zurück. In seinem Tagebuch notierte der Mann zwei Tage vor ihrem Geburtstag, dass sie ihn mit einem, in meinen Au-gen mehr als fragwürdigen Vorwand, davon in Kenntnis setzte, dass sie an diesem Tag keine Zeit für ihn hatte. Obwohl der Mann Tage zuvor seine Entscheidung getroffen hatte, beschäftigte ihn an diesem Tag nur eine Frage. Verbrachte sie ihren Geburtstag in Begleitung ihres Exfreundes bei ihrer Familie? Ich hatte den Eindruck, dass der Mann nur aufgrund der Ereignisse, die sich seit Oktober zugetragen hatten zu diesem Schluss gekommen war und dabei völlig die Krankenbesuche im Sommer, die nach meiner Einschätzung schon ein eindeutiges Zeichen waren, außer Acht gelassen hatte. Nach dem Lesen dieser Einträge war mir nach einer Pause. Eine heiße Schokolade konnte manchmal Wunder bewirken. Auf dem Weg in meine Küche klingelte mein Telefon, Geraldine. Sie kam gerade aus einer Besprechung und wollte sich erkundigen, wie es mir ging. Wir unterhielten uns kurz über dies und das, ohne dabei das Thema ihrer Einladung zum Abendessen und die sich anschließenden E-Mails auch nur im Entferntesten zu streifen, bis sie wissen wollte, was ich zurzeit mache. Noch immer wollte ich Geraldine keine weiteren Details über mein neues Buch verraten und erzählte ihr stattdessen, dass ich noch mit Arbeiten im Haus und in der Garage beschäftigt sei. Ihrer Antwort nach zu schließen, hat Geraldine mir nicht geglaubt, fragte aber auch nicht weiter nach. Mit ihrem üblichen, wir sehen uns mein Liebling verabschiedete sie sich und ich trank in Ruhe meine heiße Schokolade. Für heute hatte ich genug schwer Verdauliches im Tagebuch des Mannes gelesen hatte. Ich ging in mein Wohnzimmer, setzte mich vor meinen neuen Fernseher, den ich, seit ich mir diesen zum Geburtstag geschenkt hatte, noch nicht viel nutzen konnte und schaute den „Flug des Phönix“, natürlich in seiner Originalfassung, an.

   In der Nacht hatte es schon wieder geschneit und ich wurde durch die quietschenden und schabenden Geräusche der Metallschneeschaufel meines Nachbarn geweckt. Pünktlich um sieben Uhr schippte er seine Garageneinfahrt und den Bürgersteig entlang seines Hauses. Müde kroch ich aus meinem Bett. der Küche und dem rettenden Kaffee entgegen. Durch mein Küchenfenster betrachte ich die Winterlandschaft. In diesem Winter gab es ungewöhnlich oft Schnee, der aber selten länger als einen Tag liegen blieb. In der Hoffnung bald einsetzender Regen würde den Schnee wegschmelzen, ging ich unter die Dusche und ließ den Schnee auf dem Geh-weg Schnee sein. Wichtiger, als diese bürgerlichen Pflichten war mir, wie die Geschichte des Mannes weiterging. Seine Aufzeichnung vom Valentinstag lieferte die Erklärung für das beschädigte Auto. Er hatte an diesem Tag, wie an jedem 14. im Monat das Grab seines verstorbenen Hundes besucht. Beim Ausparken hatte er ein Pfeiler übersehen und diesen gestreift. Im Weiteren beschäftigte er sich an diesem Tag hauptsächlich mit der Frage, ob er seiner Freundin nicht doch eine paar Blumen zum Valentinstag hätte kaufen sollen. Da er aber wusste, dass seine Freundin diesen in ihren Augen rein kommerziellen Tag strikt ablehnte, obwohl sie sich zu Anfang der Beziehung in einer E-Mail selbst einmal als „Turboromantikerin“ bezeichnet hatte, nahm er letztlich davon Abstand. Eine Entscheidung, die ich für richtig erachtete. In der ganzen Zeit war in ihren E-Mails nichts zu lesen, das auch nur im Entferntesten in die Richtung Romantik, oder dass ihr diese besonders wichtig war, gedeutet hätte. Deshalb fiel es mir reichlich zu glauben, dass diese übertriebene Formulierung auf sie in irgendeiner Weise zutreffend sein könnte. Außerdem und dieser Punkt war nach meiner Auffassung wesentlich wichtiger, gelangte er zu der Überzeugung, dass es ein falsches Zeichen zur falschen Zeit sei. Fast beiläufig, am Ende des Eintrags erwähnte er seinen Termin im Krankenhaus am nächsten Tag. Die Aufzeichnung über seinen Termin im Krankenhaus am folgenden Tag war anders, als jene im Januar, wieder von dieser eigentümlichen Sachlichkeit gezeichnet, die mir schon im November und Dezember aufgefallen war. Mit großem innerlichen Abstand schrieb er, dass er ab nächsten Dienstag für 3 Tage stationär behandelt wird und dass sich seine Freundin in dieser Zeit glücklicher Weise anlässlich der Fashionweek in Mailand aufhalten wird. Er hoffte, dass sie durch die Hektik der Messe überhaupt nicht bemerken würde, dass er ihr nicht schrieben konnte. Wie zur Bestätigung seines Planes, den er vor einigen Tagen gefasst hatte, las sich der Eintrag des folgenden Tages. Seine Freundin hatte ihm geschrieben, dass ihre Mutter erneut ins Krankenhaus gebracht wurde und diesmal auch operiert werden muss. Neugierig auf den genauen Wortlaut las ich ihre E-Mail. Verständlicherweise kam in ihr sehr deutlich die über-große Sorge um ihre Mutter zum Ausdruck. An bestimmten Stellen wirkte sie sogar fast panisch. In diesem Moment konnte ich die Gedankengänge des Mannes, die zu seinem Plan geführt hatten einigermaßen nachvollziehen. Aus seiner Sicht gab es, egal was tatsächlich passiert war, keinen Grund seine Freundin einer weiteren Belastung auszusetzen, der sie nach seiner Überzeugung ohnehin nicht gewachsen war. Ich stand auf und ging in meinem Arbeitszimmer auf und ab. Die ganze Geschichte hatte sich in den letzten Wochen mehrfach und das nicht immer nachvollziehbar gedreht. Je mehr ich darüber nachdachte, desto deutlicher stellte sich mir eine Frage. Was für ein Mensch war seine Freundin und wie konnte ich mir von ihr einen eigenen Eindruck verschaffen? An diesem Abend reifte in mir ein Plan, der verrückter nicht sein konnte. Um mir ein Bild von seiner Freundin zu machen, entschied ich nach Mailand zu dieser Messe zu fahren, Kontakt zu ihr aufzunehmen und in einem Selbstversuch herauszufinden, wie treu sie wirklich war. Ich war mir bewusst, dass dies kein finaler Beweis dafür sein konnte, dass sie nicht wie-der eine Beziehung mit ihrem Exfreund unterhielt und jetzt diesem treu war. Aber ein Versuch war es wert. Zudem hatte ich die Möglichkeit mir einen eigenen Eindruck von seiner Freundin zu machen. Leider war auf die Schnelle kein vernünftiger Hin und Rückflug nach Mailand mehr zu bekommen und die Alternativen hießen Auto oder Zug. Da ich nicht vollkommen übermüdet in Mailand ankommen wollte, stellte eine Bahnfahrt, auch im Hinblick auf das Wetter, die bessere Alternative dar. Ich war zwar kein großer Freund von Zugfahrten, dennoch konnten sie durchaus kurzweilig und interessant sein.

   Es war Abend geworden, an diesem grauen Tag Ende Februar. Gleichmäßig monoton ratterten die Räder des Zuges über die Gleise dem Ziel entgegen. Mittlerweile, nach über fünf Stunden Zugfahrt, etwas gelangweilt, schaute ich aus dem Fenster. Ein paar Plätze weiter saß telefonierend eine junge Frau. Ohne es zu wollen begann ich dem Gespräch zu folgen. Sie erzählte von einer Vorlesung, die sie diesen Sonntag gehabt hatte, deshalb nicht kommen konnte und wie sehr ihr das bedauerte. Aufmerksam geworden durch ihre Worte, beobachte ich die junge Frau genauer. Nichts an ihrer Haltung oder Gestik ließ den Schluss zu, dass sie gerade jemand belogen hatte. Alles schien schlüssig und glaubwürdig, bis auf die Tatsache, dass es an keiner Universität sonntags Vorlesungen stattfanden. Sie sprach ihren Gesprächspartner mit einem Kosenamen an, was den Schluss nahelegte, dass sie mit ihrem Freund telefonierte. In meinem Leben hatte ich schon viele, um das Wort Lügen zu vermeiden, Ausreden gehört und selbst benutzt. Gute und schlechte, überlegte und aus der Not geborene. Eine Sonntagsvorlesung gehört definitiv zu den schlechten und unüberlegten. Ich verließ das Ab-teil in Richtung Speisewagen und meine Gedanken wandten sich wieder dem Ziel meiner Reise zu. Noch hatte ich keine wirklich gute Idee, wie ich meinen Plan umsetzen wollte. Nachdem ich gegessen hatte, ging ich langsam wieder in mein Abteil zurück. Auf dem Weg musterte ich die wenigen Mit-reisenden und überlegte, warum sie in diesem Zug saßen. Als ich mein Abteil erreichte, telefonierte die junge Frau immer noch. Ein langes Gespräch für eine einfache Aussage, dachte ich, bis ich bemerkte, dass sich ihre Stimmlage verändert hatte. Unverkennbar telefonierte sie jetzt mit einer anderen Person, die sie ebenfalls mit einem anderen Kosenamen an-sprach. Interessiert verfolgte ich das Gespräch weiter.

„Wir gehen nachher zusammen etwas trinken, ich freue mich schon sehr, dich zu sehen. Bis gleich!“

Mit diesen Sätzen beendete die junge Frau das Gespräch. Wenngleich ich die genauen Zusammenhänge nicht kannte, war die Sache jetzt eindeutig geworden. Die junge Frau wird an der nächsten Station aussteigen, um den Abend mit jemand zu verbringen, während eine andere Person den Abend alleine verbringen muss. Ich fragte mich, wie oft das schon geschehen war, wie lange diese Geschichte schon so ging und welches Ende sie nehmen wird. Eine halbe Stunde später er-reichte der Zug den Bahnhof und die junge Frau stieg aus. Kaum hatte sie den Zug verlassen, telefonierte sie schon wieder. Sie wird ihre Gründe haben, dachte ich, so wie es für alles einen Grund gibt. Aber wir können Situationen nur aufgrund der Tatsachen beurteilen, die wir kennen. Während ein Wintersturm heulend den Zug umwehte, setzte ich meinen Kopfhörer auf, lehnte meinen Kopf zurück, schloss die Au-gen und genoss John Lee Hookers Musik. Um 21:38, mit nur erstaunlichen zwei Minuten Verspätung, traf der Zug in Milano Centrale ein. Ich nahm ein Taxi zu meinem Hotel. Das Spadari Al Duomo liegt mitten im Zentrum Mailands und damit nur wenige Minuten zu Fuß von den wichtigsten Veranstaltungsorten der Fashionweek entfernt.

   Am nächsten Morgen informierte ich mich an der Rezeption des Hotels, wo ich Informationen über die Veranstaltungen der Fashionweek erhalten konnte. Der hilfsbereite Concierge gab mir ein Booklet, in dem alle Veranstaltungen auf-geführt waren. Mit dessen Hilfe war es ein leichtes, den richtigen Veranstaltungsort zu finden. Dort angekommen begrüßte mich auf großen Bannern das Logo der Firma UDU-Trends. Nach einem kurzen Rundgang hatte ich die Freundin des Mannes entdeckt. Ich beobachtete sie eine Zeitlang, wie sie sich mit diversen Menschen unterhielt. Als nach etwa einer Stunde die Modeschau begann, entschied ich, weil mir weder nach Mode, noch nach viel zu dünnen Models der Sinn stand, mir die Innenstadt von Mailand ein wenig anzusehen. Kurz vor Ende der Veranstaltung um 18 Uhr kehrte ich wie-der zurück. Ein durchaus vertrautes Gefühl aus längst vergangen Tagen überkam mich, während ich eine gefühlte Ewigkeit im kalten Wind an der Ecke des Nachbargebäudes wartete, bis seine Freundin endlich zusammen mit ein paar Anderen die Veranstaltung verließ. Ich folgte ihnen in sicherem Abstand bis zu ihrem Hotel und suchte mir dort einen Platz in der Lobby, von dem aus ich alles überblicken konnte. Es vergingen fast 3 Stunden, die mich erneut an das viele Warten auf Zielpersonen erinnerten, bis seine Freundin auftauchte. Zusammen mit einer anderen Frau durchquerte sie die Lobby Richtung Hotelbar. Das war die Möglichkeit auf die ich gewartet hatte. Langsam, mit etwas Abstand, folgte ich den beiden und beobachtete, wie sie an der Bar platz-nahmen. Glücklicherweise waren die Plätze neben seiner Freundin noch leer und so setzte ich mich zwei Plätze von ihr entfernt ebenfalls an die Bar, bestellte mir einen Whisky und begann dem Gespräch der beiden Frauen zu folgen. Sie unterhielten sich über den Tag, mit welchen potentiellen Kunden sie gesprochen hatten und allerlei anderen, die Messe betreffenden Themen. Da die beiden ihre Unterhaltung auf Deutsch führten, war es ein leichtes für mich Kontakt mit ihr aufzunehmen. Mit dem klassischen, nicht besonders cleveren:

„Kommen sie auch aus Deutschland?“, versuchte ich ein Gespräch mit der Freundin des Mannes zu beginnen.
„Ja“, erwiderte sie kühl, ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen.
Nicht gerade ein Erfolg dachte enttäuscht, während ich einen Schluck aus meinem Glas nahm. Etwa eine halbe Stunde später, die andere Frau war gerade im Begriff zu gehen, bestellte ich mir noch ein Glas Whisky. Nachdem die Freundin des Mannes sich von der anderen Frau verabschiedet hatte, wandte sie sich überraschend mir zu.
„Scotch oder Bourbon?“, wollte sie wissen. Sie musste meine Bestellung gehört haben.
„Scotch, was denn sonst?“, erwiderte ich.
Sie lächelte.
„Was denn sonst?“
Ich fragte sie, ob sie mir nicht auf ein Glas Gesellschaft leisten wollte. Sie zögerte kurz, nahm dann aber meine Einladung an.
Ich stellte mich ihr als Unternehmer vor, der geschäftlich in Mailand zu tun hatte. Da mir in diesem Moment nichts besser einfiel, benutzte ich den Namen einer meiner alten Tarnidentitäten von früher. Sie stellte sich mir ebenfalls vor und erklärte, dass anlässlich der Fashionweek geschäftlich diese Woche in Mailand sei.
„Bestimmt als Model“, führte ich halb scherzend unseren Smalltalk fort.
„Nein, die Zeiten sind längst vorbei“ erwiderte sie, während sie neben mir Platz nahm. Unterdessen hatte der Barkeeper meinen Whisky gebrachte.
„Was möchten Sie trinken?“.

„Einen Pinot Grigio“, entgegnete sie freundlich lächelnd, während sie ihr Smartphone neben sich auf die Bar legte. Wir unterhielten uns über die Modebranche, die Messe und allerlei anderen damit verbundenen Themen. Sie berichtete mir, wie schwierig, hart umkämpft und anstrengend das Geschäft mittlerweile geworden sei. Es war ein interessantes Gespräch und ich gewann dabei den Eindruck, dass die Freundin des Mannes eine sehr zielstrebige und kluge Frau war, die sich allerdings nicht von meinem Charme einwickeln ließ, obwohl ich sämtliche Register meines durchaus großen Repertoires an Verführungskünste zog. Jedenfalls war ich mir jetzt einiger-maßen sicher, dass sie nicht zu dem Typ Frau gehörte, die leicht zu haben war. Während unseres Gespräches war mir aufgefallen, dass immer wieder verschiedene Nachrichten auf ihrem Smartphone eintrafen, die sie umgehend, nachdem sie sie kurz überflogen hatte, ohne zu antworten, wegklickte. Anscheinend wartete sie auf eine bestimmte Nachricht. Die Frage war, auf wessen Nachricht wartete sie. Sollte sie auf eine Nachricht von ihrem Freund warten, würde sie erfolglos warten. Er war bereits seit zwei Tagen im Krankenhaus, wo-von sie keine Ahnung hatte. Gegen 23 Uhr verließ sie mich, mit dem Hinweis, dass sie morgen einen anstrengenden Tag vor sich hatte, wünschte mir eine gute Nacht und verschwand durch die Lobby Richtung Fahrstuhl. Auf dem Weg in mein Hotel ließ ich den Abend noch einmal Revue passieren. Ich hatte von der Freundin des Mannes einen durchaus positiven Eindruck gewonnen und es fiel mir schwer, diesen Eindruck mit dem Gelesenen und ihrem generellen Verhalten dem Mann gegenüber in Einklang zu bringen. Meine jahrelange Erfahrung Menschen zu beobachten und einzuschätzen sagte mir aber, dass hinter der nach außen zielstrebigen, fröhlichen, freundlichen und selbstbewussten Fassade, durchaus etwas ganz Anderes stecken konnte. Nämlich genau jene kalte ichbezogene Person, wie es die Aufzeichnungen des Mannes und viele ihrer E-Mails nahelegten. Dem widersprach er aber der ständige erwartungsvolle Blick auf ihr Handy. Egal auf wessen Nachricht sie gewartet hatte, gänzlich gefühlskalt konnte sie nicht sein. Selbstverständlich war mir klar, dass dies nur der Eindruck eines kurzen Gespräches war und ich mich trotz meiner Erfahrung in jeder Hinsicht täuschen konnte.

   Als ich mich am frühen Nachmittag des übernächsten Tages, noch etwas müde von der langen Bahnfahrt nach Hause, wieder dem Tagebuch des Mannes widmete, erwartete mich eine weitere Überraschung. Zunächst schildert der Mann anders, als ich insgeheim erhofft hatte, seinen Krankenhausaufenthalt fast erwartungsgemäß sehr sachlich. Beinahe beiläufig, ohne irgendwelche Details zu nennen, erwähnte er die Untersuchungen und die sich daran anschließenden Gespräche mit den Ärzten. Auch über seine Freundin, schrieb er nur, dass sie sich bei ihm gemeldet hatte, sie zu seiner Erleichterung nicht auf sein Abtauschen eingegangen war und er froh darüber war, dass sie nicht böse auf ihn war. Diese Aussage stand augenscheinlich im Widerspruch zu seinem Plan und mir drängte sich der Verdacht auf, dass dem Mann tief in sich sein eigener Plan widerstrebte. Er wirkte zerrissen, wie nie zuvor. Seine rationale und in gewisser Weise sogar logische Entscheidung stand heute lesbar im Widerspruch zu seinen Gefühlen. Es war kaum vorstellbar, welchen inneren Kampf der Mann mit sich und seinen Gefühlen ausfechten musste. Doch anstatt näher darauf einzugehen, befasste er sich in seinen nächsten Zeilen sehr ausführlich mit dem Kauf eines neuen Autos. Wieso beschäftigte sich der Mann in seinem Gesundheitszustand mit einer solchen Nebensächlichkeit? Rational gab es dafür nicht die geringste Erklärung. Spätestens seit den beiden Unfällen stellte Autofahren für ihn eine große Gefahr dar. Wozu brauchte er jetzt unbedingt ein neues Auto, zumal er doch noch das kleine Cabrio besaß? Irritiert schloss ich sein Tagebuch.