Der Mann mit dem Hund: Drei W̦lfe РKapitel 7 РDer verbotene Raum

  

   Der Winter war dieses Jahr langsam gestartet, dafür hielt er bis heute alles in seiner eisigen Umklammerung. Es war die zweite Märzwoche. Draußen war es immer noch so kalt, wie normalerweise im Januar und fast jeden zweiten Tag schneite es. Von Frühling war weit und breit keine Spur. Ich hatte am heutigen Morgen, wie schon seit Tagen ein Gefühl, das ich langsam nur zu gut kannte. Je mehr ich über der Geschichte wusste, desto weniger verstand ich sie. Ich hatte das Tagebuch des Mannes und die E-Mails der beiden gelesen, hatte seine Freundin in Mailand kennengelernt und dennoch konnte ich mir vieles nicht erklären. Das Verhalten der beiden passte zu keinem mir bekannten Muster und ergab oft genug nicht den geringsten Sinn. Alles schien sich im Kreis zu drehen. Das einzige, was mir gesichert erschien waren die E-Mails, die Briefe und sein Tagebuch. Außerdem wusste ich immer noch nicht genau, an welcher Art Tumor der Mann litt. Wie vor Wochen war ich nicht bereit seine gesamten Tagebücher der letzten 3, 4 oder gar 5 Jahre zu durchsuchen, um dies herauszufinden. Es musste einen einfacheren Weg geben. Zumal ich davon ausgehen musste, dass er wie heute, schon damals nur wenig oder sehr unspezifisch in seinem Tagebuch darübergeschrieben hatte. Je länger ich über diese entscheidende Frage nachdachte, desto mehr verspürte ich den unwiderstehlichen Drang auf eine schnelle und sichere Weise herausfinden, um welche Art Tumor es sich handelte. Und dafür gab es nur einen Weg. Ich musste in seiner Wohnung nach den dort sicher vorhandenen medizinischen Unterlagen suchen. Es war einer dieser selten gewordenen Augenblicke, in denen mein erstes Leben und damit seine Erfahrungen wieder die Oberhand über mein jetziges Leben gewannen. Für einen Moment verwarf ich diesen Gedanken und widmete mich wieder meinem Kaffee und der Zeitung. Doch der Gedanke kehrte zurück und ließ mich nicht mehr los. Außerdem konnte ich mir so einen Eindruck verschaffen, wie der Mann eingerichtet war. Besonders nachdem er so ausführlich über seine Renovierungsarbeiten im vergangenen Frühjahr geschrieben hatte. Eine Wohnung kann sehr viel über ihren Besitzer verraten, Ich hatte noch Schlagschlüssel, Dietriche, sowie ein paar andere Werkzeuge mit deren Hilfe sich die meisten Türen schnell und lautlos öffnen ließen. Ich wartete bis etwa 11 Uhr und machte mich dann zu der Wohnung des Mannes auf. Dort angekommen vergewisserte ich mich, dass sein Kombi nicht auf seinem Parkplatz stand. Die nachlässig lediglich angelehnte Haustüre erleichterte mir den Zutritt und schnell hatte anschließend die Wohnungstüre geöffnet. Ich war mir sicher, dass er seinen Hund, wie jeden Tag mitgenommen hatte. Auch wenn der Hund eher klein war und freundlich wirkte, er hätte bellen und damit Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Erleichtert, dass sein Hund nicht zu Hause war, betrat ich seinen Flur und wurde freundlich von seiner Katze, die er bei unserer Begegnung kurz erwähnt hatte, begrüßt. Ich streichelte sie kurz und begann mich umzusehen. An seiner Garderobe hingen, für einen Hundehalter typisch, einige Winter – und Regenjacken. Durch den Flur in dem sich neben der Garderobe nur noch ein weißer Schuhschrank befand, ging ich in das Wohnzimmer. Mir fielen die vielen Pflanzen ins Auge. Ein paar Palmen und sehr viele Orchideen. Ungewöhnlich für einen Mann, dachte ich. Sein Wohnzimmer war mit einem großen, grauen Sofa, einem kleineren Glastisch, einer Stehlampe und einem luftig wirkenden Glasregal übersichtlich eingerichtet. In der Mitte des Regals stand ein großen LED-Fernseher. Seitlich davon einige Bücher, etwas Dekokram, einige Fotos seiner Haustiere und 3 Flaschen Whisky. An der Wand zu seinem Esszimmer hing ein großes Foto eines Hundes. Ich war mir nicht hundert Prozent sicher, aber der Hund auf diesem Foto musste sein verstorbener Hund sein. Das Tier auf dem Foto wirkte bei aller Ähnlichkeit zu seinem jetzigen Hund deutlich größer. Ich blickte mich weiter um. Alles war sehr sauber und ungewöhnlich ordentlich. Mehr interessantes gab es in diesem Zimmer nicht und ich ging weiter in das Esszimmer. Sofort fiel mir eine Teppichrolle auf, die noch in der Transportfolie verpackt war. Sie lag etwas abseits am Rand des Zimmers. Auf der Folie hatte sich bereits eine dickere Staubschicht gesammelt, die mich zu dem Schluss kommen ließ, dass die Rolle schon längere Zeit hier liegen musste. Die Renovierungsarbeiten, von denen der Mann in seinem Tagebuch geschrieben hatte, mussten aufgrund seiner Krankheit ins Stocken geraten sein. In der Mitte des Zimmers stand ein großer länglicher Esstisch aus Glas mit drei Stühlen. Erkennbar fehlte der vierte. Links davon stand ein Sideboard mit 2 Pflanzen und noch einem Fernseher darauf. Wozu braucht man, wenn man alleine lebt zwei Fernseher, die mehr oder weniger nebeneinander stehen, ging mir durch den Kopf. Ich öffnete die Türen des Sideboards, in der Hoffnung hier etwas Interessantes finden zu können. Zum Vorschein kamen aber nur Geschirr, Gläser, sein Vorrat an Knabbergebäck und Berge von Süßigkeiten. Auch in den Schubladen konnte ich, außer circa 30 Schachteln Lucky Strike Zigaretten und fünf Schachteln Zigarillos nichts Erwähnenswertes finden. Diese große Menge an Zigaretten wunderte mich. Ich hatte den Mann noch nie rauchen sehen. Der einzige Aschenbecher, den ich im Wohnzimmer gesehen hatte, war absolut sauber und in der Wohnung roch es nicht nach Rauch. Bislang hatte seine Wohnung trotz des vielen Glases und Metalls nicht ungemütlich, oder kalt auf mich gewirkt. Im Gegenteil, sie strahlte eine gewisse Wärme aus. Zurück durch den Flur, vorbei an seiner Küche, gelangte ich ein kleineres Zimmer. Hier standen seine Schreibtische, sein Computer, ein Regal mit Ordnern sowie der fehlende Stuhl aus dem Esszimmer. Mir fiel auf, dass der Teppichboden in diesem Zimmer stark mit bräunlichen Flecken verschmutzt war. Der Zustand des Teppichs und die Größe des Zimmers legten den Schluss nahe, dass die Teppichrolle in seinem Esszimmer für dieses Zimmer vorgesehen war. Da ich auf seinen Computer von meinem PC aus zugreifen konnte, interessierten mich zuerst für diese Ordner. Obwohl sie alle ordentlich beschriftet waren, musste die Aufschrift nicht zwingend mit deren Inhalt übereinstimmen. Nacheinander öffnete ich die Ordner und musste enttäuscht feststellen, dass die Aufschrift mit dem Inhalt übereinstimmte. Danach wandte ich mich den kleinen Metallschränken, die neben seinen Schreibtischen standen zu. Erfahrungsgemäß beinhalten solche Schränke häufig interessante Dinge. Und leider waren sie ebenso häufig verschlossen. Wie auch diese hier. Es dauerte eine Weile, bis ich die Schubladen, ohne Spuren zu hinterlassen geöffnet hatte. In der ersten Schublade fand ich neben einigen Stiften und dem üblichen Kleinkram wie Büroklammern und Klebestreifen, ein leeres Ersatz-Magazin einer Pistole. Ich erkannte sofort, dass es sich um ein Magazin einer SIG Sauer P226 handelte. Eine, für eine Privatperson einigermaßen ungewöhnlich Pistole. Normalerweise benutzen nur Behörden diese Waffe. Sonderbar dachte ich, als ich die Schublade wieder schloss und die zweite, in der sich allerdings auch nichts Interessantes fand, öffnete. Auch in diesem Zimmer hatte ich nichts gefunden, was mir auch nur im Entferntesten weitergeholfen hatte. Somit blieb nur noch das Schlafzimmer übrig. Immerhin der einzige Raum, dessen Türe geschlossen war. Ich öffnete sie und ging hinein. Auf einer Kommode am Fußende des Bettes lagen zwei nicht beschriftete Ordner, die mir sofort ins Auge fielen. Zuerst aber sah ich mich weiter um. Ein Kleiderschrank, der mit seinem Naturholz farblich nicht zum Rest der ansonsten weißen Möbel passte, der in dieser Wohnung fast schon obligatorische Fernseher, ein großes Bett mit zwei Kopfkissen sowie einer dickeren und einer dünneren Decke. Links und rechts neben dem Bett befand sich jeweils ein Nachttisch. Zusätzlich zu der jeweiligen Lampe stand auf dem rechten Nachttisch ein Foto eines Hundes, auf dem linken eines seiner Freundin. Normalerweise wäre ein Foto des Partners nichts Beachtenswertes. Hier war es das aber. Es war einzige Foto einer Person in der ganzen Wohnung. Neben dem linken Nachttisch bemerkte ich einen leereren Putzeimer. Normalerweise steht so ein Eimer immer nur dann neben einem Bett, wenn man erwartet sich in der Nacht übergeben zu müssen. Ich erinnerte mich daran, dass Der Mann über Übelkeit klagte und ich zudem gelesen hatte, dass häufiges Übergeben ein häufiges Symptom bei Kopftumoren ist. Bis auf die Ordner und den Eimer also nichts Ungewöhnliches. Neugierig nahm ich einen der Ordner von der Kommode und öffnete ihn. Endlich hielt ich in Händen, wonach ich gesucht hatte. In diesem Ordner befanden sich medizinische Unterlagen, wie Befunde, CT-Aufnahmen seines Kopfes und anderes. Sie stammten alle aus dem Jahr 2010. Das also hatte der Mann mit, es ist wieder da, gemeint. Er war vor knapp 3 Jahren schon einmal an einem Tumor erkrankt. Ich setzte mich auf den Boden und las die Befunde durch, die ich zum überwiegenden Teil nur rudimentär verstand. Hätte ich bislang Zweifel an den Aussagen des Mannes bezüglich seiner Gesundheit gehabt, wären diese jetzt beseitigt. Es gab zwar in der Vergangenheit hin und wieder Augenblicke, in denen ich mich gefragt hatte, ob die Einträge in seinem Tagebuch der Wahrheit entsprechen konnten. Aber ich konnte nie eine plausible Antwort darauf finden, warum jemand so etwas erfinden sollte. Mit so etwas spielte man nicht. Mittlerweile war seine Katze zu mir gekommen und setzte sich neben mich. Ich fing an nebenbei die Katze zu streicheln, als wollte ich mich bei ihr für das Eindringen in ihr Revier entschuldigen. Für einen Moment fragte ich mich, ob der Einbruch in seine Wohnung, denn nichts Anderes war es, überhaupt zu rechtfertigen war? Ich legte den Ordner, nachdem ich die nach meiner Meinung wichtigsten Dokumente abfotografiert hatte, wieder zurück und sah mir den zweiten an. Er enthielt, wie der erste, medizinische Unterlagen, Kopien von Einverständniserklärungen und neben anderen Dokumenten auch die Rechnung eines Notars, die vom 29.01.2013 datierte. Anders als jene im ersten Ordner, handelte es sich bei diesen Dokumenten um die aktuellen aus den Jahren 2012 und 2103. Im Gegensatz zum ersten Ordner fotografierte ich alle Dokumente und legte den Ordner anschließend wieder zurück auf seinen Platz. Wenn alles, was in den Befunden stand der Wahrheit entsprach und daran gab es allein Aufgrund der Menge der Unterlagen nicht die Spur eines Zweifels, dann mussten hier irgendwo die Medikamente, von denen Mann geschrieben hatte, zu finden sein und der beste Platz dafür wäre ebenfalls im Schlafzimmer. Vorsichtig öffnete ich die oberste Schublade des linken Nachttisches und wurde sofort fündig. Darin befanden sich starke Schmerzmittel und diverse andere Medikamente, mit derer Bezeichnung ich nichts anfangen konnte. Vermutlich handelte es sich bei ihnen um sehr spezielle Präparate. Warum hatte der Mann das alles im Schlafzimmer und nicht zum Beispiel in seinem Arbeitszimmer zwischen den Ordnern mit den Unterlagen für das Finanzamt versteckt? Oder in der Küche? Was, wenn seine Freundin ihn abends besuchte und unerwartet bei ihm übernachten wollte? Er hätte keine Möglichkeit gehabt, diese Ordner rechtzeitig zu verstecken. Ich spielte in Gedanken die verschiedenen Möglichkeiten, die er hatte durch, kam aber nur zu einem vernünftigen und logischen Ergebnis. Er musste sich sicher gewesen sein, dass dies nicht mehr passieren würde und falls doch, musste er es im Ansatz mit schlüssigen Erklärung unterbinden. Immerhin war es der einzige Raum in seiner Wohnung, dessen Türe geschlossen war und offensichtlich auch geschlossen bleiben sollte. Ich verließ das Schlafzimmer, nicht ohne mich zu vergewissert zu haben, dass die Katze ebenfalls das Schlafzimmer verlassen hatte und betrat in sein Bad. Neben seinen Sachen, wie Rasierschaum, standen dort auch ein Shampoo und ein paar andere Haarpflegemittel, von denen ich mir sicher war, dass sie seiner Freundin gehören mussten. Mit seinem 2 Millimeter Stoppelschnitt benötigte der Mann solche Dinge bestimmt nicht. Mein Blick richtete sich als nächstes, auf der Suche nach der Lampe, über die der Mann in seinem Tagebuch so ausführlich geschrieben hatte, an die Decke. Doch da war keine Lampe. Sollte der Mann ausgerechnet die Lampe, die seiner Freundin so wichtig zu sein schien vergessen haben? Das konnte ich mir das nicht vorstellen. Es musste einen anderen Grund dafür geben. Der Badezimmerschrank war, wie bei fast allen Paaren gerecht geteilt. Auf der linken Seite seine Sachen, wie Rasierzeug, auf der rechten Seite ihre Utensilien. Wattepads, ein Gesichtswasser, eine Haarbürste, zwei Cremes und eine Zahnbürste. Allem Anschein nach hatte sie sich darauf eingestellt wenigstens ab und zu bei dem Mann zu übernachten und hatte die notwendigsten Dinge bei ihm deponiert. Ich hatte in meinem Leben und den diversen Beziehungen die Erfahrung gemacht, dass Frauen es ernst mit der Beziehung ist, sobald sie ihre Kosmetika im Bad eines Mannes zurücklassen. Tun sie das auch nach Wochen nicht, ist es für sie zumeist nur eine unbedeutende Affäre. Aber gerade diese Kosmetika fehlten hier. Weder ein Lippenstift, noch Make-Up oder was Frauen sonst für Schönheitsprodukte benötigen befanden in diesem Schrank. Allerdings konnte ich nicht mit Sicherheit beurteilen, ob das etwas zu bedeuten hatte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass seine Freundin zu den Frauen zählte, die mit einem Minimum an Kosmetik auskommt, wie es zum Beispiel bei Maria der Fall war. Ich verließ das Bad und warf einen kurzen Blick in die Küche. Hier war nichts Auffälliges oder Interessantes zu sehen. Inzwischen war über eine Stunde vergangen und ich beschloss seine Wohnung wieder zu verlassen, als ich zuerst die Haustüre sich öffnen hörte und dann Schritte im Treppenhaus vernahm. Sollte der Mann heute früher nach Hause gekommen sein? Die Schritte näherten sich bedrohlich seiner Wohnung, während ich nervös hinter der Wohnungstüre stand. Erleichtert hörte ich, wie sich die Schritte weiter, eine Etage nach oben entfernten. Ich wartete noch etwa 5 Minuten und verließ seine Wohnung, in der Hoffnung keiner seiner Nachbarn hatte mich gesehen.

   Wieder zuhause setzte ich mich mit einer Tasse Kaffee an die Bar in meiner Küche und dachte über das Gesehene nach. Es ging mir näher, als mir lieb war und es dauerte eine Zeit, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Wie wollte ich die Geschichte des Mannes erzählen? Chronologisch, so wie ich sie erlebt habe? Das wäre womöglich die beste Lösung. Allerdings barg sie eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit. Alle Ereignisse, vor allem die Wendungen, mit ihrem für mich teilweise unstrukturierten Ablauf, die sich mehrfach verändernden Emotionen, in eine für einen Leser logische Erzählung zu kleiden war enorm schwierig. Ein anderer Punkt, der mich noch wesentlich mehr beschäftigte war, dass ich abermals Grenzen überschritten hatte, von denen ich beschlossen hatte, sie nie wieder zu überschreiten. Ich versuchte diesen Gedanken zu unterdrücken und wandte mich den Fotos der Unterlagen zu. Das meiste in seinen Befunden hatte ich nicht verstanden. Ich wusste nur, dass der Mann eine Art Tumor in seinem Kopf hatte. Der einfachste Weg herauszufinden, was in den Befunden genau stand und wie lebensbedrohlich ein solches atypisches Falxmeningeom sein konnte, so die medizinische Bezeichnung einem der Dokumente zufolge, war zuerst im Internet nach Informationen darüber zu suchen. Natürlich war mir bewusst, dass ich mir so nur einen groben Überblick verschaffen konnte, der zudem eine hohe Fehlerwahrscheinlichkeit aufweisen würde. Ich ging in mein Wohnzimmer, nahm meinen Laptop und setzte mich auf mein Sofa. Nach vier Stunden Lesens unzähliger medizinischer Fachseiten und diverser Foren, die sich mit diesem Thema beschäftigten und in denen sowohl Betroffene als auch Angehörige Postings verfasst hatten, die mich teils bestürzten, hatte ich eine grobe Vorstellung gewonnen, wie gefährlich diese Art von Tumor war, welche Behandlungsarten es gab und wie hoch die Heilungschancen im Allgemeinen eingeschätzt wurden. Diese Form des Meningeom, fiel unter Klasse II der WHO Tabelle. Das bedeutet, dass es zu den schneller wachsenden und zu sogenannten Rezidiven neigenden, also wiederkehrenden Tumoren gehörte. Zu den Symptomen gehörten diesen Quellen zufolge, neben Kopfschmerzen, Sehstörungen, Übelkeit, Gefühlsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und motorischen Störungen auch epileptische Anfälle und psychische Veränderungen, wie sie auch von etlichen Angehörigen in Foren sehr anschaulich beschrieben wurden. Dazu zählten Teilnahmslosigkeit, ähnlich einer Depression, Rückzug aus dem sozialen Umfeld, ständig wechselnde Launen und anderes. Eine Frau schrieb sogar, dass sie nach 20 Jahren Ehe ihren Mann, seit er krank geworden war, nicht wiedererkannte, so sehr hatte er sich verändert und wie schwer es ihr hin und wieder fiel den richtigen Umgang mit ihm zu finden. Ich unterbrach meine Recherche für ein Glas Bordeaux und eine kleine Zigarre. Eine dringend benötigte Pause. 20 Minuten später setzte ich meine Nachforschungen fort. Ich las ich noch weitere Berichte in Foren, bevor ich mich den möglichen Behandlungsmethoden widmete. Ich fand heraus, dass als Behandlungsmethoden neben einer operativen Entfernung, auch Strahlentherapie, das sogenannte Cyberknife und Chemotherapie in Frage kamen. Zudem fand ich einen einzelnen Hinweis auf neue, noch experimentelle Methode, ohne genau Beschreibung dieser Behandlung. Die meisten Quellen gingen heutigen medizinischen Stand von einer durchschnittlichen Überlebenschance auf 5 Jahre gesehen von 35 – 50 %, die je nach Lage, Aggressivität und anderen bestimmenden Faktoren auch deutlich darunterliegen konnte. Das gelesen erschütterte mich. Bislang waren alle Todesfälle, die mir in meinem Leben begegnet waren, entweder natürliche, dem hohen Alter oder unnatürliche, meist akuter hoher Bleivergiftung geschuldete. Aber mit einer lebensbedrohlichen Krankheit war ich bislang noch nicht direkt konfrontiert worden.

   Ich stellte meinen Laptop auf den Wohnzimmertisch, ließ mich in die Lehen meines Sofas zurückfallen und versuchte diese Menge an Informationen zu verarbeiten, als mir ein Gedanke kam. Konnte es nicht möglich sein, dass der Plan des Mannes zu einem Teil bereits diesen Veränderungen geschuldet sein könnte und doch nicht so überlegt und rücksichtsvoll war, wie ich ursprünglich dachte? Ich war verunsichert. Während ich darüber nachdachte, hatte ich urplötzlich eine für mich untypisch sonderbar sentimentale Idee, deren Ursprung ich mir nicht erklären konnte. Ich verfügte mit meinem Wissen über die Möglichkeit die Geschichte der beiden zu beeinflussen, den Lauf ihres Lebens grundsätzlich verändern zu können. Dazu bräuchte ich nur seiner Freundin sein Tagebuch und die Fotos der Untersuchungsberichte zugänglich zu machen. Da ich alle ihre dafür notwendigen persönlichen Daten hatte, wäre es mir ein leichtes gewesen, ihr diese Informationen zu zuspielen. Zum Beispiel könnte ich sie auszudrucken und ihr anonym per guter alter Post zu schicken oder sie auf einen Webserver laden und ihr den Link via E-Mail zu senden. Natürlich mit einer Absenderadresse, die sie kannte und bei der sie keinerlei Verdacht schöpfen würde, es könnte sich um Werbung oder ähnliches handeln und sie diese E-Mail sofort ungelesen löschen würde. Der Mann, den ich durch das Lesen seiner Tagebücher und E-Mails und dem damit verbundenen tiefen Einblick in seine Gedanken, zu schätzen gelernt hatte zwar eine Entscheidung getroffen, die ich respektieren sollte, dennoch hatte ich aus verschiedenen Gründen begründete Zweifel daran, ob diese Entscheidung wirklich endgültig und vor allem richtig war. Wirklich überzeugt hatten mich seine Motive letztendlich nicht. Nur ihre angegriffene Gesundheit, ihr stressiger Beruf und das ganze sonstige Durcheinander in ihrem Leben waren mir am Ende als Gründe zu wenig. Ich hatte das Gefühl hier fehlte etwas. Etwas Entscheidendes. Vielleicht konnte der Mann es selbst nicht fassen, oder tat sich schwer damit, es in Worte zu kleiden. Die Frage, ob sie ihn betrog, konnte es nicht sein. Diese tauchte zwar immer wieder auf, bislang aber nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Entscheidung. Warum also wollte der Mann auf den Beistand des einen geliebten Menschen verzichten und alles alleine durchstehen? Auch seine Freundin hatte ich, obgleich ihr immer wieder befremdendes Verhalten viele Frage aufwarf, auf die es nach meiner Überzeugung nur eine Antwort geben konnte, in gewisser Weise schätzen gelernt. Diesen fragenden Blick an jenem Abend in der Hotelbar in Mailand, jedes Mal wenn sie auf ihr Handy schaute und wieder nicht die erhoffte Nachricht eingetroffen war, werde ich so schnell nicht vergessen. Tief in mir mochte ich sie beide und wünschte ihnen, dass ihre Geschichte ein glückliches Ende finden würde. Sie hatten es verdient. Auf eine eigenartige Weise wünschte ich mir in diesem Moment, sie könnte alles lesen, was der Mann geschrieben hatte. Wie aber würde seine Freundin auf das Tagebuch reagieren? Würde sie es überhaupt lesen und wenn ja, würde sie dann verstehen, was ihren Freund so sehr beschäftigte, sich ihr dann vieles an seinem ungewöhnlichen Verhalten erklären? Was würde es in ihr auslösen, wenn sie mit diesen Fakten konfrontiert würde? Wäre sie schockiert? Würde den Mann zur Redestellen? Oder würde sie es einfach ignorieren und die Beziehung unter irgendeinem windigen Vorwand beenden damit sie ihr Leben unbeschwert lustig weiterleben konnte? Den Mann und diese Episode ihres Lebens einfach zur Seite drängen und vergessen? Eine Vorstellung mit der ich mir schwer tat. Nicht bei dieser beinahe einzigartigen Vorgeschichte der beiden. Obwohl ihre E-Mails häufig seltsam kühl, fast emotionslos geschäftsmäßig und unpersönlich klangen, ihr Gebaren oft so gar nicht zu dem, dass Frauen in einer Beziehung normalerweise an den Tag legten passte, war ich mir doch sicher, sie würde ihren Freund bis zum Ende begleiten und ihm beistehen. Wie es jeder anständige Mensch tun würde. An diesem Abend in Mailand hatte sie so vieles ausgestrahlt, aber nicht Kälte, Gleichgültigkeit, Gefühllosigkeit oder hartherzigen Egoismus. Überdies wäre so ein Verhalten auch nur schwerlich mit ihrem Helfersyndrom, dass sie behauptet hatte zu haben, in Einklang zu bringen.

   Ich blickte eine Weile aus dem Fenster, bis ich mich fragte, wie ich reagieren würde, wenn ein mir wirklich nahestehender Mensch an einem Tumor erkranken würde. Außer Geraldine gab es niemand mehr in meinem Leben, der mir die letzten Jahre über nahe genug gestanden hätte, um einen Vergleich anstellen zu können. Unabhängig von unseren diversen kleinen Problemen miteinander, war ich mir sicher, dass ich für Geraldine alles tun würde, sollte sie derart erkranken. Wahrscheinlich würde ich solange die ganze Welt verrückt machen, bis ich den besten Arzt für sie gefunden hätte. Sogar mein übergroßes Ego würde ich für Geraldine hintenanstellen und mich nur noch um sie kümmern. Und Geraldine? Wie würde sie reagieren, wenn ich lebensbedrohend krank werden würde? Genauso wie ich. Dessen war ich mir sicher. Trotz aller ihrer Verpflichtungen würde sie einen Weg finden, für mich da zu sein. Obwohl, vor etlichen Jahren litt sie nach einem Einsatz lange unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Kurz darauf verstarb auch noch ihr Vater. Seitdem kam sie mit bestimmten psychischen Belastungen nur sehr schwer klar und konnte manchmal unerwartete Reaktionen an den Tag legen. Reaktionen, die sehr seltsam und mit normalen Maßstäben nicht messbar waren. In gewisser Weise mitunter sogar ähnlich denen der Freundin des Mannes. Mit den Jahren hatte sich das bei Geraldine zwar erheblich gebessert, trotzdem glaubte ich zuweilen, dass sie an manchen Tagen noch immer damit zu kämpfen hat. Außer mir wussten von Geraldines Trauma nur noch eine Handvoll sehr enger Freunde. Ich war mir nicht mal sicher, ob ihre Familie davon wusste. Allerdings hatte der Vergleich zwischen Geraldine und mir einerseits und dem Mann und seiner Freundin anderseits einen großen Haken. Wir waren kein Paar, sondern nur Freunde. Aber sind Freunde nicht Menschen, die für einander da sind? Insofern war es doch vergleichbar. Diese Gedanken führten mich zu der nächsten Frage. Wie würde ich verarbeiten, wenn Geraldine lebensbedrohlich krank wäre. Wahrscheinlich würde ich mit einem meiner Freunde darüber reden. Reden kann ungemein hilfreich sein und ist in der Regel besser, als alles in sich hinein zu fressen. Ich stand auf, holte mir eine neue Schachtel Zigaretten aus der Küche und setzte mich wieder auf mein Sofa. Wenngleich mich etliche gesellschaftliche Normen nicht mehr besonders interessierten, beschäftigte mich dennoch die Frage, wie meine Freunde reagieren würden, wenn ich mich in einer solchen Situation nicht um Geraldine kümmern würde, sondern sie und ihre Erkrankung einfach ignorieren und mein Leben so weiterleben würde, als sei nichts geschehen? Zum Beispiel in Urlaub fahren, ungerührt weiter meinen Hobbies nachgehen oder meine Zeit lieber mit anderen Menschen verbringen würde als bei ihr zu sein. Ich war überzeugt, dass ein derartiges Verhalten weder zu den gesellschaftlich akzeptierten, noch zu den geduldeten Verhaltensmustern gehörte. Nicht nur bei meinen Freunden, sondern generell. Auch das Umfeld der Freundin des Mannes würde dabei, sofern diese Personen von der Erkrankung ihres Freundes Kenntnis hatten, sicher keine Ausnahme bilden. Diese einfache Idee hatte jede Menge schwierige und interessante Fragen zu Tage gefördert. Mit einem aber war ich mir wieder sicher, ich durfte nicht aktiv eingreifen. Es war das Leben des Mannes und grundsätzlich seine Entscheidung. Solange er nicht wollte, dass seine Freundin von seiner Krankheit erfährt oder gar sein Tagebuch lesen durfte, hatte ich das zu respektieren. Wer weiß, was ich damit angerichtet hätte? Welche Lawine ich lostreten würde? Überdies hätte ein solcher Eingriff mein Buch komplett verändert. Ich verwarf diesen Gedanken endgültig, notierte mir aber alles, stand auf, ging zu meiner Stereoanlage, legte Frank Sinatras „All the way“ in meinem CD-Player und holte mir zur Entspannung ein Glas Bowmore Devil‘s Cask III, ein wundervoll torfiger Whisky in Fassstärke.

   Seit der Trennung von Maria hatte sich mein Verhältnis zu Geraldine weitgehend normalisiert. Wir schrieben uns wieder unregelmäßig E-Mails, Geraldine mir ab und zu auch SMS und an manchen Tagen, so wie heute, rief sie mich sogar an. Irgendwie war ich erleichtert, dass sie wieder den Platz in meinem Leben einnahm, von dem mir wichtig war, dass sie ihn innehatte. Meine Freude ihre Stimme zu hören war heute jedoch schnell gedämpft worden. Es war einer dieser Tage, an denen telefonieren mit ihr überaus anstrengend war. Geraldine wirkte eigentümlich abwesend, als würde sie etwas beschäftigen. Auf meine Nachfrage, ob es ihr gut ginge, reagierte sie ungewöhnlich verschlossen und abweisend. Ich wusste, dass Geraldine hin und wieder solche Phasen hatte, schrieb das aber gerne schnell Problemen in der Firma, der allgemeinen weiblichen Launenhaftigkeit, oder dem Stand des Mondes zu.

   Zwei Tage später, mein schlechtes Gewissen hinsichtlich des Einbruchs in die Wohnung des Mannes plagte mich noch immer, machte ich auf dem Rückweg von der Reinging zu der er ich ein paar Jacketts gebracht hatte, eine interessante Entdeckung. Wie immer, wenn ich zu Fuß auf dem Rückweg vom Einkaufszentrum war, nahm ich den Weg, der oberhalb des Park entlang führte, nach Hause. Durch die noch blätterlosen Hecken sah ich den Mann mit dem Hund in Begleitung einer anderen Frau. Ich wunderte mich ein wenig, dass er um diese Zeit, es war kurz nach 11 Uhr vormittags spazieren war. Ich blieb stehen und beobachtete die beiden. Trotz der Entfernung war gut zu erkennen, wie vertraut miteinander die beiden wirkten. Sie schienen sich sehr gut zu kennen. Mein Augenmerk richtete sich auf diese mir unbekannte Frau. Sie war nicht viel kleiner als er, hatte je nach Betrachtung längere hellbraune oder dunkelblonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren und soweit ich das auf die Entfernung beurteilen konnte, eine tolle Figur. Es war auch gut zu erkennen, dass sie sich in dem nassen, durch die Niederschläge der letzten Wochen aufgeweichten und schmutzigen Park sichtlich unwohl fühlte. Augenscheinlich war sie mehr der Typ Frau, vor allem ihrer Kleidung nach zu schließen, der in noblen Bars und teuren Restaurants zuhause war. Auch zu seinem Hund hielt sie, so gut es ihr möglich war Abstand. An diesem Tag war der Mann nicht besonders gut zu Fuß. Er blieb immer wieder stehen und wenn er lief hatte es nach wenigen Metern den Anschein, als würde er schwanken. Wie jemand der Probleme mit dem Gleichgewicht hat, oder zumindest angetrunken ist. In diesen Momenten griff sie stets nach seinem Arm, um ihn zu führen oder zu stützen. Aus der Entfernung machte ihr Verhalten, einen sehr liebevollen und vertrauten Eindruck. Ich fragte mich, wer diese Frau war. Waren sie alte Freunde, oder steckte mehr dahinter. Eines aber war deutlich. Dem Mann ging es an diesem Tag nicht besonders gut und offensichtlich gab er sich keine Mühe, dies vor der Frau zu verbergen. Wusste sie vielleicht, im Gegensatz zu seiner Freundin, was mit ihm los war? Nach etwa der Hälfte des Weges entlang der großen Wiese brachen sie den Spaziergang ab und machten sich auf den Weg in Richtung der Wohnung des Mannes. Ich entschied mich den beiden zu folgen. Vor der Haustüre des Mannes umarmte sie ihn lange, verabschiedete sich und stieg in ein silbergraues Mercedes E-Klasse Coupé. Als ich am späten Nachmittag des nächsten Tags, es war kühl und Nebel war in den letzten Minuten aufgezogen, meine Jacketts aus der Reinigung holte, machte ich dem kleinen Umweg durch die Straße, in der der Mann wohnt. Kurz vor dem Eingang zu seinem Haus stand wieder dieses Mercedes Coupé, in das diese Frau gestern eingestiegen war. Dass die beiden heute wieder gemeinsam spazieren waren, konnte ich mir aufgrund des schlechten Wetters nicht vorstellen. Viel eher war sie zu Besuch bei ihm. Wie lange sie wohl bleiben würde, die ganze Nacht womöglich, überlegte ich, als ich weiter Richtung Reinigung ging. Zuhause angekommen, begann ich mit den Vorbereitungen für mein Abendessen. Während ich Zwiebeln für meinen Salat schälte, beschäftigte mich die Frage, was der Mann in seinem Tagebuch über diese Frau schreiben wird. Bisher hatte er in seinem Tagebuch, außer eher beiläufig die Geburtstage einiger ehemaliger Freundinnen, keine andere Frau als seine Freundin erwähnt. Es gab nichts in seinen Aufzeichnungen der letzten 2 Jahre, dass auf die diese Frau und die Rolle, die sie in seinem Leben zu spielen schien, hindeutete. Das wäre mir beim Lesen seines Tagebuchs mit Sicherheit aufgefallen. Aber an diesem Abend sollte meine Neugier unbefriedigt bleiben. Ich bekam überraschend Besuch von meinem Nachbarn, dem der Bridge-Abend seiner Frau mit deren Freundinnen zu viel geworden war und er schließlich vor der Damenrunde geflohen war. Wir saßen bis tief in die Nacht, tranken Wein, rauchten Zigarren und unterhielten uns angeregt, über die politischen und wirtschaftlichen Geschehnisse in der Welt.

   Der folgende Samstag brachte außer weiterem Regen und der Tatsache, dass ich wieder viel zu lange geschlafen hatte und noch immer nichts über diese Frau wusste, auch den obligatorischen Einkauf für das Wochenende. Da mir die samstags um die Mittagszeit üblicherweise überfüllten Supermärkte ein Gräuel sind, entschied ich mich, erst am Nachmittag einkaufen zu gehen. Zwar ist um diese Zeit ist die Auswahl, vor allem an Gemüse und Salat wesentlich schlechter, aber immer noch besser, als eine halbe Stunde in einer Kassenschlange zubringen zu müssen. Ich hatte mir gerade ein paar Süßigkeiten in den Einkaufswagen geladen, als ich am Ende des Regals die Frau entdeckte, die ich zusammen mit dem Mann im Park gesehen hatte. Sie stand vor dem Regal mit den Chips und wusste offensichtlich nicht, welche sie kaufen sollte. Immer wieder nahm sie eine Tüte aus dem Regal, betrachtete diese und überlegte kurz, um sie dann wieder zurück zu legen. Ich schaute mir die Frau genau an. Sie trug eine ziemlich teure schwarze Winterjacke, einen grauen Kaschmire Rollkragenpullover, dazu schwarze Jeans und ebenfalls nicht preiswert wirkende schwarze Winterschuhe aus Wildleder. Ihre kurzen Fingernägel waren in klassischem rot lackiert und außer einem beachtlich großen Solitär am kleinen Finger der rechten Hand und einer konservativen Perlenkette trug sie keinen sichtbaren Schmuck. Im Gegensatz zu seiner ebenfalls attraktiven Freundin, war diese Frau mehr eine klassische Schönheit. Der Typ Frau, den man nie wieder vergisst, hatte man sie einmal gesehen. Nach einer Weile hatte sie sich für drei verschiedene Sorten entschieden und bog mit ihrem Einkaufswagen um die Ecke, während ich in Richtung Käsetheke abbog. Als ich alles für die kommenden drei, vier Tage benötigte in meinem Wagen hatte, ging ich zur Kasse. An der Kasse nebenan stand diese Frau mit ihren Einkäufen. Wir kamen etwa zeitgleich an die Reihe und ich versuchte so schnell wie möglich meine Sachen einzupacken, um die Chance nicht zu verpassen, ihr folgen zu können. Sie verließ den Supermarkt, bepackt mit zwei Einkaufstüten kurz vor mir. Ich folgte ihr in der einsetzenden Dämmerung über den leeren Marktplatz durch eine kurze Unterführung. Dieser Weg führte direkt zu der Straße in der der Mann wohnte. Obwohl sie einen kleinen Vorsprung hatte, konnte ich gut sehen, dass sie in den Hof des Mannes einbog. Ich blieb auf der anderen Straßenseite stehen und beobachtete, wie sie die Türe mit einem Schlüssel öffnete. Sie hatte also einen Schlüssel. Eine Tatsache, die auf ein sehr enges Verhältnis zwischen den beiden schließen ließ. Enttäuscht von dem Mann, der offensichtlich noch eine andere Beziehung unterhielt, machte ich mich auf den Heimweg. Unterwegs suchte ich nach einer Erklärung, warum er diese bildschöne Frau, die immerhin einen Schlüssel zu seiner Wohnung besaß bislang nie in seinem Tagebuch erwähnt hatte. So vertraut, wie die beiden im Park auf mich gewirkt hatten, sind sich zwei Menschen nicht nach kurzer Zeit. Sie mussten sich schon länger und sehr gut kennen. Selbst wenn ich von dem, bei dem Aussehen dieser Frau eher unwahrscheinlichen Fall ausging, dass sie lediglich eine gute Freundin war, blieb die Frage offen, warum der Mann sie nie erwähnt hatte. Die Sorge seine Freundin könnte per Zufall sein Tagebuch entdecken und Fragen stellen, erschien mir abwegig. Sie hatte keine Ahnung von der Existenz seines Tagebuchs. Zudem waren die Ordner mit seinen Tagebüchern auf seinem Computer verschlüsselt und Passwort geschützt. Nein, es musste einen anderen Grund dafür geben. Nachdem ich gegessen und über die Hälfte des Samstagabends sinnlos vor dem Fernseher verbracht hatte, ging ich an meinem Computer, um seine Aufzeichnungen der letzten Tage zu lesen. Zu meiner Verwunderung handelten sie ausschließlich davon, dass er sich elend gefühlt hatte, was er den Nebenwirkungen seiner Medikamente zu schrieb und dass der Kontakt zu seiner Freundin im Augenblick überaus schlecht war. Er machte sich erneut große Sorgen um sie und ihre Gesundheit. Eingehend schrieb er über seine große Angst, ihr könnte etwas zustoßen und wie wichtig sie ihm nach wie vor sei. Aber er schrieb kein Wort über diese andere Frau. Wie konnte das sein? Mir ging nicht in den Kopf, dass er eine solche Traumfrau in seinem Tagebuch unterschlug. Zumal diese Frau sogar einen Schlüssel zu seiner Wohnung besaß. Wer also war diese Frau? Eine Verwandte erschien mir unwahrscheinlich, dazu wirkten sie viel zu vertraut. Aus dem gleichen Grund schied eine neue Freundin ebenfalls aus. Am ehesten vielleicht eine ehemalige Freundin zu der er die Beziehung wiederaufgenommen hatte. Oder zumindest eine zu der er nach wie vor eine ganz besondere, vertrauensvolle Beziehung unterhielt. Der er sogar seine Krankheit nicht verheimlichte. Aber das alles war keine Erklärung dafür, warum er sie niemals in seinem Tagebuch erwähnte. Selbst wenn ich ihren Namen herausfinden würde, was mit Hilfe des Autokennzeichens irgendwie möglich sein sollte, brächte mich das keinen Schritt weiter, solange der Mann sie und die Art ihrer Beziehung nicht in seinem Tagebuch erwähnte. Dann hätte ich zwar einen Namen, aber keinen Hintergrund. Müde und ein wenig resigniert über den ergebnislosen Verlauf des Abends ging ich zu Bett.

   Am Sonntagmorgen weckten mich zwei Kater, die in meinem Garten lautstark ihren Revierkampf austrugen. Ich schaute auf meine Uhr, es war kurz nach acht. Eigentlich zu früh, um an einem Sonntag aufzustehen. Da das Gezanke in meinem Garten aber weiterging und ich bei diesem Lärm nicht wieder einschlafen konnte, entschloss ich mich doch aufzustehen. Nach zwei durchgängig bewölkten und häufig regnerischen Wochen blickte an diesem Morgen endlich wieder die Sonne durch die Wolken. Wie jeden Morgen führte mich mein Weg zuerst in die Küche, Kaffee kochen. Während der Kaffee durchlief, ich war immer noch ein Freund von Filterkaffee und konnte diesen neumodischen Tab-Maschinen nicht sonderlich viel abgewinnen, fing ich wieder an, über den Mann und diese mir unbekannte Frau nachzudenken. Wenn die beiden doch eine Beziehung, oder zumindest eine Affäre hatten, müsste ihr Auto jetzt noch bei ihm stehen. Affären leben unter anderem von der maximalen Ausnutzung ihrer knapp bemessenen Zeit. Und die Zeit bis zum frühen Sonntagmorgen war eine dieser maximalen Ausnutzungen. Eilig trank ich meinen Kaffee, zog mich an und machte mich auf den Weg zu dem Haus des Mannes. Ihr Auto stand immer noch auf demselben Platz, wie am Samstagnachmittag. Also doch. Sie war über Nacht geblieben. Der Mann, von dem ich bislang eine so hohe Meinung hatte und der mich bislang fast ausschließlich beeindruckt hatte, betrog seine Freundin. Das Auto dieser Frau war der zwingende Beweis. Meine Enttäuschung über den Mann war groß, als ich mich wieder auf den Heimweg machte und bemerkte, dass sein Cabrio nicht an der gewohnten Stelle stand. Normalerweise parkte es immer an der gleichen Stelle und gestern stand es definitiv noch da. Wie konnte es sein, dass so früh am Sonntagmorgen dieses Auto fort war, während das Auto dieser Frau und sein Kombi noch an ihren Plätzen standen. Waren die beiden frühmorgens, den ersten sonnigen Sonntag dieses Frühlings ausnutzend zu einem Ausflug aufgebrochen? Plötzlich hörte ich, wie sie eine Türe öffnete. Ich blickte über meine Schulter und sah aus dem Augenwinkel, wie der Mann mit seinem Hund sein Haus verließ. Er ging, wie an jedem Morgen in Richtung des alten Parks. Alles schien seinem üblichen Ablauf zu folgen. Vielleicht lag diese Frau noch in seinem Bett und schlief, während er mit seinem Hund spazieren ging. Doch wo war das Cabrio dann?

   Wieder zuhause duschte ich als erstes, bevor ich mich mit einer weiteren Tasse Kaffee an meinen Schreibtisch setzte. Um absolut sicher zu gehen, dass ich nichts übersehen hatte, ging ich nochmals meine Notizen durch. Aber ich hatte nichts übersehen. Es gab nicht den kleinsten Hinweis auf diese Frau. Nirgendwo. Über eine so hübsche Frau würde doch jeder normale Mann, vorausgesetzt er führte ein Tagebuch, schreiben, als mir plötzlich wieder einfiel, dass der Mann im Anschluss an seine Untersuchung im Februar geschrieben hatte, das im aufgrund seiner neuen Medikamente Sex unmöglich geworden war. Eine Affäre mit dieser Frau schied damit fast aus. Den restlichen Sonntagvormittag verbrachte ich mit diversen Hausarbeiten, die ich sonst gerne liegen ließ. Gegen 14 Uhr legte ich mich auf mein Sofa, um die mir fehlende Stunde Schlaf nachzuholen. Kurz nach dem ich eingeschlafen war, wurde ich unsanft von meinem Handy, das piepend von einer neu eingetroffenen SMS kündete wieder geweckt. Es war eine Nachricht von Geraldine. Sie erkundigte sich nach meinem Befinden. Diese unaufgeforderten Nachfragen nach meinem Wohlergehen gingen mir generell auf die Nerven. Nach meiner Meinung steckt dahinter überwiegend nicht das wahrhafte Interesse an der befragten Person, sondern eine Mischung aus Langeweile und dem modernen Drang zur andauernden, nichtssagenden Kommunikation. Geraldine war der einzige Mensch, bei dem ich das duldete, mich manchmal darüber sogar fast freute. Seit meiner Rückkehr aus Jerez war der eigentümliche Zustand eingetreten, dass sobald ich mich länger nicht bei ihr meldete, sie mir derartige SMS schickte. Ich legte mein Handy wieder zurück, drehte mich um und widmete mich meinem wohlverdienten Mittagsschlaf. Geraldine kannte mich lange und gut genug, um zu wissen, dass ich mich bei ihr melden würde, wenn ich, aus welchem Grund auch immer, das Bedürfnis hatte, mit ihr reden zu wollen. So wie ich das immer getan hatte.

   Als ich wieder aufwachte dämmerte es bereits und mein Magen knurrte bedenklich. Nachdem ich gegessen hatte, überbrückte ich den Abend bis zur jener Zeit, zu der der Mann üblicherweise sein Tagebuch schrieb, mit fernsehen. Gegen 23 Uhr ging ich in mein Arbeitszimmer, um nachzusehen, was der Mann geschrieben hatte. Ob diese Frau, die keine unwichtige Rolle zu spielen schien, heute, nach dem sie vermutlich über Nacht bei ihm war, in seinem Tagebuch Berücksichtigung fand. Die unbekannte Frau fand aber, wie zuvor, keine Erwähnung. Dafür ich las im Tagebuch des Mannes, dass er seiner Freundin am frühen Abend, mehr oder weniger unkommentiert, den Link zu einem Video von „Waltzing Matilda“ per E-Mail gesendet hat. Auf die Motive, warum er ihr ausgerechnet dieses Lied schickte, ging er indes nicht ein. Ich las die E-Mail, in der Hoffnung, sie würde mir etwas Klarheit verschaffen, was sie nicht tat. „Waltzing Matilda“ ist ein altes australisches Volkslied und gleichzeitig die zweite, heimliche Nationalhymne Australiens, dass er ihr in einer Fassung von Rod Stewart gesendet hatte. Eine Version dieses Liedes, die ich bislang nicht kannte. Nach dem ich mir das Lied angehört und genau auf den Text geachtet hatte, begann ich mich zu fragen, was er ihr mit diesem Lied sagen wollte. In dieser Version wollte es keinen Sinn geben. Vielleicht aber meinte der Mann die ursprüngliche Fassung und fand nur kein passendes Video? Aber auch der ursprüngliche Text gab hier keinen Sinn. Das Lied musste mit etwas anderem in Zusammenhang stehen. Die prominenteste Stelle, an der dieses Lied, außer dass es bei der Olympiade 1976 als Nationalhymne Australiens gespielt worden war auftritt, ist in Stanley Kramers Film „Das letzte Ufer“. War das Lied als Hinweis auf diesen Film zu verstehen, konnte es einen Sinn ergeben. Kramer beschäftigte sich in diesem Film nicht nur mit den Folgen eines Atomkrieges, sondern vor allem mit der Frage, was Menschen im Angesicht des bevorstehenden Todes tun und warum sie so handeln. Hatte der Mann dieses Lied als Hinweis auf den Film benutzt, war es für seine Freundin ein weiteres, nahezu unlösbares Rätsel. Noch wesentlich schwieriger, als der Hinweis mit „Casablanca“ und „Harry und Sally“ an Neujahr. In der Kette seiner diffusen Hinweise, die er ihr bislang gegeben hatte, wäre das der Deutlichste, aber auch mit Abstand der am schwersten zu entschlüsselnde. Sollte ich mit meiner Vermutung Recht behalten, war es einer der am intelligentesten versteckten Hinweise auf eine Tatsache, die ich je gesehen hatte. Gleichzeitig förderte dieser Hinweis aber auch wieder das Dilemma des Mannes zu Tage. Das Unaussprechliche auszusprechen, ohne es mit einem Wort zu sagen.

   Ich saß noch eine Weile vor meinem Computer und überlegte, ob seine Freundin überhaupt in der Lage sein konnte diesen Hinweis zu verstehen. Immerhin, ich hatte den Verdacht, dass es nicht um das Lied als solches ging, sondern es ein Hinweis auf etwas anders sein musste. Aber ich war nicht emotional involviert, hatte einen klaren Kopf. Anders als seine Freundin vermutlich. Ungefähr 30 Minuten nach seiner E-Mail war ihre Antwort eingetroffen. Lapidar bemerkte sie, dass sie noch „Black Swan“, einen Film der gerade im Fernsehen lief zu Ende schauen wollte und sich das Lied erst am nächsten Morgen anhören werde. Diese Art Antwort ließ wenig Raum für Interpretation und reihte sich nahtlos in ihr zeitweise mehr als ungewöhnliches Verhalten ein. Eines aber stand außer Frage, hatte seine Freundin jemals einen Fehler begangen, dann war er in diesem Augenblick passiert. Gleichzeitig machte dieses Ereignis etwas Anderes sehr deutlich. Was immer den Mann mit dieser unbekannten Frau verband, ob sie nur sehr gute Freunde waren, oder doch mehr, alle seine Gedanken galten seiner Freundin. Weshalb er aber begonnen hatte seine Entscheidung von Anfang Februar zu revidieren, blieb mir verborgen. Ich schaltete meinen Computer ab und ging in mein Wohnzimmer. Konnte der Mann dieses Lied wirklich als Hinweis auf diesen Film gemeint haben? Ich kannte den Film zwar, meine Erinnerung an ihn war jedoch nicht mehr besonders gut. Um sicher zu gehen, dass ich mich, was die Handlung und Aussage des Filmes anbelangte nicht irrte, schaute ich mir diesen Film noch einmal an. Video on Demand ist in einem solchen Fall eine der besten Errungenschaft moderner Unterhaltungselektronik. Nach dem ich den Film gesehen hatte, fühlte ich mich in meiner Annahme nicht nur bestätigt. Ich war mir sicher. Warum aber hatte er diesen Film gewählt? Es gab mit Sicherheit genug Filme, die sich direkter mit diesem Thema auseinandersetzten. Sweet November, als Beispiel, wie Hollywood mit diesem Thema umging, oder sehr viel direkter, fast schon brutal „Die Zeit, die bleibt“, eine französische Produktion. Die einzige halbwegs einleuchtende Erklärung die mir einfiel war, dass der Mann versuchen wollte seine Freundin langsam an dieses heikle Thema heranzuführen. Er ihr die notwendige Zeit geben wollte darüber nachzudenken und sie anschließend die Möglichkeit hat, die richtigen Fragen zu stellen. Allerdings stand diese Überlegung in direktem Widerspruch zu seinem Plan, den er Anfang Februar gefasst hatte. Die einzige logische Schlussfolgerung war, dass der Mann zwischen seinen Gefühlen für seine Freundin und der aus seiner Sicht vernünftigen Entscheidung, für sie nur das Beste zu wollen hin und her gerissen war. Müde geworden vom Nachdenken über diese undurchsichtige Situation, ging ich zu Bett. Üblicherweise gehörte ich zu den Menschen, die sich in ihr Bett legten und sofort einschliefen. Aber nicht an diesem Abend. Es war nicht der hilflose Versuch des Mannes, seiner Freundin elementares mitzuteilen, es war ihre kalte Antwort, die mich nicht einschlafen ließ. Für einen kurzen Augenblick spielte ich wieder mit dem Gedanken, ob es nicht doch eine Option darstellte, die den beiden helfen würde, seiner Freundin wenigstens seine Tagebücher zukommen zu lassen. Aber ihre abweisende Antwort bestärkte mich darin wieder Abstand davon zunehmen.

   Neugierig, ob sich etwas Neues zugetragen hatte, ging ich am nächsten Morgen unmittelbar nach dem Aufstehen an meinen Computer. Im seinem Tagebuch fand ich einen Nachtrag, der mitten in der Nacht hinzugefügt worden war. Darin war nicht mehr, wie die Monate zuvor von den Zweifeln an ihrer Treue die Rede, sondern in erschreckender Form von ihrer Gleichgültigkeit. Fasste man seinen zugegeben kompliziert gedachten Versuch ihr zu sagen, was mit ihm los war und ihre Antwort in klare Worte zusammen, so musste folgendes dabei herauskommen. Liebling, ich bin krank. Ich habe wahrscheinlich nicht mehr lange Zeit. Nicht jetzt. Ich will den Film zu Ende sehen. Oder um es in einem Satz auszudrücken, selbst Fernsehen war ihr wichtiger, als der Mann. Um mich zu vergewissern, ob seine Freundin, wie sie es versprochen hatte, sich wenigstens am nächsten Morgen das Video anzusehen, öffnete ich sein E-Mail-Postfach. Die E-Mail, die sie ihm an diesem Morgen relativ spät erst nach 9:30 geschrieben hatte, passte perfekt in das Bild des vergangenen Abends. Sie fragte ihn knapp, wie sie das Lied verstehen soll. Seine Antwort war sichtbar von großer Enttäuschung geprägt. In kurzen Worten schrieb er, sie sollte es als Gute Nacht Lied verstehen. Ihren Fokus auf die letzte Zeile in dieser Version des Liedes legen: and good night Matilda to you. Eine Erklärung, mit der sie sich mit den Worten „Na dann“ zufriedengab. Diese Reaktion war nicht nur eigentümlich gleichgültig, wie viele anderer ihr E-Mails seit September. sie war eiskalt. Wahrscheinlich hatte sie gestern Abend diesen Film, wenn er überhaupt im Fernsehen gelaufen war, gar nicht angeschaut, sondern ganz andere Dinge getan. Um sicherzugehen, dass dieser Film gestern Abend tatsächlich im Fernsehen gezeigt wurde, überprüfte ich das Fernsehprogramm in der Samstagsausgabe meiner Tageszeitung. Tatsächlich wurde dieser Film am Sonntag um 20:15 ausgestrahlt. Das bedeute aber nicht, dass er nicht nur im Hintergrund vor sich hin flimmerte während sie anderweitig beschäftigt war.

   Abends wartete ich gespannt auf den neuen Eintrag in seinem Tagebuch. Ich ging davon aus, dass der Mann seiner Enttäuschung und mit dieser verbunden sicherlich auch großem Ärger über ihr Verhalten Luft machen würde. Ich sollte mich täuschen. Der Mann schrieb davon, dass sein Versuch gescheitert sei und suchte den Fehler bei sich. Zu kompliziert, zu anspruchsvoll sei er gewesen. Anders, als noch gestern Nacht, nicht der kleinste Vorwurf an sie. Nicht einmal bezüglich ihrer E-Mail vom Morgen. Er nahm sie sogar in Schutz, weil sie das von ihm Erwartete nicht zu leisten vermochte. Jemand sagte einmal, lieben heißt niemals um Verzeihung bitten zu müssen. Bis heute war ich der Ansicht, dass diese Aussage jeglicher realen Grundlage entbehrte und wenn dieser Satz zitiert wurde, er nie mehr war, als eine unanfechtbare Universalentschuldigung. Ein Freifahrtschein für jedwede Form von unangebrachtem Verhalten. Eine Ansicht, die ich heute, wenigsten im Fall des Mannes, etwas korrigieren musste. Trotz dieser, im Fall des Mannes genau genommen nicht überraschenden Erkenntnis, fehlte auch in diesem Eintrag nach meinem Dafürhalten das wichtigste. Was hatte den Mann gestern dazu bewogen, seiner Freundin mit diesem Lied doch einen Hinweis zu geben?

   Interessante Tage waren vergangen, in denen ich auf grausame Weise davon überzeugt worden war, dass der Inhalt seines Tagebuches der Realität entsprach. Andere wichtige Fragen, wie die bezüglich ihrer Treue, beziehungsweise, ob der Mann seiner Freundin wirklich so wichtig war, wie es in einer Beziehung sein sollte, sowie die Ursache für ihr häufig höchst befremdendes Verhalten, standen jedoch nach wie vor ungelöst im Raum. Gleichzeitig war diese unbekannte Frau aufgetaucht, deren Rolle im Leben des Mannes mir bislang schleierhaft geblieben war. Auch seine Entscheidung, seiner Freundin, unabhängig von ihrem höchstfragwürdigen Verhalten, nichts von seiner Krankheit zu erzählen bereitete mir Kopfzerbrechen. Punktuell und abhängig von den Ereignissen des jeweiligen Tages konnte ich sie durchaus nachvollziehen, nicht aber in ihrem grundsätzlichen Tenor. Für seinen Partner stets das Beste zu wollen sollte in einer normalen Beziehung selbstverständlich sein. Diese aber hinterließ bei mit spätestens seit Ende September wiederholt den Eindruck eine Einbahnstraße zu sein. Gerade in dieser Phase seines Lebens sollte das Augenmerk des Mannes in erster Linie sich selbst und nicht ausschließlich dem Wohl seiner Freundin gelten. Ich hatte in den vergangenen Tagen immer wieder, wenn ich den Kopf dafür frei hatte im Internet Berichte gelesen und diverse Foren, die sich mit Hirntumoren beschäftigten durchstöbert. Fast ausnahmslos war überall eines zu lesen. Wie überragend wichtig für den Patienten der Kontakt mit nahestehenden Personen war. Vollkommen unabhängig davon, ob der Patient, wie es hin und wieder zu lesen war, sich abweisend und sich selbst isolierend verhielt oder ob er weiterhin eine weitgehend normale Beziehung zu seiner Umwelt pflegte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Mann hier eine Ausnahme darstellte. Dass es nicht tief in seinem Innersten sein größter Wunsch war, diesen Weg zusammen mit seiner Freundin zu gehen.