Der Mann mit dem Hund: Drei Wölfe – Kapitel 9 – Im Jahr des Tigers

  

    Seit Montag war der Mann im Krankenhaus. Wie schon zuvor gab es während dieser Tage weder Aufzeichnungen in seinem Tagebuch, noch E-Mails an seine Freundin. Nach seinem Ignorieren des Jahrestags, das wider Erwarten die Beziehung noch nicht beendet hatte, sollte dieses Abtauchen, wie seine Freundin es in der Vergangenheit ab und zu nannte, wenn er etliche Tage verschwunden war, seinem Plan zufolge zum finalen Bruch führen. Der Mann schrieb am Vorabend seiner Abreise, dass er sich sicher war, diese kommende Pause wird sie endgültig zu dieser Entscheidung zwingen. Er wusste nur zu gut, wie sehr sie dieses wortlose Verschwinden hasste. Ich erinnerte mich an einige E-Mails aus dem Frühsommer 2012, in denen sie dem Mann, teils in fast schon unfreundlichen Ton, sein unangekündigtes Verschwinden, vorgeworfen hatte.

   Geraldine war seit ihrer Rückkehr von ihrem für mich nach wie vor ungewöhnlichen Verschwinden verändert. Statt wie zuvor nur zwei, dreimal die Woche, schrieb sie mir jetzt täglich mehrfach E-Mails und erkundigte sich fortlaufend nach meinem Buch, dem Garten und im generellen nach mir. Es dauerte ein paar Tage, bis mich diese, für Geraldine ungewöhnliche Neugier stutzig machte. Bis vor 4 Jahren war das meist ein Zeichen dafür, dass Geraldine wieder in romantisch sentimentalen Gefühlen schwelgte und sich mit dem Gedanken trug, einen neuen Anlauf zum Thema Beziehung vorzubereiten. Dies hatte sich aber geändert, nachdem sie im Anschluss an ihren letzten Einsatz eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten hatte, bei dem, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, sehr viel schiefgelaufen war und einer ihrer Kollegen den Tod fand. Schrieb Geraldine täglich mehrfach, beschäftigte sie ein Problem über das sie nicht, oder noch nicht reden konnte. Für mich waren ihre täglichen E-Mails ein unwiderlegbarer Beleg, dass sich während ihrer Abwesenheit etwas ereignet hatte, dass Geraldine belasten musste. Gerade als ich meine beinahe stets gleichlautende Antwort tippte, klingelte mein Telefon. Der Sattler. Mein Dodge war fertig und konnte abgeholt werden. Umgehend beendete ich die E-Mail an Geraldine und rief voller Vorfreude ein Taxi. Zurück Zuhause stellte ich den Dodge neben den Mustang und betrachtete die beiden voller Stolz. Jetzt fehlte mir noch ein 63er Corvette Coupé, das einzige Modelljahr mit dem sogenannten Split-Window und ein 69er Plymouth Road Runner 426. Stolz und zufrieden mit meiner kleinen Autosammlung verließ ich die Garage Richtung Garten. Unterwegs erinnerte ich mich schmunzelnd an die erste und einzige Fahrt Geraldines mit dem Mustang. Wir waren damals essen gegangen und Geraldine wollte unbedingt fahren. Als wir auf dem Parkplatz des Restaurants angekommen waren, schimpfte sie, dass der Mustang kein Auto, sondern ein unfahrbares Biest sei. Seit diesem Tag mochte sie dieses Auto nicht mehr.

   Drei Tage später war der Mann wieder zuhause. Fast eine Woche war vergangen, seit er sich das letzte Mal bei seiner Freundin gemeldet hatte. Über seinen Krankenhausaufenthalt notierte er in knappen Worten in seinem Tagebuch, das sich die Prognose weiter verschlechtert hatte, was ihn in seiner Entscheidung bestärkt hatte. An diesem Abend schrieb er seiner Freundin wieder die übliche Gute Nacht E-Mail, so als sei nichts gewesen. Ich war ein wenig enttäuscht darüber, dass der Mann weder auf seinen Krankenhausaufenthalt, noch auf seine Motivation, seiner Freundin nach Tagen wieder zu schreiben, ausführlicher eingegangen war. Am nächsten Morgen überprüfte ich, ob der Mann eine Antwort von seiner Freundin erhalten hatte, was nicht der Fall war. Ungeachtet des Ausbleibens ihrer Antwort hatte er ihr morgens erneut geschrieben, sich nach ihrem Befinden erkundigt und ihr einen schönen Tag gewünscht. Die nächsten Tage wiederholte sich dieser Ablauf. Der Mann schrieb ihr jeweils, wie gewohnt morgens und abends eine E-Mail, ohne dabei eine Antwort von ihr zu erhalten. Am Abend des vierten Tags dieses Trauerspieles notierte der Mann lapidar und ohne weitere Begründung in seinem Tagebuch, dass jetzt der Punkt erreicht sei, sich nicht mehr bei ihr zu melden. War dies nun das Ende? Verlief diese Beziehung einfach so, stillschweigend im Sand, fragte ich mich, als ich mein Arbeitszimmer Richtung Wohnzimmer verließ um den Abend mit etwas Musik und einem Glas Rotwein ausklingen zu lassen. Die beiden nächsten Tage brachten nichts nennenswert Neues, außer dass sich der Mann mit der Frage auseinandersetzte, ob dieses Schweigen, wie im Frühjahr 2012 lediglich vorübergehend war, oder es ein eindeutiges Zeichen für das Ende war. Diese Zweifel waren es wohl, die ihn veranlassten ihr am nächsten Tag doch wieder zu schreiben. Im Gegensatz zu den vorangegangen E-Mails war diese im Ton deutlich provokanter und bewirkte eine Antwort seiner Freundin. In dieser schrieb sie knapp, dass sie eine furchtbare Woche gehabt hatte und unter schwerem Burnout litt. Eine Thematik, die mir nicht ganz unbekannt war. Einige meiner früheren Kollegen, speziell jene, die mit der Echtzeitanalyse beschäftigt waren und unter dauerndem Stress standen, oder andere, die generell nicht Abschalten konnten und die Probleme der Arbeit im Kopf mit nach Hause nahmen, hatten damit zu kämpfen. In ein paar Fällen ging es sogar soweit, dass der Kollege die Firma verlassen musste und vorübergehend arbeitsunfähig wurde. Leider zog das fast immer weitere Probleme im privaten Bereich nach sich und nicht wenige der Beziehungen oder Ehen gingen in der Folge zu Bruch. Der Mann hatte in der Vergangenheit zwar oft über ihre gesundheitlichen Probleme geschrieben, auch über Stress und Leistungsdruck, dem sie ausgesetzt war, aber ganz so ernst wie er, hatte ich das nie genommen. Welche leitende Position ist heute schon stressfrei und Burnout zu haben gehört heute in diesen Positionen fast schon zum guten Ton. Natürlich kannte der Mann sie deutlich besser als ich, kannte weitestgehend ihre Lebensgeschichte und konnte die Situation erheblich besser einschätzen als ich. Dennoch hatte ich meine Zweifel. Ich hatte an dem Abend in Mailand von seiner Freundin nicht den Eindruck gewonnen, dass ihr ohne Frage aufreibender Job, sie an die Grenzen ihrer psychischen Belastungsfähigkeit brachte. Sie hatte an diesem Abend trotz des Messestresses einen weitgehend fröhlichen und ausgeglichenen Eindruck auf mich gemacht. Rückblickend betrachtet wirkte sie eher so, als würde sie diesen Stress zum Leben brauchen und ihn genießen. War es nicht viel wahrscheinlicher, dass dieses angebliche Burnout mehr ein Erschöpfungszustand ganz anderer, mehr physischer als psychischer Art war? Auch das würde in das generelle Bild der letzten Monate passen. Ich stand auf und ging in meinem Arbeitszimmer auf und ab. Soweit mich meine rudimentären Psychologiekenntnisse nicht im Stich ließen, waren sich ein Burnout und eine posttraumatisches Belastungsstörung in ihren Symptomen zumindest oberflächlich betrachtet teilweise ähnlich. Demzufolge müsste es seiner Freundin heute in etwa so gehen, wie Geraldine damals. Dafür gab es zwar einige, letztlich aber zu wenige und zu undeutliche Hinweise. Außerdem konnte ich nicht beurteilen, wie glaubwürdig ihre Aussagen in ihren E-Mails tatsächlich waren. Genauso gut konnte alles erfunden sein. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie sich Geraldines Verhalten damals verändert hatte. Sie hatte sich fast vollständig von der Außenwelt abgekapselt, war kaum noch zugänglich und schlief so gut wie gar nicht mehr. Gleichzeitig war sie extrem reizbar, freudlos und emotional komplett abgestumpft. Sie hatte mit der Geraldine, die ich bis dahin kannte, überhaupt nichts mehr gemeinsam. Sie war ein vollkommen anderer, mir fremder Mensch geworden. Wie andere ihrer engsten Freunde, hatte ich damals versucht Geraldine davon zu überzeugen, ärztlicher Hilfe in Anspruch zu nehmen, was sie stets, teils sehr erbost, mit dem Hinweis, dass es ihr gut ginge und wir sie in Ruhe lassen sollten, vehement ablehnte. Schließlich war es Direktor Parker, der sie mehr oder weniger dazu zwang, indem er sie vor die Wahl stellte, entweder unbefristet beurlaubt zu werden, oder endlich zum Arzt zu gehen. Bis heute gibt es kurze Phasen, die Geraldine gekonnt zu überspielen weiß, in welchen ich überzeugt bin, dass sie noch immer, wenn auch nur in sehr geringerem Maß, unter sogenannten Flashbacks leidet. War eine Beziehung mit ihr schon vorher, aus den verschiedensten Gründen, nahezu unmöglich, war es seitdem, würde es das Wort geben, unmöglicher geworden. Jedenfalls aus meiner Sicht. Pflegeleichte und unkomplizierte Frauen, die keine Probleme bereiteten, um die ich mich kümmern müsste, waren mir lieber. Dementsprechend hatte ich nach meiner Ansicht einen halbwegs brauchbaren Maßstab für das Verhalten seiner Freundin und damit erhebliche Zweifel an dieser Aussage. In meine Augen war der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass sie dem Mann von einem Burnout erzählte, in Wahrheit jedoch jeden Abend mit ihrem Freund beschäftigt war. Im Folgenden eskalierte die Situation weiter, nicht zuletzt auf Grund der fortgesetzten Provokationen des Mannes. Mehrere ausnehmend unfreundliche E-Mails, geprägt von gegenseitigen Schuldzuweisen, wie sie bei normalen Trennungen üblich waren, gingen 3 Tage hin und her. Jemand der, wie seine Freundin den wahren Hintergrund für das Verhalten des Mannes nicht kannte, musste zwingend zu dem Schluss kommen, es sei eine normale Trennung. In seinem Tagebuch beschrieb der Mann mir unverständlich sachlich, fast distanziert, die Entwicklung ihres Streits. Immer wieder hatte ich den Eindruck, dass er den ganzen Ablauf, soweit dies möglich war, vorhergesehen hatte. Er schien die Persönlichkeitsstruktur seiner Freundin und daraus resultierend ihre Reaktion halbwegs exakt vorhersagen zu können.

   Den Schlussakkord fand dieser Streit am Samstagabend mit einer E-Mail, die so spät von dem Mann gesendet wurde, dass seine Freundin sie kurz vor dem Zubettgehen erhielt. Ein berechnend böse gewählter Zeitpunkt. Generell war diese E-Mail nicht unfreundlich, oder gar bösartig, sie war lediglich sehr deutlich. An deren Ende schrieb er, in schönen Worten formuliert, die im Klartext bedeuteten, dass er sie nie wieder in seinem Leben sehen will. Sein Tagebucheintrag gab Aufschluss über seine Gedanken. Er war überzeugt, dass sich seine Freundin nach dieser E-Mail nicht mehr bei ihm melden würde und hoffte in ihrem Interesse, dass sie diese, nach seiner Auffassung, für sie vollkommen unbedeutende Episode ihres Lebens schnell vergessen und keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden würde. Es für sie nichts weiter war, als eine unglücklich verlaufene Affäre, die am Ende nichts zu bedeuten hatte. Fast nach einer Schutzbehauptung klang, dass er nach langem Hin und Her sicher sei, sie liebte ihn Wahrheit nicht so, wie sie, wenn auch selten, gesagt hatte. Der tragende Beweggrund sei aber, führte im Weiteren aus, dass er sich nach langer Überlegung sicher war, dass sie aufgrund ihrer Lebensgeschichte und Lebensumstände die falsche Partnerin für das sei, was auf sie zu gekommen wäre. Sie die Belastung, die mit einem solchermaßen kranken Freund verbunden war, nach seiner Ansicht nicht überstehen würde. Er war überzeugt, dass sie einen Partner benötigte, der nur für sie da sei. Keine Ansprüche an sie stellte, sondern wann immer sie Ruhe brauchte, ihr diese ließ, ihr aber dennoch den Halt und die Sicherheit einer Beziehung gab. Der nichts Anderes tat, als für sie dazu sein, wenn sie ihn benötigte. Ein Mann, der sie nicht mit seinen Sorgen belästigte, sondern ihr alle ihre Wünsche von den Augen ablesen konnte und diese dann sofort erfüllte. Obwohl sie seine große Liebe war, gab es in seinen Augen keine andere Chance, als ihr die Möglichkeit ihn auf seinem Weg zu begleiten, endgültig zu versperren. Eine durchaus fragwürdige, sehr abstrahierte Ansicht, aber am Ende ein Vorgehen, das mir mein Klassenkamerad vor etlichen Wochen als durchaus denkbares Szenario bestätigt hatte. So überzeugend der Mann seine Motive auch dargelegt hatte, es blieb für mich eine Frage offen, die ich bis zum heutigen Tag nie wirklich beantworten konnte. Was für eine Art Beziehung hatten die beiden gehabt? Alles, was normalerweise in einer Beziehung wichtig war, schien hauptsächlich für sie überhaupt keine Rolle zu spielen. Selbst ich hatte Maria während dem halben Jahr unserer Bekanntschaft öfters gesehen, als die beiden sich in den gesamten 2 Jahren und ich bin kein Mensch, der auf Nähe großen Wert legt. Immer wieder hatte der Mann in seinem Tagebuch bedauert, dass sie so wenig Zeit miteinander verbrachten, wie wenig sie miteinander redeten und sie nicht die Chance hatten, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen. Wie viele seiner resignierten, aber sich selbst mit Rücksichtnahme schöngeredeten Einträge auf ihre typische Samstagmorgen E-Mail, bin das komplette Wochenende durchgetaktet, oder verbringe das Wochenende mit meiner Familie und meinen Freunden oder gehe auf eine Party hatte ich gelesen. Was wäre gewesen, wenn der Mann seiner Freundin solche E-Mails geschrieben hätte? Wie hätte sie es verstanden, wenn er ihr jeden Samstagmorgen mitgeteilt hätte, dass er zuerst sein Autowaschen, danach mit seinen Freunden Fußball schauen und abends mit ihnen um die Häuser ziehen würde? Wie auch immer, das war also das Ende der Geschichte, etwa 6 Monate nachdem ich den Mann kennengelernt hatte. Eine außerordentlich ungewöhnliche Geschichte, über die und im Besonderen deren Ende man sicher, mit großer Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifisch, geteilter Meinung sein konnte. Letzten Endes führten seine Überlegungen zu der uralten, nicht lösbaren Frage, was ist gut? Der Mann hatte nach bestem Wissen und Gewissen und Wochen des Schwankens eine Entscheidung getroffen, die er als die einzig richtige im Sinne des Wohlbefindens seiner Freundin ansah. Wenn man so will, eine Entscheidung aus Liebe. Aber war diese Entscheidung auch wirklich gut für seine Freundin? Die einzige für sie richtige und mögliche Entscheidung? Nach allem was ich gelesen und über sie erfahren hatte, konnte ich seine Entscheidung nachvollziehen, seine Gründe jedoch teilte nicht oder nur uneingeschränkt. Die überaus wichtige Frage, ob sie ihn im Laufe der vergangen 2 Jahre betrogen hatte, fand nach meinem Dafürhalten in seiner Entscheidung viel zu wenig Beachtung. An einem Punkt jedoch war die Geschichte nicht zu Ende. Wie würde es dem Mann weiter ergehen? Bei einem Glas Caol Ila 17 Jahre Unpeated Malt und einer Zigarre, begann ich darüber nachzudenken, ob ich dieses offene Ende stehen lassen, oder die Geschichte des Mannes bis zum Ende in meinem Buch weitererzählen wollte. In jedem Fall aber wollte ich solange es möglich war weiterverfolgen, wie es dem Mann erging.

   Selbst der Mai hatte sich in diesem Jahr anfänglich hartnäckig geweigert Frühling sein zu wollen. Es dauerte bis Mitte des Monats, bis sich das Wetter merklich besserte, um dann fast nahtlos in den Sommer überzugehen. In diesem Jahr hatte der Mai ungewöhnlich viele Brückentage und bestand gefühlt mehr aus Wochenenden als aus Werktagen. Ich hatte, wenn gleich ich mir mit einigem noch nicht endgültig sicher war, die Arbeit an meinem Manuskript fortgesetzt, unterbrach diese aber immer wieder gerne und beschäftigte mich mit meinem Garten oder anderen angenehmen Dingen. In diesen Tagen las nur noch unregelmäßig im Tagebuch des Mannes. Mir fiel das Lesen der überwiegend traurigen Einträge schwer und einige bedrückten mich derart, dass ihr Inhalt stundenlang in meinem Kopf kreiste. Nach wie vor schrieb mir Geraldine täglich, sogar am Wochenende. Am Mittwoch vor Pfingsten erreichte mich eine E-Mail Geraldines, die mich gründlich überraschte. Sie ging, wie in ihren anderen E-Mails zuvor, weder auf das Tagebuch noch auf die Gedichte ein. Ich nahm an, sie hatte immer noch keine Zeit dafür gefunden und war darüber ein wenig enttäuscht. Stattdessen fragte sie mich, ob ich sie am Pfingstsonntag zu der Gartenparty ihrer Mutter begleiten würde. Das konnte nicht ihr Ernst sein! Vor zwei Jahren, Geraldine und ich hatten unseren letzten erfolglosen Beziehungsversuch gestartet, begleitete ich sie schon einmal zu einer Gartenparty ihrer Mutter. Sie wollte mich damals unbedingt ihrer Familie und ihren Freunden vorstellen, die ich trotz unserer jahrelangen Freundschaft nie kennengelernt hatte. Ich konnte mich lebhaft daran erinnern, dass ich mich auf dieser Party so wohl gefühlte hatte, wie ein Eisbär in der Sahara und das Gefühl hatte, ähnlich willkommen zu sein, wie die Steuerfahndung. Ãœberall waren diese musternden Blicke ihrer Familie und Freunde, die wenig subtil ausdrückten, dieser Mann ist nichts für unsere Geraldine, der passt überhaupt nicht zu ihr. Ich war damals unter diesen Eindrücken relativ früh nach Hause gegangen. Einige Zeit danach, Ende September, erfuhr ich zufällig über drei Ecken, dass Geraldines Mutter Geburtstag gehabt hatte und der Freund ihre Schwester eingeladen war, ich aber nicht, obwohl Geraldine und ich zu dieser Zeit noch immer ein Paar waren. Geraldine hatte klugerweise mir gegenüber weder das eine, noch das andere, erwähnt. Mir war klar, dass ich Geraldines Einladung ablehnen würde. Ich suchte nur noch nach einer guten, für Geraldine glaubhaften Begründung. Einer, die sie nicht sofort anzweifeln würde. Ich verließ mein Arbeitszimmer um in meinem Garten über eine geeignete Ausrede nachzudenken. Ein paar Minuten ging ich im Garten auf und ab, bis ich schließlich, während ich meine Rosen betrachtete, eine Idee hatte. Ich antwortete ihr diplomatisch, wie meist eine schöne Umschreibung für unehrlich, dass ich es furchtbar bedauern würde und wirklich sehr gerne mit ihr zu dieser Gartenparty gegangen wäre, ich aber Karten für eines der wichtigsten Oldtimertreffen Europas, dem Concorso d’Eleganza in Como hatte und das Hotel dort bereits gebucht war. Ich war mir sicher, dass Geraldine meine Ausrede nicht, wie sie es früher gelegentlich getan hatte, überprüfen würde. Zum einen wohnte sie am anderen Ende der Stadt, zum anderen war mein Haus von einer hohen Hecke umgeben, so dass man von außen nicht erkennen konnte, ob jemand zuhause war. Den Gedanken, dass Geraldine, wenn sie unbedingt wissen wollte, ob ich tatsächlich fort war, durchaus noch über andere Möglichkeiten verfügte, verwarf ich ob der Nichtigkeit der Sache sofort wieder. Eine knappe Stunde später traf ihre Antwort ein. An ihrem überaus unfreundlichen Ton war zu erkennen, dass sie mit meiner Antwort nicht einverstanden war. Es ist wie immer, schrieb sie. Du bist unflexibel. Viel Spaß auf deiner Veranstaltung. Ich verstand nicht, was Geraldine für ein Problem hatte. Selbst wenn sie meine kleine Notlüge durchschaut hatte, musste ihr klar sein, dass sie nicht weiter war als eine höfliche Ablehnung, aus Gründen, deren sie sich sehr wohl bewusst war. Am Tag nach dieser Gartenparty vor 2 Jahren, nach dem sie mich auf mein frühes Verschwinden angesprochen hatte, hatte ich ihr deutlich zu verstehen gegeben, wie ich mir bei der Gartenparty vorgekommen war und ich das nicht unbedingt wieder erleben muss. Jedenfalls nicht in dieser Form. Geraldine versicherte mir damals zwar, dass mich mein Eindruck getäuscht hätte. Ihre Familie und ihre Freunde mich mochten. Besonders überzeugend klang das für mich jedoch nicht und es war offensichtlich die Unwahrheit, wie das, was sich ein paar Wochen später zutrug, letzten Endes bewies. Zudem gab es in jüngerer Vergangenheit noch einen weiteren Anlass, der mich in meiner Einschätzung bestätigte. Ich hatte Geraldine nie darauf angesprochen, dennoch sollte sie mich gut genug kennen, um zu wissen, wie sehr ich mich geärgert hatte. Letzten Mai hatte mich Geraldine gebeten ihr für ihre Mutter einige handsignierte Exemplare meines letzten Buchs zu geben. Diese wollte sie gerne einigen ihrer Freundinnen schenken. Selbstverständlich war ich dieser Bitte nachgekommen und hatte Geraldine ein paar Tage später 10 Exemplare vorbeigebracht. Bedankt hatte sich, sieht man von Geraldine einmal ab und das auch erst viele Wochen später niemand. Sicher, die Bücher stellten keinen großen finanziellen Wert dar. Dennoch war ich von dieser groben Unhöflichkeit sehr enttäuscht. Gleichzeitig zeigte es mir, dass ich mich mit meinem Eindruck, ein Jahr zuvor bei der Gartenparty, nicht getäuscht hatte.

   Statt mich weiter über Geraldines patzige Antwort zu ärgern, schloss ich mich ein paar Freunden an, die den Tag in einen großen Biergarten außerhalb der Stadt ausklingen lassen wollten. Als ich dort ankam bemerkte ich auf dem Parkplatz das Cabrio des Mannes. Nach gefühlter stundenlanger Parkplatzsuche, schaute ich mich zuerst sehr genau in dem unübersichtlichen Biergarten um. Der Mann war aber nirgendwo zu sehen. Vielleicht ist er mit seinem Hund in dem angrenzenden Wald spazieren dachte ich, bevor ich zu meinem Freunden an deren Tisch ging. Als ich kurz nach 22 Uhr den Biergarten verließ, vergewisserte ich mich, ob sein Auto immer noch auf dem Parkplatz stand. War der Mann, wie ich angenommen hatte, mit seinem Hund im Wald spazieren gegangen, sollte es jetzt fort sein. Aber das Auto stand immer noch auf dem gleichen Platz. Ungewöhnlich, dachte ich, als ich in mein Auto stieg und nach Hause fuhr. Warum stand das Auto des Mannes, zudem offen, stundenlang auf dem Parkplatz, wenn der Mann nirgends zu sehen war? Niemand lässt sein Auto längere Zeit mit offenem Verdeck stehen, oder entfernt sich allzu weit davon.

   Am Freitagvormittag ging ich einkaufen. Fast aus Gewohnheit nahm ich den kleinen Umweg durch die Straße des Mannes und wurde Zeuge, wie die Frau, die mir vor Wochen das erste Mal begegnet war, in sein Cabrio stieg und davonfuhr. Leicht verwundert setzte ich meinen Weg fort. Der Mann hatte diese Frau, die jetzt mit seinem Auto fuhr bis heute nicht in seinem Tagebuch erwähnt. Sie war bis heute mehr oder weniger ein Geist. Zuhause angekommen, beschloss ich einen Blick in sein Tagebuch zuwerfen. Vielleicht erwähnte er jetzt, nach der Trennung von seiner Freundin, endlich diese Frau. Aber der Mann schwieg beharrlich zu diesem Thema, wie übrigens auch Geraldine, von der ich seit meiner Absage nichts mehr gehört hatte. Statt täglicher E-Mails herrschte nun das beleidigte Schweigen einer Frau, für das es nicht den geringsten vernünftigen Grund gab.

   Während den folgenden Tagen sah ich diese Frau häufiger mit seinem Cabrio fahren und mir erschien das äußerst bemerkenswert. Normalerweise, jedenfalls nach meinen Erfahrungen, gaben die meisten Männer ihr Auto, wenn sie es überhaupt taten, höchstens ihrer Frau oder Freundin. Dies führte mich wieder zu der Frage zurück, wer diese Frau war und welche Rolle spielte sie im Leben des Mannes. Um meine Neugier zu befriedigen begann ich, in der Hoffnung Hinweise auf diese Frau zu finden, wieder regelmäßiger im Tagebuch des Mannes zu lesen. Entgegen meiner Erwartung beschäftigte sich der Mann jedoch in den folgenden knapp zwei Wochen wieder fast ausschließlich mit seiner Exfreundin. Er machte sich sehr viele Gedanken über sie und wie es ihr jetzt gehen könnte. Besonders in seinem Fokus stand ihr angebliches Burnout, über dessen Ursachen und Symptome er viel gelesen hatte. Daneben drehten sich seine Gedanken wiederholt um die Frage, ob sie innerlich bereits mit ihm abgeschlossen und die ganze Geschichte vergessen hatte, als dieser Prozess Anfang Juni schlagartig unterbrochen wurde. Der Mann skizzierte ein Szenario, in dem seine Exfreundin unter sehr bestimmten Umständen durch eine dritte Person, ohne dass er deren Namen nannte, von seiner Krankheit erfahren könnte. Tagelang spielte er Varianten verschiedener Lösung durch und wägte sie gegeneinander ab, ohne sich dabei am Ende für eine zu entscheiden.

   Im Anschluss vergingen 3 Tage, in denen der Mann nichts in sein Tagebuch geschrieben hatte. Allem Anschein nach ging es ihm nicht besonders gut. In der Vergangenheit hatte es immer wieder ein oder zwei Tage gegeben, in denen er nichts geschrieben hatte und er nachträglich von extrem starken Kopfschmerzen berichtete hatte. Aber 3 Tage war ungewöhnlich lange. Ich begann mir Sorgen um ihn zu machen. Sorgen um einen Menschen, den ich persönlich zwar nur ganz kurz kennengelernt hatte, dessen Leben mir in den letzten Monaten aber mehr als vertraut geworden war. Als am 4. Tag immer noch kein neuer Eintrag in seinem Tagebuch stand, beschloss ich mich auf seinem PC genauer umzusehen. Ich wollte mich vergewissern, ob es Dateien gab, die einen neueren Zeitstempel als den des 07. Juni trugen. Natürlich hätte ich ebenso nachsehen können, ob der Briefkasten voll war, sich der Stand der Rollläden verändert hatte, oder sich sein Auto bewegt hatte. Seit er aber vor 3 Wochen seinen Kombi abgegeben hatte und das Cabrio in jüngster Zeit öfters von dieser Frau gefahren wurde, war das genauso wenig ein Indiz, wie der Stand der Rollläden. Im Sommer lassen viele Menschen die Rollläden wegen der Hitze und zum Schutz ihrer Pflanzen auf den Fenstersimsen dauerhaft unten. Die Überprüfung der Zeitstempel war somit die einfachste und sicherste Methode, herauszufinden, ob er überhaupt zuhause war. Zuerst überprüfte ich das mir bekannte Verzeichnis mit seinen Gedichten und Kurzgeschichten. Leider war in diesem Verzeichnis nichts zu finden, was auf Aktivität schließen ließ. Um mir nicht die Mühe machen zu müssen manuell sämtliche Ordner des Computers zu durchsuchen, ließ ich nach Dateien suchen, die am 07. oder später erstellt wurden. Zu meiner Beruhigung lieferte die Suche viele Ergebnisse, meist aus dem Cache der Browser. Aber es waren auch vier Word-Dokumente darunter, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen Dateinamen mein Interesse weckten. Sie trugen die rätselhaften Namen A-1, A-2 und B-1 beziehungsweise B-2. Diese Dateien waren in den letzten beiden Tagen entstanden. Die erste dieser Dateien mit dem Namen A-1 datierte vom 08. und war nicht besonders groß. Ich öffnete die Datei. Der Inhalt dieses Dokumentes war mehr als überraschend für mich. Es handelte sich um den Entwurf eines Briefes an seine Exfreundin. Stichwortartig, an vielen Stellen noch nicht ausformuliert stand darin, was wirklich mit ihm los war. Der Mann war offensichtlich im Begriff genau das zu tun, was er 8 Monate lang versucht hatte zu vermeiden. Ihr die Wahrheit zu sagen. Die Version A-2, die einen Tag später entstanden war, war bereits fast vollständig ausformuliert und enthielt außer einer Erklärung, warum er ihr jetzt doch die Wahrheit schrieb, noch unzählige Hinweise, die wahrscheinlich nur sie verstehen konnte. Überhaupt war der ganze Brief liebevoll und äußerst respektvoll. Wären Anlass und Ursache des Briefes nicht so unerfreulich, würde ich sogar behaupten, es ist einer der schönsten Liebesbriefe, die ich je gelesen hatte. Ein Brief voll wunderschöner und wahrhaftiger Sätze. Sätze, über die man lange und viel nachdenken kann. Vielleicht sogar muss. Wenn man so will, eine Art Monument einer großen Liebe. Um diesen Brief in seiner vollen Tragweite richtig zu verstehen, musste ich ihn zweimal lesen. Ungeachtet dessen, was ich den Unterlagen in der Wohnung des Mannes vor Wochen entnommen hatte und mir durch Carsten weitgehend bestätigt wurde, schloss er den Brief mit einem Hauch Hoffnung für sie. Einer Hoffnung, die nicht nur im Widerspruch zu seinen Befunden stand, sondern vor allem zu dem, wie der Mann sich in den letzten Wochen gefühlt hatte. Ich kann nicht sagen, wann ich zuletzt so tiefen Respekt vor einem Menschen empfand. Am Ende des Briefs fanden sich, für die beiden fast schon obligatorisch, ein paar Lieder wieder, die der Mann seiner Exfreundin widmete. Ich besorgte mir die Texte, weil ich sehen wollte, was der Mann ihr zusätzlich damit noch sagen wollte. Alle Lieder waren wie in seinem 2. Brief, den er ihr vor circa einem Jahr geschrieben hatte, mit Bedacht ausgewählt worden. Jedes für sich eine ganz besondere Nachricht. Dann las ich den Brief mit dem Namen B-1. Der Unterschied zu den A-Versionen konnte nicht größer sein. Die B-Variante war sachlich und kalt, fast schon brutal. Eine gnadenlose Feststellung der Tatsachen, ohne ihr einen Weg aufzuzeigen. Die zweite Fassung des B-Briefes, war wie die A2-Ausführung nahezu fertig ausformuliert und hatte sich im Inhalt, außer dass noch eine große Portion Zynismus dazu gekommen war, nicht geändert. Aufgewühlt schloss ich die Dokumente und trennte die Verbindung. Ich fragte mich, ob er einen dieser Briefe wirklich abschicken wollte und wenn ja, welche Version. Sicher war ich mir nur mit einem. Egal, für welchen der beiden Briefe er sich am Ende entscheiden wird, für seine ehemalige Freundin musste, sollte Geraldine mit dem, was sie gesagt hatte Recht haben, eine Welt zusammenbrechen.

   Spät abends loggte ich mich nochmals in seinen Computer ein, um zu sehen, ob er einen der Briefe fertig gestellt hatte. Erleichtert stellte ich fest, dass es nur von der A-Version eine weitere, fertiggestellte Fassung existierte:

“Trés cher soleil,

man sagt, die Wahrheit ist wie das Wasser, sie sucht sich immer ihren Weg. Man sagt, dass alles seine Zeit hat, auch die Wahrheit. Mir ist mittlerweile die Gefahr, dass sie ihren Weg zu Dir findet, zu groß geworden. Ob es die richtige Zeit ist, vermag ich nicht zu beurteilen.
Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. (Saint-Exupéry) Mit anderen Worten, unseren Augen sehen wir nur das, was wir sehen sollen, was andere uns sehen lassen wollen.
Ich hatte Dir im Herbst 2010 während unseres ersten Spaziergangs von etwas erzählt, aber bestimmt erinnerst Du Dich nicht mehr daran. Seit dem 16.11.2012 ist das rezidiv.
Das, was Du in deinem Leben nicht haben willst hat einen hübschen lateinischen Namen und heißt rezidives atypisches Meningeom (WHO II)
Wieso ich Dir davon nie erzählt habe? Das hat verschiedene Gründe. Keiner davon ist jedoch, dass Du mir nicht wichtig bist, oder ich Dich nicht liebe. Ganz im Gegenteil, das weißt Du. Zuerst wusste ich nicht, wie es Dir sagen soll und dann hatte ich mich aus vielen Gründen für einen anderen Weg entschieden. Den Weg, den Du als zu Recht als Zurückweisen empfunden hast. Den einzig mir möglichen Weg, dein Leben so unbeeinflusst wie möglich zu lassen, von dem was mit mir ist. Mir ist vollkommen klar, wie sehr ich Dich damit verletzt habe, aber es war von zwei Üblen, zwischen denen ich wählen musste, das kleinere für Dich. Unentschuldbar wird es auf ewig bleiben.
Letzten Sommer habe ich mich um Dich bemüht, wie ich mich nie zuvor um einen Menschen bemüht habe, weil ich begriffen hatte, dass ich vieles falsch gemacht hatte und Dich sonst verlieren werde. Es wurden noch 2 wundervolle Monate, mein Sommernachtstraum. Mir hat das Leben mit Dir unendlich gut gefallen und ich hätte ewig mit Dir so weitergelebt, wäre das hier nicht dazwischen gekommen. Ich hatte ein Leben, die Lethargie war fort.
Die Fehler vom Winter 2011 und Frühjahr 2012 waren es am Ende aber, die mir den Weg aus meinem Dilemma gewiesen haben. Unsere Beziehung selbst zu beenden, dafür fehlte mir der Mut.
Es gibt keine Worte in diesem Universum dafür, die auch nur annähernd beschreiben könnten, wie leid mir das alles tut, auch dass ich Dir in den letzten Mails Vorwürfe gemacht habe. Aber hätte ich deine Entscheidung ohne Wenn und Aber widerspruchslos einfach akzeptiert, wärst Du mit Sicherheit aufmerksam geworden und hättest Dich gefragt, ob das Gleiche wie voriges Jahr dasselbe sein kann. Ich verachte die Notwendigkeit dafür, genau wie diese allerletzte Mail. Dennoch war es die beste Lösung für Dich, auch wenn Du allem heftigst widersprechen wirst und es Zeit brauchen wird, bist Du verstehst

Liebe ist immer auch Verantwortung. Verantwortung für den anderen. Ich habe das bei Dir sehr ernst genommen, viel ernster als ich es bei jeder Frau zuvor genommen hatte. 
Der Verstand kann uns sagen, was wir unterlassen sollen. Aber das Herz wird uns sagen, was wir tun müssen. Die wertvollsten Dinge die wir im Leben haben, auf die achten wir besonders und das Wertvollste in meinem Leben bist Du. Könntest Du an meiner Stelle stehen, würdest Du erkennen, dass es unmöglich war, eine andere Entscheidung zu treffen. Lieben heißt, das Glück denen zu geben, die man liebt und nicht sich selbst. Dein Glück wäre mit Sicherheit nicht gewesen, wenn Du letzten die Monate nah an meiner Seite gestanden hättest, alles erlebt hättest. Davon bin ich überzeugt.
Ich bin mir sicher, vieles wäre heute anders, hättest Du davon gewusst, aber genau das wollte ich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr. Das hier ist keine gebrochene Schulter. Dein Leben wäre komplett aus den Fugen geraten, weil Du dich zerrissen hättest. Aber deine Liebe gibt mir nicht im Ansatz das Recht, so etwas von Dir zu erwarten. In guten, wie in schlechten Tagen schwört man sich und hättest Du gewollt, ich hätte Dir das jederzeit geschworen. Doch wie schlecht dürfen die Tage werden?

Glaube nicht, dass ich nicht gesehen habe, wie Du um unsere Beziehung gekämpft hast, nur wusstest Du nicht, gegen was Du eigentlich kämpfst. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie unbeschreiblich es wehtat, nur noch dabei zu stehen und Dir nichts mehr zurückgeben zu können. Dennoch, es gibt immer Momente, in denen ich mir wünsche Du wärst bei mir, würdest meine Hand halten, aber es ist besser so, wie es ist.
Ich weiß, Du wärst niemals damit einverstanden gewesen, dass ich die kleine Fusseltante oft zu einer Pflegefamilie gegeben haben. Du hättest sie lieber selbst genommen, wann immer es gegangen wäre, auch wenn Dich deine Allergie noch so geplagt hätte. Nur eines von vielen Beispielen, die mir einfallen.

Es sind jetzt bald 27 Jahre, die Du in meinem Leben bist, länger als jede andere Frau. Es sieht so aus, als hätte ich 25 davon habe gebraucht, um festzustellen, wer Du für mich bist. Ich hatte bis dahin oft bezweifelt, dass mir das in meinem Leben begegnen wird. Doch ein Gefühl das noch so langer Zeit mit solcher Macht zurückkehrt war wohl nie verloren und wird es sicher auch nie sein. Es ist etwas sehr Außergewöhnliches, etwas Großartiges und nicht jeder Mensch hat das Glück, das erleben zu dürfen. Vielleicht ist es stärker, als alles andere.
Die Zeit mit Dir war die schönste meines Lebens. Vielen Dank für deine Liebe. Es ist das wundervollste und kostbarste Geschenk, das ich je haben durfte. Deine Liebe hat mich und mein Leben verändert. Ich habe ein Lieblingsbild von Dir, das mich immer begleitet, durch die Dunkelheit dieser Zeit, durch diese unwirklichen Orte, es ist meine Ikone.
Wie es ausgehen wird? Die nächsten Wochen werden es zeigen.
Sollte ich verlieren, bekommst Du Post. Was immer Du nicht verstanden hast, alles und jeder Zusammenhang wird Dir klar. Natürlich bekommst Du auch die Schachtel Lucky Strike, die ich Dir seit 25 Jahren schulde. Alles andere ist bereits geregelt, ich habe dafür meine Pläne. Gewinne ich, weil ich verlieren hasse, ich immer gewinne und schon einmal gegen diese Krankheit gewonnen habe, findest Du an deinem Platz in deinem „Zauberwald“ eines Tages eine Nachricht. Um meine beiden Rabauken mach Dir keine Sorgen, die sind hervorragend versorgt.

Was bleibt noch zu sagen? Zum Beispiel, dass niemand in dem Zustand dauerhaft zauberhaft sein kann. Oder, ich weiß genau, was der 14.04. für ein Tag ist. Es ist der Tag! Aber ich konnte an diesem Tag einfach nicht mehr. Das, was Du an jenem Tag gesehen hast, war nicht das, was wirklich war. Und es gibt noch so unendlich vieles mehr….
Lass mich das zu Ende bringen, egal wie – aber alleine. Bitte lass mich das nicht umsonst gemacht haben.
Mut ist Widerstand gegen die Angst, vielleicht Sieg über die Angst, aber nicht Abwesenheit von Angst. Es gibt mehr Leute, die kapitulieren, als solche, die scheitern.

PS: Wir haben uns immer gerne in Liedern ausgedrückt und mir fallen jetzt viele ein: Céline Dion – Immortality, U2 – Window in the skies, Roger Cicero – In diesem Moment, Queen – Who wants to live forever, um nur ein paar davon zu nennen.

Ich hoffe, Baghira und deiner Mutter geht es wieder gut. Ich weiß, wie wichtig Dir die beiden sind!

Der Mann hatte sich für die freundliche, für sie hoffnungsvollere Version entschieden. Die endgültige Fassung unterschied sich kaum von jener des letzten Entwurfs. Einige Kleinigkeiten hatte er noch verändert, zwei, drei Sätze fertig ausformuliert und ein Lied herausgenommen. Warum er ausgerechnet „We meet again“ von Vera Lynn weggelassen hatte, konnte ich nicht verstehen. Es wäre das perfekte Lied gewesen um diesen Brief abzuschließen. Viel auffälliger war aber, dass der Mann an einem Punkt erheblich von der Wahrheit abwich. Im Gegensatz zu seinem Tagebuch, aus dem klar und deutlich hervorging, dass er sie seit jenen Tagen im September 1986 immer geliebt hatte, schrieb er, dass er 25 Jahre gebraucht hatte zu erkennen, wer sie für ihn war. Mir wollte nicht in den Kopf, warum der Mann, das getan hatte. Neben all den anderen für sie wichtigen Informationen, wäre gerade jene für sie wahrscheinlich von überragender Wichtigkeit gewesen., immer vorausgesetzt Geraldine lag mit ihrer Einschätzung richtig. Trotzdem, ich musste neidlos anerkennen, hatte es je einen nahezu perfekten Brief gegeben, dann hatte ihn der Mann in den letzten Tagen geschrieben. Bevor ich den Brief auf meinen PC kopierte und ausdruckte, überprüfte ich, ob der Mann den Brief schon gedruckt hatte und musste feststellen, dass dies bereits geschehen war. Wollte er ihr diesen Brief tatsächlich schicken? Wenn ja, würde sie ihn überhaupt lesen? Und wie würde sie reagieren? Welche Möglichkeiten hatte sie zu reagieren? Fragen, auf die ich an diesem Abend keine Antwort finden konnte. Innerlich tief bewegt verließ ich mein Arbeitszimmer und ging mit einer Flasche Bordeaux, die ich mir auf dem Weg in der Küche geholt hatte, auf meine Terrasse und setzte mich. Was für eine unglaubliche Entwicklung. Die Geschichte der beiden hatte nach 27 Jahren ihren absoluten Höhepunkt erreicht.

   Gegen 24 Uhr ging ich zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Immer wieder jagte mir der Inhalt seines Briefes und die Frage, wie sie reagieren wird durch den Kopf und wie den ganzen Abend zuvor, kam ich zu keinem Ergebnis. Ich fragte mich, wie ich an ihrer Stelle diesen Brief aufnehmen würde und musste aber sehr schnell feststellen, dass es unmöglich war, sich nur im Entferntesten eine derartige Situation hineinzuversetzen.

   Als ich am nächsten Morgen nach einer unruhigen Nacht sehr spät aufwachte, konnte ich immer noch nicht glauben, was ich am Abend zuvor gelesen hatte. Nach einer Dusche und zwei Tassen Kaffee arbeitete ich zunächst in meinem Garten, der Versuch auf andere Gedanken zu kommen. Erst am frühen Nachmittag ging ich zurück in mein Arbeitszimmer. Entgegen meiner Gewohnheit hatte ich gestern Abend vergessen meinen Computer auszuschalten und auf dem Bildschirm war immer noch die Remoteverbindung zu den PC des Mannes offen. Gerade als ich sie schließen wollte, bemerkte ich, dass sich der Zeitstempel der Datei seines Tagebuchs in der Nacht geändert hatte. Der Mann musste tief in der Nacht noch etwas in sein Tagebuch geschrieben haben. Mit großer Spannung öffnete ich sein Tagebuch und fand einen eigentümlichen Text.

„Beruhige dich Sonnenschein, weine nicht. Wisch dir die Tränen aus deinen Augen.
Du bist sicher in deinem Bett. Bewacht von deinem großen schwarzen Tier.
Es war nur ein böser Traum, der sich in deinem Kopf rasant gedreht hat.
Deine Sinne haben dir vorgetäuscht einen schrecklichen Schmerz zu spüren.
Den Schmerz eines Menschen, der das Spiel des Lebens für immer verlassen soll.
Doch der Morgen dämmert und mit ihm eine neue Chance. Hellwach stellst Du dich dem neuen Tag.
Der Albtraum ist vorüber und ein neuer Traum für dich beginnt gerade.
Es gibt einen besonderen Ort an dem ich mich befinden werde.
Durch einen Spalt in deiner Welt werde ich Dich sehen können.
Beruhige dich mein Sonnenschein, nichts ist schlimm, wie es scheint.
Es wird eine Zeit kommen, in der Du lernen wirst, wie Bedeutungslos alle deine Ängste sind.
Dann wirst Du die Launen des Lebens in dieser Welt zu beherrschen.
Nie wieder zulassen, dass deine Furcht Macht über Dich ausübt.
Und plötzlich verstehst Du diese neue wundervolle Zeit deines Lebens.
Dein Traum wird sichtbar.Eine Realität, die Du in deine Gegenwart aufnimmst.
In eine feste Form fasst um ihn zu lenken. Öffne ihm deinen Verstand, wie Du mir zuvor dein Herz geöffnet hast.
Du brauchst dich nicht mehr auf deine Augen verlassen, um zu sehen.
Die Wände, die Du in Dir aufgebaut hast brechen zusammen und aus ihren Trümmern entsteht deine neue Welt.
Während Du das erlebst, erkennst Du, dass Du jetzt sicher bist vor Schmerz.
Deine befreite Seele wird auf einer Reise durch eine neue Welt sein.
Lenke diesen Traum behutsam, dann wirst Du erkennen, dass er ewig in Dir lebendig bleiben wird.“

   Es war sehr ungewöhnlich, dass der Mann eines seiner Gedichte, oder wie immer man das bezeichnen mag, direkt in sein Tagebuch übernahm. Es musste für ihn also besonders wichtig und von einzigartiger Bedeutung sein. Dass es an seine Exfreundin gerichtet war eindeutig. Ebenso klar war, dass ein unmittelbarer Zusammenhang mit diesem Brief bestehen musste. Allein was nutzte ihr das, wenn es für sie niemals einsehbar in seinem Tagebuch stand? Den ganzen Abend ließ ich den Ablauf dieser Geschichte abermals Revue passieren. Die bis zur erneuten Diagnose seiner Krankheit schon ungewöhnliche und komplizierte Beziehung der beiden, war seit diesem Tag in ein vollkommenes Chaos übergegangen. Phasenweise schien keiner der beiden zu wissen, was er wollte. Es war ein Durcheinander von Emotionen und Unklarheiten, scheinbarer Vernunft und Widersprüchen. Der großen Gefühle, von Entscheidungen und deren Widerrufen, die kein Mensch verstehen konnte. Eine Geschichte, die von Beginn an, vor beinahe 27 Jahren, als sich die beiden kennengelernt hatten, mehr als ungewöhnlich und alles andere als alltäglich war. Mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht. Es war der Stoff aus dem die großen Romane gemacht wurden. Zur Überprüfung suchte ich im Stapel meiner Notizen nach dem Blatt auf dem ich mir die Vermerke über ihre erste Beziehung gemacht hatte. Als ich es gefunden hatte stach mir das Datum ins Auge. September 1986. Wie hypnotisiert starrte ich dieses Datum an. September 1986. Langsam dämmerte mir, dass es noch einen Grund gab, warum mich die Geschichte der beiden in den letzten Monaten dermaßen beschäftigt hatte. Mich unterbewusst faszinierte. Es war die Duplizität der Ereignisse in jenem Herbst. In den letzten Monaten hatte ich einiges gelesen und erfahren, dass mich an einen Abschnitt meines Lebens erinnerte, den ich seit Jahren verdrängt hatte. Was mir mehr oder weniger erfolgreich auch gelungen war. Ich hatte niemals mit irgendjemand über dieses Thema und wie sehr es mich jahrelang beschäftigt hatte gesprochen. Es war über all die Jahre mein Geheimnis geblieben. Nicht einmal meine engsten Freunde wussten davon. Fragte man meine Freunde nach der Frau in meinem Leben bekam man zur Antwort: Geraldine. Das ist in vielerlei Hinsicht auch richtig. Unser Verhältnis mit den vielen Beziehungen, oder besser gesagt Beziehungsversuchen und anschließenden Trennungen beschäftigte jahrelang unseren gesamten gemeinsamen Freundeskreis, während meinen anderen Freundinnen niemals eine solche Beachtung zuteilwurde. Die Wahrheit aber ist eine andere. Es gab vor Geraldine schon eine andere Frau, besser gesagt ein Mädchen. Ich hatte sie, genau wie der Mann seine Exfreundin im September 1986 kennengelernt und war damals weit mehr als nur fasziniert von ihr. Die Liebe hatte mich wie ein Blitz getroffen. Wir verbrachten in diesem Herbst nur ein paar glückliche, unbeschwerte Tage zusammen, die vollkommen ausreichten, die Erinnerung an sie nie ganz verblassen zu lassen. Aber ich wusste, dass ich mich noch bevor der September zu Ende war, von ihr trennen musste und zerbrach innerlich beinahe daran, dass ich ihr nicht sagen konnte warum. Der Familientradition folgend, ging ich zum Militär. Vier lange Jahre, in denen ich für sie unerreichbar fort sein würde. Der Grund, warum ich ihr damals nichts erzählt hatte, war einfach. Mitte der 80er Jahre war die Welt eine andere als heute. Nicht nur die großen Blöcke standen einander hochgerüstet gegenüber, bereit sich jeden Augenblick zu vernichten, es gab auch eine Unzahl an kleineren regionalen, deswegen aber nicht unbedeutenden Krisenherde. Der Maxime „First to fight, first in fight“ folgend, war dieser Teil der Streitkräfte zu dem ich ging, aufgrund seiner Ausbildung und Ausrüstung immer der Erste, der bei einer Krise zum Einsatz kommen würde. Stets verbunden mit dem Risiko nicht zurückzukehren. Ein Risiko, mit dem ich dieses, trotz ihrer nach außen zur schaugestellten harten Schale, aber nach meiner Überzeugung sensible Mädchen nicht konfrontieren wollte. Ein edelmütiger Gedanke, fast wie jene Motive, die den Mann seine Entscheidung treffen ließen. Trotzdem ließ ich einen wichtigen Aspekt außer Acht. Ihre Freiheit selbst eine Entscheidung zu treffen. Ähnlich wie der Mann heute, war ich damals davon überzeugt, die richtige, weil einzig mögliche Entscheidung getroffen zu haben. Aber ich war damals jung, wollte eine Art Held, der seine geliebte Freundin vor dem Bösen in der Welt beschützt sein und wusste es nicht besser. Später, in Camps und Trainingslagern wurde ich dazu ausgebildet mit jeder Situation fertig zu werden. Ich wurde auf alles trainiert, was mir widerfahren konnte. Ich lernte mit Angst, Hunger und Einsamkeit umzugehen, aber niemand brachte mir dort bei, wie man mit Liebe umgeht. Ich beschloss mir ein Glas Wein zu holen, bevor ich in den Aufzeichnungen des Mannes weiterlas. Auf dem Weg in die Küche, scheinbar aus dem Nichts, fiel mir die letzte gemeinsame Nacht mit diesem Mädchen wieder ein. Sogar an das Datum erinnerte ich mich wieder, es war der 24. September 1986. Eine unerklärlich grausame Laune des Schicksals hatte meine letzte Nacht mit dem Mädchen und die erste gemeinsame Nacht des Mannes mit seiner Freundin auf das identische Datum fallen lassen. Die Erinnerung an sie wurde so präsent, dass ich glaubte ihr Parfüm riechen zu können. Das Glas Wein erschien jetzt nicht mehr angemessen und stattdessen holte ich mir, ungeachtet der Tageszeit, die noch ungeöffnete Flasche Higland Park aus meiner Bar. Da stand ich nun mit einer Flasche Whisky in der Hand, mitten im Sumpf meiner eigenen Erinnerungen und Gefühle. Kurz vor meiner Abreise damals bat ich meinen besten Freund, der sich für einen weitaus ungefährlicheren Beruf entschieden hatte, sich um sie zu kümmern. Ich wusste, dass sie bei ihm sehr gut aufgehoben war. Außerdem hatte ihm das Mädchen schon immer sehr gut gefallen. Am nächsten Tag verschwand ich aus heiterem Himmel aus ihrem Leben. Keine Nachricht, kein Abschied. Ich war einfach fort. Ich hoffte, sie war so enttäuscht und wütend auf mich, dass sie mich schnell vergessen würde und ich keine Spuren in ihrem noch jungen Leben hinterlassen hatte. Vielleicht noch nicht einmal eine bleibende Erinnerung. Ein paar Wochen später, ich war schon an meinem Standort, erfuhr ich mehr per Zufall, dass die beiden ein Paar geworden waren. Obwohl ich mir einredete, dass es für sie das Beste war, das ihr passieren konnte und ich mich für sie und meinen Freund freute, war es ein Stich mitten in mein Herz. Völlig unerwartet wurde ich zwei Jahre später wieder hierher versetzt. Ich vermied es, an Orte zu gehen, an denen ich die beiden hätte treffen können. Auch den Kontakt zu meinem Freund reduzierte ich auf ein Minimum. Aus der tiefen Freundschaft, die uns vor meiner Abreise verbunden hatte, war mehr oder weniger eine lose Bekanntschaft geworden. Zu groß war meine Angst, die beiden zusammen sehen zu müssen. Ich veränderte damals meinen Freundeskreis, mein ganzes Leben. Über vier Jahre später, ich hatte gerade den ersten Auftrag für die Firma rechtzeitig vor Weihnachten erfolgreich abgeschlossen, erfuhr ich, dass sich die beiden getrennt hatten. Eines Abends Anfang Januar, stand plötzlich mein Freund vor meiner Türe und erzählte mir, dass sie sich getrennt hatten. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte und so schwieg ich fast den ganzen Abend. Als er gegangen war, dachte ich über diese wenigen Tage im September nach, die ich mit diesem Mädchen verbracht hatte und bemerkte, mehr zu meinem Leidwesen als alles andere, dass ich immer noch starke Gefühle für sie hegte. Sicher, sie war jetzt frei und ich hätte mich um sie bemühen können. Aber nicht nur der Respekt vor meinem Freund und seinen Gefühlen verbot mir das damals, sondern auch mein eigenes Verhalten dem Mädchen gegenüber Jahre zuvor. Ich beobachte das Mädchen noch eine Weile aus der Ferne und tröstete mich eine Zeitlang mit wechselnden Bekanntschaften, die kaum den Ausdruck Bekanntschaft verdient hatten, bis ich sie irgendwann im Frühjahr 1992 komplett aus den Augen, aber ihr Gesicht nie aus meiner Erinnerung, verloren hatte. Mitte Juli 1992 hatte ich dann Geraldine kennengelernt und mich prompt in sie verliebt. Wir verbrachten einen unbeschwerten Spätsommer und trotz, oder vielleicht gerade weil Geraldine und ich so verschieden sind wurde sie, obwohl unsere Beziehungsversuche regelmäßig scheiterten, zu einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Vier oder fünf Jahre später, ich war gerade von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückgekehrt, erfuhr ich, dass das Mädchen geheiratet hatte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich fühlte, aber auch, dass ich ihr alles Glück dieser Welt wünschte. Vor 7 Jahren beim jährlichen Sommerfest, das immer am ersten Augustwochenende rund um das neue Schloss in der Innenstadt stattfindet und auf das mich Geraldine gegen meinen Willen geschleppt hatte, sah ich das Mädchen nach allen den Jahren zum ersten Mal wieder. Aus dem bezaubernden Mädchen war eine wunderschöne Frau geworden. Sie stand etwa 20 Meter weg von uns, oberhalb des Seerosenteichs, der direkt neben dem Schloss lag, im Mittelpunkt einer Gruppe Menschen. Schon damals im September stand sie, wo immer sie hinkam, im Mittelpunkt. Ich war mir sicher, dass sie mich in dem Trubel und der Dunkelheit nicht bemerkt hatte und beließ es auch dabei. Ich beobachte sie eine ganze Zeit aufmerksam. Sie wirkte ausgelassen und glücklich und ich wollte das nicht stören. Besonders beeindruckt war ich von einer wunderschönen Tätowierung auf ihrem rechten Schulterblatt. Obwohl ich, wie fast alle Kameraden selbst eine hatte, hatte ich mir aus Tätowierungen bei Frauen nie etwas gemacht hatte. Diese aber zog mich in ihren Bann. Ich war mir damals sicher, dass Geraldine nicht bemerkt hatte, dass ich immer wieder zu dieser Frau hinübersah und bis heute habe ich ihr davon auch nichts erzählt. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah, oder etwas von ihr hörte. Geblieben war mir viele Jahre, dass jedes Mal, wenn ich diesen Vornamen hörte, ein kleiner Ruck durch mich ging, der diese scheinbar unauslöschliche Erinnerung in mir wieder hervorzerrte. Glas um Glas begann ich die Whiskyflasche leer zu trinken. Ein Stück sicherlich in der Hoffnung dieses Kapitel meines Lebens schnell wieder aus meinem Bewusstsein zu verdrängen. Aber mit jedem Schluck kehrte ein weiteres Detail zurück. Am Ende war die Flasche leer und ich betrunken. Ich torkelte Richtung Wohnzimmer und ließ mich in der Hoffnung, dass am nächsten Morgen die Erinnerung an dieses Mädchen wieder in den tiefen meines Gedächtnisses verschwunden sein würde, auf mein Sofa fallen.

   Zwei Tage waren vergangen seit diesem Tag mit der Whiskyflasche und noch immer beschäftigte mich ausschließlich die Frage, was aus diesem Mädchen geworden war. Wie es ihr heute ging, was sie machte und ob sie letztlich ihr Glück gefunden hat. Es ließ mir keine Ruhe. In der ganzen Sentimentalität, die mich überkam, musste ich feststellen, dass eine gewisse Art von Gefühlen für sie zwar tief verschüttet, aber noch immer nicht fort war. Es war nicht eine abstruse Form von Liebe, sondern mehr ein Schuldgefühl. Ich bedauerte, dass ich keine Fotos von ihr hatte, aber damals gab es leider weder Mobiltelefone mit eingebauter Kamera, noch digitale Kameras. Es war die gute alte analoge Zeit, mit all ihrer, aus heutiger Sicht, wohltuenden Langsamkeit. Geblieben war die Musik aus diesem Jahr. Ein paar Lieder, die mich an das Mädchen erinnerten. Ich suchte mir diese Lieder heraus, setzte mich in einen Sessel und hörte sie mir an. Das traurige Unterfangen, mich an das zu erinnern, was ich jahrelang versucht hatte zu vergessen. Während ich mir die Lieder aus dieser Zeit anhörte, brachte mich der Gedanke, dass ich keine Fotos von dem Mädchen hatte zurück in die Gegenwart. Auf dem Computer des Mannes gab es Ordner mit Fotos, die ich mir bislang nicht angeschaut hatte. Was ich dort finden würde, fragte ich mich. Wahrscheinlich nur das übliche, Fotos von Familienfesten, Freunden und ähnlichem. Dennoch, die Idee einen Dia-Abend mit den Fotos des Mannes zu machen, erschien mir verlockend, verlockender als weiter in unwiederbringlich verlorenen Erinnerungen zu schwelgen. Ich ging in mein Arbeitszimmer und startete den Computer. Die Prozedur des Einloggens in seinen Computer war längst zur Gewohnheit geworden. Bevor ich mir die Fotos ansah, wollte ich wissen, ob der Mann in seinem Tagebuch mittlerweile etwas über diesen Brief geschrieben hatte. Bestürzt las ich, dass er ihn Vorgestern zur Post gebracht hatte. In seinem gestrigen Eintrag setzte er sich mit der Frage auseinander, ob seine Exfreundin diesen Brief überhaupt lesen würde und wenn ja, welche Wirkung er auf sie haben würde. Er schrieb, dass er sehr hoffe, dass von ihr keinerlei Reaktion erfolge, sie weiterhin keinen Kontakt zu ihm suchen würde und ihr Leben unbeschwert davon, was mit ihm sein wird fortsetzte. Ich brauchte eine Weile um vollständig zu erfassen, was ich gerade gelesen hatte. Mit dem im Grunde zu erwartenden Absenden des Briefes hatte nicht nur die Geschichte der beiden eine weitere unerwartete Wendung bekommen, sondern auch mein Buch. Aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Um mich von dem Brief und allen damit verbundenen Fragen abzulenken, wandte ich mich, wie ich es geplant hatte dem Ordner mit seinen Fotos zu. Sie waren zum Großteil nach Jahren sortiert, einige wenige nach Personen. Ich begann mit dem ersten, nach Jahren sortierten Ordner und arbeitete mich chronologisch bis zum letzten Ordner durch. Nachdem ich mit allen nach Jahren sortierten Ordnern durch war, fiel mir auf, dass ich nur Fotos von Hunden, seiner Katze, vielen Autos und etlichen Städten gesehen hatte. Aber nicht eine einzige Person war auf den Fotos zu sehen. Ich fragte mich, wie es sein konnte, dass über 10 Jahre keine einzige Person auf einem Foto zu finden war. Folgerichtig richtete sich ein Augenmerk auf jene 4 Ordner, die mit weiblichen Vornamen versehen waren und von denen 3 mir nichts sagten. Vielleicht war dort das zu finden, was ich vermisste? Möglicherweise waren in einem sogar Fotos dieser unbekannten Frau. Ich öffnete den ersten dieser Ordner und stellte fest, dass es sich um eingescannte Fotos handelte. Sie mussten demnach schon älter sein. Das gleiche fand ich in den beiden anderen Ordnern. Ich vermutete, dass es sich bei diesen Frauen um ehemalige Freundinnen des Mannes handelte. Der vierte Ordner trug den Namen seiner Exfreundin. Darin war eine Unzahl von Bildern, alle digital. Einige davon waren in schwarz-weiß und mussten von einem Fotographen gemacht worden sein. Ich schaute mir in aller Ruhe diese, teils doch eher privaten Fotos an. Eine wirklich begehrenswerte Frau, musste ich neidlos anerkennen. Ich schloss den Ordner wieder und überlegte, warum es entweder nur eingescannte alte Bilder oder Bilder seiner aktuellen Exfreundin gab. Dazwischen musste eine Lücke von mindestens 10 Jahren klaffen, in denen es nur diese Hunde- und Katzenfotos gab. Irgendetwas irritierte mich daran. Als ich wieder bei der Ordnerübersicht angelangt war, bemerkte ich, dass die Ordner 2002 bis 2006 in etwa den gleichen Zeitstempel trugen, genauso wie die Ordner 2008 bis 2010. Etwas, das durch Veränderungen an ihrem Inhalt entstehen kann. Neugierig geworden schaute ich mir den Ordner 2009 genauer an. Die angegebene Größe des Ordners im Verzeichnisbaum stimmte nicht mit dem Platz überein, den er auf der Festplatte tatsächlich belegte. Das war ein definitives Zeichen dafür, dass hier Dateien gelöscht worden waren. Ich versuchte die alten Indexeinträge des Ordners wiederherzustellen, um zu erfahren, ob ich Recht hatte. Eine Stunde später war der alte Index, mit allen Verweisen auf den fehlenden Bilddateien wieder da. Hier waren tatsächlich viele Fotos gelöscht worden, fast so als ob damit Erinnerungen gelöscht werden sollten. Eine Vorgehensweise, die mir aus der Firma sehr vertraut war. Nach Abschluss von bestimmten streng geheimen Aktionen, von denen die Öffentlichkeit niemals erfahren durfte, wurden sämtliche Akten, Fotos und andere Dokumente vernichtet, so dass bestimmte Vorgänge nie stattgefunden hatten. Eine Art Manipulation der Vergangenheit, die später einen objektiven Betrachter in eine falsche Richtung lenken sollte. Wer auf diesen Fotos war und warum der Mann sie gelöscht hatte, konnte ich, ohne seine Tagebücher aus dieser Zeit gelesen zu haben, nur erraten. Sicher war ich mir aber damit, dass diese Personen in seinem Leben eine Rolle gespielt hatten und er sie, aus mir unbekannten Gründen aus seinem Leben gelöscht hatte.

   Am nächsten Morgen beschäftigte mich, neben dem Dauerthema der letzten Tage, sein Brief und die möglichen Auswirkungen, die Sache mit den gelöschten Fotos immer noch. Ich war mir in der Zwischenzeit sicher, dass auf diesen gelöschten Fotos zumindest eine weitere Exfreundin gewesen sein mussten. Nach meiner Überzeugung hatte der Mann diese Fotos gelöscht, um die Erinnerung an diese Frau damit ebenfalls zu löschen. Es bestand ohne Zweifel eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Erinnerung an das mit dieser Frau erlebte, den Mann im November dazu gebracht hatte in seinem Tagebuch von Geister der Vergangenheit zu schreiben, die er damals zu sehen glaubte. In jenen Tagen musste das Verhalten seiner Freundin ihn an etwas erinnert haben, dass diese Frau auf den gelöschten Fotos ebenfalls getan hatte. Ein gebranntes Kind vergisst das Feuer nie wieder.

   Nachdem ich Monatelang ausschließlich die Tagebücher und E-Mails des Mannes gelesen hatte, richtete sich meine Aufmerksamkeit nun auf den Ordner mit seinen Gedichten und Kurzgeschichten, von denen ich bislang lediglich eine Handvoll gelesen hatte. Sie waren in loser Folge entstanden. Die älteste Datei stammte vom 10. April 2011, die jüngste datierte von gestern. Um mir ein weiteres Durcheinander, wie beim Lesen seiner Tagebücher zu ersparen, ging ich chronologisch vor. Die erste Datei beinhaltete ein Gedicht für seine Freundin. Ich las es durch, schloss es und öffnete die nächste Datei. Diesmal war es eine Art Kurzgeschichte. Zu meiner Überraschung fanden sich aber nicht nur Gedichte und Kurzgeschichten in dem Ordner, sondern auch detaillierte Beschreibungen erotischer Phantasien und Träume, die er mit seiner Freundin gerne erleben würde. Diese hatte der Mann ebenfalls in Form von Kurzgeschichten geschrieben. Fasziniert las ich diese Beschreibungen und überlegte mir, ob seine Freundin dafür wohl die richtige Frau gewesen wäre. Einige davon fand ich so interessant, dass es durchaus einer Überlegung wert war, sie in mein Repertoire aufzunehmen. Gleichzeitig verwunderten mich diese Texte. Es gab in seinem Tagebuch neben der Beschreibung dieser längsten Nacht, diesem höchst interessanten Sonntagnachmittag und dem ersten Mal, als die beiden am 14. April 2011 wieder miteinander geschlafen hatten, sowie den direkt darauf folgenden Tagen, nur noch vier, höchstens fünf andere Stellen, die sich mit Erotik beschäftigten. Ansonsten gab es in seinem Tagebuch keine Hinweise auf dieses Thema, so als ob dieses in ihrer Beziehung insgesamt nur eine untergeordnete, bis gar keine Rolle gespielt hatte. Ich empfand das für eine Beziehung als durchaus ungewöhnlich und begann mich zu fragen, was der Grund dafür gewesen sein konnte, beziehungsweise von wem dieses mangelnde Interesse an diesem nicht ganz unwichtigen Thema ausgegangen war. Hatte sie sich, wovon ich ausging, bereits im vergangenen Spätsommer wieder umorientiert, war eindeutig, wessen Interesse nachgelassen hatte. Dafür sprach auch, dass der Mann mit diesen Kurzgeschichten während der ganzen Dauer der Beziehung sein Interesse an diesem Thema mehr als deutlich bekundet hatte. Diese Theorie warf eine unangenehme Frage auf. Warum gab aus der Zeit vom Sommer 2011, in der die Beziehung seinen Aufzeichnungen zu folge noch intakt zu sein schien ebenfalls nichts zu diesem Thema in seinem Tagebuch? In mir keimte ein übler Verdacht auf, den ich aber sofort als reine Spekulation unter dem Eindruck der letzten Monate wieder verdrängte. So reizvoll ich diese Art von Kurzgeschichten und Beschreibungen auch fand, für mein Buch waren sie nicht von Bedeutung. Ich begann die Gedichte und Kurzgeschichten mit den Notizen, die ich mir zu seinem Tagebuch gemacht hatte, abzugleichen. Sie waren ein Spiegel dessen, nur meist weitaus schöner. Aber es gab auch nachdenkliche und sehr traurige. Einige davon stammten aus dem Herbst 2011 und ein paar aus dem letzten Frühsommer. In der Hauptsache jedoch stammten sie von November und Dezember des vergangenen Jahres. Die größte Anzahl aber war seit Februar dieses Jahres entstanden. Ich war beim Lesen dieser Texte nachdenklich und ein wenig eifersüchtig geworden. Zudem musste ich mir eingestehen, dass ich etliche davon nicht verstand oder mir nicht klar wurde, was der Mann mit ihnen sagen wollte. Ich war der Schriftsteller von uns beiden und dieser Mann fand Worte für seine Freundin, die mich zutiefst neidisch machten. Ich hatte nie einer meiner vielen Freundinnen ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte geschrieben und war auch nie auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Ich beruhigte mich damit, dass ich wenigstens Geraldine, wenn auch etwas verfremdet gleich in zwei meiner Bücher erwähnt hatte. Wieso um alles in der Welt hatte der Mann diese Gedichte und Kurzgeschichten niemals seiner Freundin zukommen lassen, als die Beziehung noch einigermaßen diese Bezeichnung verdient hatte, fragte ich mich während ich die Verbindung zu seinem Computer wieder trennte. Und warum war Erotik zwischen den beiden, auch in ihren guten Zeiten so überaus selten ein Thema? Beides war mir unbegreiflich. Soweit ich das bis hierher beurteilen konnte, wurde niemals eines der Gedichte gedruckt oder als E-Mail verschickt. Von Frauen verstehe ich bis heute nicht allzu viel, aber eines weiß ich mit Sicherheit. Bei den allermeisten Frauen haben ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte, die ein Mann nur für sie geschrieben hatte, eine weitaus größere Wirkung, als jeder Blumenstrauß.

   Meine Hoffnung, dass die zurückgekehrte Erinnerung an das Mädchen mit den Tagen wieder verblasen würde, erfüllte sich nicht. Eher im Gegenteil. Die Erinnerung an sie beschäftigte mich fast genauso viel, wie der Mann und seine Geschichte. Wo sie jetzt wohl gerade ist und was sie macht, fragte ich mich den halben Tag. Ich machte mir unzählige Gedanken, wie das herauszufinden war, wie ich sie überhaupt finden konnte. Ohne mir im Geringsten darüber im Klaren zu sein, was ich mit diesem Wissen dann anfangen wollte. Der einfachste Weg wäre natürlich gewesen Geraldine zu fragen. Sie hat Zugriff auf jede erdenkliche Möglichkeit einen Menschen zu finden. Allerdings wollte sie mit Sicherheit wissen, warum ich mich für diese Person interessierte. Die Wahrheit konnte und wollte ich ihr nicht sagen. Besonders da ich mir über meine eigenen Motive nicht im Klaren war. Ich tröstete mich damit, dass ich Geraldine gar nicht erst zu fragen brauchte, da sie seit meiner Absage zu der Gartenparty ohnehin mit mir schmollte.