Der Mann mit dem Hund: Drei Wölfe – Kapitel 10 – Zwölf Flaschen

   Neben dem Brief und seinen möglichen Folgen, beschäftigte mich überwiegend die Frage, worin der Sinn des Ganzen lag. Mir erschloss sich nicht, was der Mann damit erreichen wollte. Unterbrochen wurden diese Überlegungen immer wieder durch kurze Gedanken an das Mädchen, die ich nicht mehr loszuwerden schien. Ich versuchte mich davon abzulenken, in dem ich mich intensiv mit den möglichen Motiven des Mannes beschäftigte, worum er seiner Exfreundin diesen Brief geschrieben hatte. Warum gab er sich zuerst so viel Mühe seine Krankheit vor ihr zu verheimlichen? Nahm dafür sogar das Ende seiner Beziehung mit seiner großen Liebe in Kauf und entschied am Ende doch, ihr alles mitzuteilen, nur weil irgendwie eine vage Chance bestand, dass sie auf Umwegen von seiner Krankheit Kenntnis erlangen könnte. Obwohl ich den Mann monatelang beobachtet hatte, sein Leben und dessen Ablauf fast so gut kannte wie mein eigenes, kam ich auf keine andere vernünftige Lösung. Am wahrscheinlichsten blieb vorerst seine Version, dass die beiden eine oder einen gemeinsamen Bekannten hatten, der von der Erkrankung des Mannes wusste, dem der Mann plötzlich nicht mehr vertraute und er nicht wollte, dass sie von einem Dritten die Wahrheit erfährt. Ich hoffte in den jüngsten Einträgen seines Tagebuchs eine weitergehende, mir verständlichere Erklärung zu finden. Ungeduldig öffnete ich sein Tagebuch. Es hatte sich nichts Besonderes ereignet. Der Mann berichtete über mehrere kurze Ausflüge und von diversen Arztterminen. In der Hauptsache aber schrieb er darüber, wie sehr er seine Freundin und den Kontakt zu ihr vermisst. Wie konnte das sein? Zuerst hatte er sie so gut wie nie gesehen, dann wollte er sie unbedingt loswerden und jetzt vermisste er sie? Das ging mir nicht in den Kopf. Oder meinte er damit, dass er ihre E-Mails vermisste? Auch das konnte ich mir, in Anbetracht ihrer oft kühlen und knappen, teils unpersönlichen E-Mails nicht vorstellen. Dies wäre in meinen Augen nur denkbar gewesen, wenn ihre E-Mails in den letzten Monaten hin und wieder einen liebevollen, zärtlichen oder gar erotischen Inhalt, wie sie die E-Mails von Verliebten üblicherweise aufweisen, gehabt hätten. Davon aber gab es nach meiner Kenntnis nur ganz zu Anfang ihrer Beziehung welche, was aber durchaus der Tatsache geschuldet sein konnte, dass sie stets ihre geschäftliche E-Mail benutzt hatte und sie sich nicht sicher sein konnte, wer ihre E-Mails mitlas. Es folgten eine paar Einträge, die auf etwas Bezug nehmen mussten, das Jahre zurücklag und die ich ehrlich gesagt nicht verstand. Am Ende blieb ich bei einem Eintrag über Whiskys hängen. Der Mann teilte offensichtlich mit mir die Vorliebe für schottische Single Malts. Er schrieb, dass er sich schon lange eine kleine Sammlung von besonderen Malts gewünscht hatte und nun die Zeit dafür gekommen sei, diesen Wunsch in die Realität umzusetzen. In einem Onlineshop, der für seine hervorragende Auswahl auch mir bekannt war, hatte er sich 12 Flaschen bestellt. Ferner schrieb er noch unspezifisch von etlichen anderen Dingen, die er unbedingt noch erledigen oder in Ordnung bringen wollte. Den Whisky betreffend merkte er an, dass seine Exfreundin dafür sicher kein Verständnis haben würde, genauso, wie sie ihm sicher verboten hätte, weiter zu rauchen. Zynisch stellte er die Frage, welchen Unterschied das jetzt noch machen würde. Im Gegensatz zu dem Brief war hier eine deutliche Veränderung seiner Einstellung zu erkennen. Sie war fatalistischer geworden. War der Brief an seine Liebe am Ende noch von einem Funken Hoffnung geprägt, so waren die Einträge in seinem Tagebuch jetzt ungleich dunkler geworden.

   Von Geraldine hatte ich seit ihrer übellaunigen Antwort auf meine Absage immer noch nichts gehört. Normalerweise hätte ich das noch eine Zeitlang auf sich beruhen lassen, aber ihr Geburtstag stand vor der Türe. Mir war nicht ganz klar warum, aber ich wollte nicht, dass wir diesen Tag im Streit verbringen. Für einen flüchtigen Moment dachte ich sogar darüber nach, Geraldine in diesem Jahr, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, etwas zum Geburtstag zu schenken.

    Durch die Einträge in seinem Tagebuch war ich höchst neugierig geworden, welche Whiskys sich der Mann zugelegt hatte. Zu meinem Bedauern schrieb er darüber nichts Genaueres in seinem Tagebuch. Seine Meinung über diese Whiskys zu lesen, hätte mich interessiert. Getrieben von einer unerklärlichen Unbeherrschtheit, beschloss ich, nach kurzem Zögern, erneut in seine Wohnung zu gehen, um nachzusehen welche Flaschen er gekauft und ob er sie schon probiert hatte. Im Gegensatz zu meinem ersten Besuch, bei dem ich große moralische Bedenken hatte, überwog diesmal meine Neugier so deutlich, dass sich solche Überlegungen nicht den Hauch einer Chance hatten. Zu Fuß machte ich mich auf den kurzen Weg zu seiner Wohnung. Zuerst vergewisserte ich mich, dass sein Auto nicht vor dem Haus stand. Da ich wusste, dass diese andere Frau seit etwa einiger Zeit des Öfteren sein Cabrio benutzte, entschied ich mich zuvor vorsichtshalber bei ihm zu klingeln. Hätte er geantwortet, hätte ich mich als Werber für eine dieser Religionsgemeinschaft ausgeben, die gemeinhin unsanft an der Türe abgewimmelt werden. Aber ich hatte Glück. Der Mann war nicht zuhause. Wie bei meinem ersten Besuch wurde ich im Flur von seiner Katze begrüßt. Ich ging direkt in das Wohnzimmer zu dem Regal, in dem Anfang März 3 Flaschen Whisky gestanden hatten. Jetzt standen dort fünfzehn Flaschen. Genau die zwölf, von denen er geschrieben hatte, waren dazu gekommen. Von einigen fehlten ein, maximal zwei kleine Gläser. Ich schaute mir die Flaschen genauer an. Die meisten kamen von kleineren, weniger bekannten Destillieren und waren, außer bei Kennern, kaum bekannt. Seine Wahl gefiel mir außerordentlich gut und zwei davon erinnerten mich daran, dass sie in meiner Sammlung noch fehlten. Ich schaute mich weiter in der Wohnung um. Es hatte sich nicht viel verändert. Er hatte den Balkon bepflanzt und einige Kleinigkeiten umgestellt. Die Teppichrolle aber lag noch immer unberührt in seinem Esszimmer. Gefolgt von seiner Katze, die mir neugierig hinterherlief, ging ich in sein Schlafzimmer. Auch hier hatte sich scheinbar nichts verändert. Selbst das Bild seiner ehemaligen Freundin stand noch auf seinem Nachttisch. Mir war das vollkommen unverständlich. Welcher normale Mann tat so etwas? Innerlich kopfschüttelnd wandte ich mich der Kommode zu, auf der die Ordner mit seinen Krankenakten lagen. Diese hatten deutlich sichtbar an Inhalt zugelegt. Mir weitere Details seiner Krankheit ersparend, öffnete ich sie diesmal nicht. Dafür interessierte mich der Inhalt seines Nachttisches umso mehr. In der Schublade, in der ich schon bei meinem letzten Besuch Medikamente gefunden hatte, lagen jetzt neben den verschiedenen Tabletten auch Spritzen und kleine Glasampullen. Behutsam nahm ich eine der Glasampullen aus der Schublade. Die Schrift auf dem kleinen Etikett war so winzig, dass ich sie nicht entziffern konnte. Wahrscheinlich handelte es sich um ein starkes Schmerzmittel, dass wegen der schnelleren Wirkung gespritzt wurde. Möglicherweise eines der synthetischen Morphium-Derivate oder etwas Ähnliches. Jetzt wurde mir klar, woher die Einstichstellen stammten, von denen der Mann geschrieben hatte. Ich legte die Ampulle vorsichtig wieder zurück in die Schublade und verließ das Schlafzimmer, um einen Blick in sein Bad zu werfen. Verdutzt nahm ich zur Kenntnis, dass ihr Shampoo noch immer an seinem Platz stand. Für mich unbegreiflich, hatte ich doch nach einer Trennung solche Dinge sofort ihrer finalen Bestimmung zugeführt. Wer wollte schon jeden Morgen an die Vergangenheit erinnert werden? Ich versuchte eine Erklärung dafür zu finden. Vielleicht war es ihm bislang einfach entgangen, weil die Sachen dort schon seit Monaten standen und der Mann sie nicht mehr wahrnahm? Oder es war ihm nicht wichtig genug? Höchstwahrscheinlich hatte er bislang schlicht keine Zeit dafür gehabt. Welcher Grund es auch war, verstehen konnte ich ihn nicht. Abschließend inspizierte ich noch in seine Küche. Mir fiel auf, dass diese, wie bei meinem ersten Besuch ungewöhnlich aufgeräumt und sauber war. Keine herumstehenden Gläser, Tassen oder ähnliches, wie sie beinahe in jeder Küche zu finden waren. Selbst das Kochfeld glänzte, als wäre es neu und eben erst eingebaut worden. Neben dem Kühlschrank standen eine Handvoll Weinflaschen, die mein Interesse weckten. Es waren Rotweine aus Südafrika, Australien und Kalifornien, hauptsächlich Cabernet Sauvignon und Merlot. Die beiden Flaschen Pinot Grigio, die leicht versetzt dahinter standen und von dem ich seit Mailand wusste, wer diese Weinsorte bevorzugte, schienen ein Überbleibsel aus längst vergangenen Tagen zu sein. Plötzlich fiel mir ein, dass ich überhaupt nicht nach Spuren dieser anderen Frau gesucht hatte. Am wahrscheinlichsten waren sie im Bad oder im Schlafzimmer zu finden. Ich ging zurück in das Bad und öffnete den Spiegelschrank. Darin fand ich, außer seinen, nur noch die Sachen seiner Exfreundin, die schon bei meinem ersten Besuch dort gewesen waren. Nichts, nicht einmal eine weitere Zahnbürste, deutete auf diese andere Frau hin. In seinem Schlafzimmer fiel mir jedoch eine Veränderung auf, die mir zuvor entgangen war. Statt, wie bei meinem ersten Besuch noch zwei Decken und Kopfkissen, lag auf seinem Bett jetzt nur noch jeweils eines davon. Das alles lies nur einen Schluss zu. Der Mann und diese Frau hatten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine rein freundschaftliche Beziehung. Außerdem, ein Gedanke, der mir erst jetzt kam, welche Frau würde sich ein Bett legen, von dem aus sie ständig ein Foto ihre Vorgängerin betrachten müsste? Beim Verlassen seiner Wohnung streifte mein Blick nochmals durch sein Wohnzimmer vorbei an seinen vielen Orchideen. Eine Orchidee. Das wäre eine Idee für Geraldines Geburtstag. Zwar hatte sie, soweit ich mich erinnerte bereits 3 oder 4 davon, aber über eine Orchidee, die Königin der Blumen, wie Geraldine sie immer nannte, würde sie sich bestimmt freuen. Ich verabschiedete mich von seiner Katze und schloss leise hinter mir die Wohnungstüre.

   Statt direkt nach Hause zu gehen machte ich einen kleinen Umweg durch den alten Park, der um diese Zeit meist menschenleer war. Ich setzte mich auf eine Parkbank unweit der großen Wiese in die Sonne und fing an mir Gedanken über das zu machen, was ich vor wenigen Minuten gesehen hatte. Zuerst beschäftigte mich die Frage, warum er diese Whiskys ausgerechnet jetzt gekauft hatte. Diese zwölf Flaschen waren nicht billig gewesen, ganz im Gegenteil. Würde er das Geld nicht später an anderer Stelle dringender benötigen? Eine Weile überlegte ich mir verschiedene Gründe dafür, kam aber auf keine vernünftige Lösung, als mir plötzlich „Waltzing Matilda“ und die Frage, hatte der Mann dieses Lied als Hinweis auf den Film „Das letzte Ufer“ gebraucht, wieder in den Sinn kam. Eine der Hauptfiguren, gespielt von Fred Astaire, in diesem Film ganz entgegen seiner sonstigen Rollen besetzt, erfüllte sich kurz vor dem Eintreffen der radioaktiven Wolke und dem damit verbundenen Tod, seinen größten Traum. Er fuhr mit seinem selbst restaurierten Ferrari ein Rennen. Ich musste damals mit der Deutung des Liedes Recht gehabt haben. Dem Mann ging es tatsächlich um diesen Film. Sein Ferrari mussten diese zwölf Flaschen sein. Normalerweise war ich, wenn ich Recht behielt oder ein besonders kompliziertes Rätsel lösen konnte, immer stolz auf mich. Diesmal wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen. Das Gegenteil war der Fall. Ich war auf ungewohnte Art traurig darüber, dass seine Freundin es damals nicht geschafft hatte, oder nicht schaffen wollte, sein Rätsel zu lösen. Das andere, was mich in seiner Wohnung schon bei meinem ersten Besuch gewundert hatte, war diese Teppichrolle in seinem Esszimmer. Der Größe nach sollte dieser Teppich in seinem Arbeitszimmer verlegt, wozu es aber bis heute nie gekommen war. Ich fragte mich, wie lange die Teppichrolle dort wohl schon lag und ob seiner Freundin nie aufgefallen war, dass er seine Renovierung nicht fortgesetzt hatte. Eine Teppichrolle, im Zweifel monatelang mitten in einem Zimmer, das ist doch etwas worüber man sich Gedanken macht und irgendwann nachfragt. Ich an ihrer Stelle hätte gefragt und mich sicher nicht mit einer Antwort zufriedengegeben, wie: ich habe dafür im Moment keine Zeit. Am Anfang ihrer Beziehung, als sie ihn solange löcherte, bis sie jene Antwort hatte, die sie von ihm hören wollte, bohrte sie doch auch nach und an einigen anderen Stellen im Frühsommer 2011 berichtet der Mann in seinem Tagebuch ebenfalls davon, dass sie stets alles ganz genau wissen wollte. In meinen Augen konnte es nur zwei Erklärungen geben. Die erste, dass sie diese Rolle nie bemerkt hatte, war in meinen Augen absolut unwahrscheinlich. Eher möglich war, dass sie ihr keine weitere Bedeutung zumaß oder es war ihr einfach egal. Es interessierte sie nicht, warum er die Renovierung nicht beendete. Die Begründung warum die Teppichrolle immer noch dort lag, war für mich offensichtlich. Der Mann hatte in seinem Zustand keine Kraft mehr, wie ursprünglich geplant dieses letzte Zimmer zu renovieren. Mittlerweile war es früher Nachmittag geworden. Langsam füllte sich der Park mit spielenden Kindern und Spaziergängern und ich beschloss nach Hause zu gehen. Beim Verlassen des Parks erinnerte ich mich an ihre Sachen, die noch in seinem Bad standen. Was, wenn er sie gar nicht vergessen hatte, sondern sie mit Absicht dort stehen gelassen hatte? Aus Sentimentalität, weil es das letzte war, das ihm von ihr geblieben war? Das wäre eine einfache und verständliche Erklärung, die vor allem zu der Begründung des Mannes und seinen starken Gefühlen für seine ehemalige Freundin passen würde. In diesem Zusammenhang erinnerte ich mich wieder an eine E-Mail, die der Mann seiner Freundin während der Beziehungspause vor knapp einem Jahr geschrieben hatte. In dieser E-Mail hatte er ihr erklärt, das hätte er die Beziehung für beendet betrachtet, er ihr ihre Sachen nebst der geschuldeten Schachtel Zigaretten, die er auch in seinem letzten Brief wieder explizit erwähnte und die eine große Bedeutung für die beiden haben musste, die ich immer noch nicht kannte, umgehend zugeschickt hätte. Wie ich, gehörte er offenbar zu der Sorte Mann, die unter normalen Umständen keine Erinnerungsstücke an beendete Beziehungen in seiner Wohnung duldeten. Doch in diesem, sehr außergewöhnlichen Fall handelte er anders.

   Die ersten heißen Tage des Sommers waren vorbei. Die Nacht, in der ich seinen Brief an seine Freundin gelesen hatte lag nun schon einige Zeit zurück und bislang war nichts passiert. Jeden Abend wartete ich gespannt auf seinen neuen Tagebucheintrag. Ich wollte wissen, wie es dem Mann ging und ob eine Reaktion auf seinen Brief erfolgt war. Doch es geschah absolut nichts in dieser Hinsicht. Dafür freute ich mich über vereinzelte Gedichte, die er hin und wieder für seine Liebe schrieb. Ich war in den letzten Wochen auf eine seltsame Art ein Teil dieser ungewöhnlichen Geschichte geworden. So jedenfalls fühlte es sich Abend für Abend an, wenn ich mich in seine Computer einloggte. Doch so einigermaßen klar mir im Kopf die ganze Geschichte langsam geworden war, so schwer tat ich mir mittlerweile damit, sie geordnet zu Papier zu bringen. Ich verhedderte mich beim Schreiben wieder und wieder in dem sich widersprechenden oder unklaren Verhalten der beiden. Überdies beschäftigte mich oft genug die Frage, was wohl aus dem Mädchen geworden war. Eine Frage, die dem Schreiben nur bedingt zuträglich war. Um mich abzulenken, beschloss ich mir ein paar neue Kleider zu kaufen. Maria hatte schon im Herbst hin und wieder bemängelt, dass dies längst überfällig sei und Unrecht hatte sie damit nicht. Vieles in meinem Schrank konnte ich mittlerweile nicht mehr sehen, oder es war völlig aus der Mode gekommen. Auf dem Weg zu einem der wenigen Bekleidungsgeschäfte, in dem ich einigermaßen gerne einkaufe, traf ich zufällig einen ehemaligen Bekannten. Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen und gänzlich aus den Augen verloren. Nach einer kurzen Unterhaltung mitten in der Fußgängerzone schlug ich vor gemeinsam einen Kaffee zu trinken. Wir suchten uns einen Platz in einem nahegelegenen Café und sprachen über vergangenes und gegenwärtiges. Er erzählte mir, dass er verheiratet ist, drei Kinder hat und bei der Polizei arbeitet. Ein willkommener Zufall, dachte ich erfreut. Vielleicht kann ich so herausfinden, was aus dem Mädchen geworden ist. Aber ich wollte nicht gleich bei unserem ersten Wiedersehen mit der Tür ins Haus fallen und ihn um diesen Gefallen bitten. Am Ende unseres Gespräches tauschten wir unsere Telefonnummern aus und versprachen uns nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Der Gedanke, die Chance zu haben, endlich etwas über das Mädchen von damals zu erfahren, ließ mir die nächsten Tage keine Ruhe. Drei Tage später hatte ich mich dazu durchgerungen meinen Bekannten anzurufen, um ihn zu bitten herausfinden was aus dem Mädchen geworden ist. Sonderlich begeistert war er von meinem Anliegen zunächst nicht und verwies auf Dienstvorschriften und Datenschutz. Nach etwas Überredungskunst und einigem Zögern versprach er mir schließlich doch mir behilflich zu sein. Ich sollte ihm aber etwas Zeit für seine Recherchen geben. Eine Bitte, der ich ungern nach kam. Aber was bedeuteten schon ein paar Tage, vielleicht auch Wochen, nach all den Jahren.

   Während der nächsten beiden Tage kümmerte ich mich wieder hauptsächlich um mein Manuskript und in den notwendigen Schreibpausen um meinen Garten. Die Rosen hatten sich prachtvoll entwickelt, ganz besonders die Queen Elisabeth und die Black Baccara. Noch war der Garten aber längst nicht so, wie ich ihn haben wollte. Der Teil mit den Gewürzen und Kräutern hatte sich nach dem kalten, verregneten Frühjahr nicht so entwickelt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Genauso wie sich mein Verhältnis zu Geraldine in eine Richtung entwickelt hatte, die mir nicht sonderlich gefiel. Mein Ego überwindend und die Tatsache außer Acht lassend, dass sie mich ohne Frage grundlos mit Missachtung strafte, schrieb ich ihr eine E-Mail. Um nicht sofort, eine in meinen Augen unsinnige und nicht zielführende Diskussion über meine Absage anzufangen, berichtete ich ihr von meinem Garten und einigem anderen belanglosen. Zwei Tage später, die in ihren Augen wohl angemessene Zeit, die sich eine beleidigte oder unzufriedene Frau lassen musste, antwortete Geraldine in sehr unterkühltem Tonfall fast ebenso belanglos. Sie nannte mich nicht einmal mehr Liebling. Das war ungewöhnlich, zeigte mir aber deutlich, wie verschnupft sie war. Um mich nicht dem Verdacht auszusetzen, mit gleicher Münze heimzuzahlen antwortete ich ihr umgehend und erkundigte mich, wie es ihr ging und was sie machte. Nach etwa einer Stunde kam ein floskelhaftes, ohne auf eine meiner Fragen einzugehen, „alles ist in Ordnung, was soll sein?“, zurück. Ich kannte Geraldine gut genug, dass ich wusste, eine weitere E-Mail war überflüssig und würde zu nichts führen.

   Drei Tage später erhielt ich von Geraldine eine überraschende Nachricht. Sie hatte endlich das Tagebuch des Mannes, wenn auch nur das Jahr 2012 und das erste Quartal 2013, gelesen und wollte sich mit mir darüber unterhalten. Wir verabredeten uns für den folgenden Abend in einem kleinen Restaurant, dass wir vor vielen Jahren für uns entdeckt hatten und seitdem hin und wieder besuchten, obwohl es dort keinen Raucherbereich gab. Als ich gegen 19 Uhr eintraf, saß Geraldine bereits an einem Tisch. Es war ein kleiner Tisch in einer Nische, an dem man sich ungestört unterhalten konnte. Nachdem wir uns leicht unterkühlt begrüßt hatten, nahm ich Platz.
„Wie geht es dir“, wollte Geraldine betont sachlich von mir wissen. „Kommst du mit deinem Buch gut voran?“
„Danke, gut. Mit dem Buch komme ich allerdings nicht so voran, wie ich mir das vorgestellt hatte. Außerdem wollte ich deine Meinung über das Tagebuch und die Gedichte abwarten.“
Geraldine lächelte kurz, ehe sie sagte:
„Meine Meinung ist dir wichtig?“
Bevor ich ihr antworten konnte unterbrach uns der Kellner mit der Frage, was wir essen wollten. Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten, beantwortete ich Geraldines Frage.
„Deine Meinung war mir immer wichtig. Ich fürchte nur, du glaubst mir das nicht, weil ich nicht immer den Anschein erweckt habe, dass dem so ist.“
Geraldine schaute mich mit leicht ungläubigen Blick an.
„Und das soll ich dir glauben?“, erwiderte sie mit einem seltsamen Lächeln. „Aber lassen wir das. Ich habe das Tagebuch und die Gedichte des Mannes mittlerweile gelesen. In einigen Punkten stimme ich dir zu. In der Hauptsache bin ich aber nicht deiner Meinung. Bevor du mich jetzt dauernd unterbrichst, möchte ich dich bitten, mich ausreden zu lassen. Ich bin der Meinung, dass hier mehrere wichtige Stränge existieren und sich diese auf unsägliche Weise miteinander verbunden haben. Da gibt es die Krankheit des Mannes, die unbestritten sein Leben und damit seine Beziehung nachhaltig verändert hat. Daneben seine Angst, sie würde ihn betrügen, weil vieles an ihrem Verhalten seltsam und damit verdächtig wirkt. Besonders, wenn man wie er, auf dieses Thema sensibilisiert wurde. Als ich seine Aufzeichnungen über Weihnachten, Silvester, diese angeblich vergessene Geburtstagsparty, den Verlauf ihres Geburtstags und etliche andere gelesen hatte, konnte ich den Mann durchaus verstehen. So wie er es schildert, hinterlässt ihr Verhalten zu Recht einen schlimmen Verdacht. Es ist für mich durchaus nachvollziehbar, dass wenn dieser Verdacht im Raum steht, man seinem Partner nicht mehr alles erzählt. Besonders nicht, dass man eine solche Krankheit hat. Die Angst, dass der Partner nur aus Mitleid und nicht aus Liebe bleibt, wird dann riesengroß und wer möchte schon, dass der Partner nur aus Mitleid bleibt? In einer solchen hat Situation hat Mitleid etwas Erbärmliches und Verlogenes. Hinter jedem aufmunternden Wort würde dann die Frage stehen, war es ernst gemeint, oder wurde es nur so daher gesagt? Ich wollte das auch nicht haben. Aber ich möchte einschränken, dass wir nur seine Perspektive kennen, die verzerrt sein kann. Es ist durchaus möglich, dass sich alles wirklich so zugetragen hat, wie er vermutet. Aber ebenso gut kann es auch vollkommen harmlos sein und seine Freundin würde erschrecken, wenn sie wüsste welchen Verdacht er hegt. Ich denke, sie hat noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass ihr Freund einen solchen Verdacht haben könnte. Wahrscheinlich geht sie davon aus, dass der Mann sie und ihr Leben kennt und ihr bedingungslos vertraut.“
In der Zwischenzeit brachte der Kellner unser Essen. Geraldine hatte sich, wie jedes Mal, wenn wir hier Essen waren, Fisch bestellt. Nachdem sie ihren Fisch filetiert hatte, fuhr sie mit ihren Ausführungen fort.
„Eines in seinem Tagebuch ist noch sehr auffällig. Ein weiterer wichtiger Strang und ich habe das Gefühl, dir ist er ein wenig entgangen. Du hast bei unserem letzten Gespräch deinen Fokus fast nicht darauf gerichtet.“
Ich unterbrach Geraldine.
„Was soll mir entgangen sein?“
„Die Tatsache, dass sich der Mann große Sorgen um ihre Gesundheit macht. Nicht nur nach meiner Überzeugung sein Hauptmotiv, sondern er schreibt es doch mehr oder minder deutlich. Das muss Dir doch aufgefallen sein!“, entgegnete mir Geraldine in energischem Ton.
Ich überlegte kurz. Diese Einträge in seinem Tagebuch gab es und es waren besonders seit Januar nicht gerade wenige. Ich hatte sie aber, nach dem ich mir ausführlich darüber Gedanken gemacht hatte, als übertrieben eingestuft. Besonders jene über ihr angebliches Burnout. Heutzutage gehört es doch zum guten Ton gehört, gestresst und vollkommen fertig von der Arbeit zu sein. Deshalb hatte ich sie nicht weiter beachtet und sie viel mehr als Ausrede für ihre anderen Aktivitäten betrachtet. Auch, dass diese Sorgen sein Hauptmotiv darstellten, das ich nach wie vor bezweifelte, war mir nicht entgangen.
„Natürlich sind sie mir aufgefallen“, antwortete ich Geraldine. „Aber ich habe diese Thematik vor dem Hintergrund seines Verdachts gesehen, dass sie ihn betrügt. Für mich ergaben ihre, „Ich bin so müde“, „ich will nur noch ins Bett“, „ich will heute niemand sehen und nur meine Ruhe“, oder die „ich habe rasende Kopfschmerzen und bin froh, dass ich alleine bin“ E-Mails denselben Sinn, wie für den Mann. Aufgrund der Tatsache, dass er sie liebt, musste das seinen Verdacht bestärken. Exakt diese Reaktion in ihm hervorrufen. Dass er ihr infolge dessen weder das eine, noch das andere sagt, ist zwingend logisch. Und selbst wenn sie tatsächlich so angeschlagen wäre, wie er schreibt, ist sein Verhalten nachvollziehbar. Er will sie in ihrem ohnehin schon geschwächten Zustand nicht mit Tatsachen konfrontieren, die sie überfordern würden. Genauso, wie er seinen unbewiesenen, aber begründeten Verdacht ihr gegenüber nicht geäußert hat. Obwohl es meiner Meinung nach mehr als fragwürdig ist, ob es ihr tatsächlich zu irgendeinem Zeitpunkt schlecht ging. Eigentlich ist es komplett irrelevant.“
„Das kann doch nicht dein Ernst sein“, unterbrach mich Geraldine entrüstet. „Ich finde das derart wichtig, dass Du es nicht unter den Teppich kehren kannst! Es ist und bleibt sein Hauptmotiv! Weißt Du was das Beste für die beiden wäre?“
Gespannt warte ich auf Geraldines Vorschlag.
„Das Beste wäre, man würde ihr sein Tagebuch zu kommen lassen. Dann könnte sie sich selbst ein Bild machen. Und die Gedichte gleich mit!“
Mir blieb kurz die Luft weg. Vor wenigen Wochen hatte ich selbst mit diesem Gedanken gespielt, ihn aber umgehend wieder verworfen und nun hatte Geraldine dieselbe Idee. Ich musste versuchen, ihr diese Idee wieder auszureden.
„Sie wird sofort denken, er hat ihr das zukommen lassen. Aus diesem Grund würde sie die Echtheit in Zweifel ziehen“, entgegnete ich Geraldine. „Außerdem haben wir nicht das Recht dazu.“
„Da muss ich dir widersprechen“, erwiderte Geraldine energisch. „Vielleicht würde sie im ersten Moment die Echtheit bezweifeln. Aber ich bin mir sicher sie würde es lesen. Ich an ihrer Stelle würde es lesen, wie jede andere Frau übrigens auch. Zudem bin ich davon überzeugt, dass wenn sie von dessen Existenz wüsste, sie unbedingt darauf bestehen würde es lesen zu dürfen. Am Ende würde sie verstehen und alle Probleme zwischen den beiden könnten besprochen und gelöst werden.“
Geraldine lächelte plötzlich überlegen.
„Außerdem übersiehst du einen ganz entscheidenden Punkt. Die Größe seines Tagebuchs. Wie sollte der Mann es geschafft haben, in zwei oder drei Monaten die ganzen letzten Jahre, korrekt nach Tagen und unter Einbeziehung ihrer E-Mails, nachgeschrieben haben? Vergiss nicht, die E-Mails kann sie überprüfen! Das schafft nicht einmal ein gesunder und fitter Mensch, der sehr viel Zeit hat. Und zum Thema Recht, wer gab ihm das Recht, sie so hinterhältig aus seinem Leben zu entfernen?“
Ich betrachtete Geraldine genau. Sie schien von dem was sie gerade sagt hatte, hundertprozentig überzeugt zu sein. Das Argument mit dem Umfang seines Tagebuchs war nicht nur gut gewählt, es war nicht von der Hand zu weisen.
„Möchtest Du noch etwas trinken?“, fragte ich sie um etwas Tempo aus dem Gespräch zu nehmen.
„Ein Glas Sauvignon Blanc hätte ich noch gerne.“
Ich rief den Ober und bestellte Geraldine ein Glas Sauvignon Blanc und mir ein Glas Chardonnay. In der Zwischenzeit überlegte ich mir, wie ich Geraldine beibringen sollte, dass die Realität ihre Idee längst überholt hatte.
„Leider ist das nicht so einfach, wie du denkst. Im Gegenteil, es ist unmöglich geworden. Ich muss dir erzählen, was in den letzten Wochen alles passiert ist.“
Ich informierte Geraldine darüber, was sich in den letzten Wochen alles zugetragen hatte. Dabei verschwieg ich aber, wie schon neulich, diese unbekannte Frau und natürlich meinen zweiten Besuch in seiner Wohnung. Ich berichtete ihr von Ostern, als er sehen musste, in welcher Verfassung sie war, falls es nicht nur ein großes Schauspiel war, weil ihr neuer Freund in der Wohnung auf sie wartete. Wie er endgültig entschied, ihr nicht zumuten zu können, sich auch noch um ihn Sorgen machen zu müssen. Von seinem Plan, seiner Freundin keine Beachtung mehr zu schenken, der schließlich seinen vorläufigen Höhepunkt im Ignorieren des Jahrestages durch ihn fand. Wie er versuchte ihr das Gefühl zugeben, sie sei ihm unwichtig, sie aus seinem Leben ausschloss und das solange fortzusetzen, bis sie ihn schließlich verlassen würde. Mit Absicht genau das zu tun, was er im Herbst und Winter 2011 nach ihrer Ansicht schon einmal, wenn auch wohl unabsichtlich, getan hat und das fast zum Ende ihrer Beziehung geführt hatte. Seinem verheimlichten Krankenhausaufenthalt und damit verbunden seinem Tagelangen abtauchen vor ihr. Dem im Anschluss daran von ihm provozierten Streit, der in seiner letzten E-Mail an sie gipfelte. Sinngemäß von deren Inhalt, dass er sie nie mehr sehen wollte und auch keinen Kontakt mehr zu ihr haben wolle. Ich berichtete aber auch von ihrem Geschenk an ihn zum Jahrestag und ihrer ungewöhnlich liebevollen E-Mail eines Abends. Abschließend setzte ich Geraldine von seinem Brief in Kenntnis.
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Geraldine mit aufgeregter Stimme. Entsetzen stand in ihrem Gesicht. Obwohl sie die beiden nicht kannte, war ihre Betroffenheit über das, was ich ihr erzählt hatte überdeutlich. Ich griff in meine Jackentaschen, holte eine Kopie des Briefes heraus und gab sie Geraldine.
„Hier, lies bitte selbst.“
Sie nahm die Kopie und begann zu lesen. Mit jeder Zeile die sie las, veränderte sich ihre Miene. Ihre Augen wurden größer, ihr Gesichtsausdruck wirkte versteinert. Zweimal drehte sie den Brief um und fing an, ihn wieder von vorne zu lesen. Als wollte sie nicht glauben, was dort stand. Wortlos wollte Geraldine mir den Brief zurückgeben. Sie schien noch nach den richtigen Worten zu suchen.
„Du kannst den Brief behalten. Es ist nur eine Kopie. Vielleicht findest du darin noch etwas, was man erst auf den dritten oder vierten Blick bemerkt und mir bislang entgangen ist“, sagte ich mit ruhiger Stimme.
„Das ist ja schrecklich. Ganz schrecklich“, stammelte sie. „Die Zeile über seinen Notausgang macht mir Angst. Traust du ihm das zu?“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Dass ich bei meinem Einbruch das Magazin einer SIG Sauer gefunden hatte und er mit Notausgang diese Pistole gemeint hatte war ziemlich wahrscheinlich. Aber das konnte ich Geraldine nicht sagen.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht“, antwortete ich in beruhigendem Tonfall. „Aber eher nein.“
Als sie sich wieder gefasst hatte, fragte Geraldine, ob ich mir sicher sei, dass der Mann den Brief abgeschickt hatte und wenn ja, wann.
„In seinem Tagebuch steht, dass er diesen Brief vor über 10 Tagen wirklich verschickt hat“, beantwortete ich ihre Frage sachlich und fügte hinzu:
„Ich verstehe nur nicht, warum sie darauf nicht reagiert hat. Jeder den ich kenne, mich eingeschlossen, hätte sich auf einen solchen Brief gemeldet. Egal, was vorher vorgefallen war. Möglicherweise hat sie ihn ungeöffnet zerrissen und weggeworfen.“
Geraldine nippte an ihrem Weinglas und schien dabei über das, was ich gesagt hatte nachzudenken.
„Dass sie ihn nicht gelesen und einfach weggeworfen hat, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Geh davon aus, sie hat ihn gelesen. Aber nicht jeder, den du kennst hätte sich gemeldet. Ich zum Beispiel hätte mich auch nicht gemeldet und ich kann sehr gut verstehen, warum sie es nicht getan hat.“
Geraldine holte eine Schachtel Zigaretten aus ihre Handtasche und sagte:
„Ich gehe rauchen. Alleine! Ich muss in Ruhe nachdenken.“
Nach zehn Minuten kehrte Geraldine zurück und noch während sie Platz nahm, begann sie mir das Ergebnis ihrer Überlegungen darzulegen.
„Unabhängig davon, wie es in ihr aussieht und ehrlich gesagt, das möchte ich lieber gar nicht wissen, oder anders gesagt, sie wäre im Augenblick einer der letzten Menschen, mit dem ich tauschen wollte, hat sie recht. Zuerst schließt dein Superheld sie über Wochen mehr oder weniger aus seinem Leben aus, ist abweisend, ja geradezu kalt, verschwindet einfach tagelang, meldet sich nicht mehr und verschweigt ihr am Ende etwas derart Wichtiges. Nachdem sie dann die Nase voll hatte und die Beziehung beendet hat, ob das seinem Wunsch entsprach oder nicht sei dahingestellt, schickt er ihr auch noch eine E-Mail, mit dem Inhalt, dass er keinen Kontakt mehr zu ihr haben möchte. Was erwartest du von der Frau?“
Geraldines Stimme klang aufgebracht.
Auch wenn ich nicht im Geringsten ihrer Meinung war, mit einigem könnte Geraldine durchaus Recht haben. Gerade, als ich ihr antworten wollte, fuhr sie, nachdem sie einen Schluck Wein genommen hatte, fort.
„20 Jahre lang dachte, Gott sei Dank gibt es nur einen Mann von deiner Sorte auf dieser Welt, nämlich dich. Aber nein, du hast einen Bruder im Geiste. Weißt du, wie oft ich schon die Nase gestrichen voll von dir und deinem Verhalten hatte? Dich einfach umbringen wollte? Hätte natürlich wie ein Unfall ausgesehen.“
Sie hielt kurz inne und lachte.
„Wahrscheinlich genauso oft, wie die Freundin deines Superhelden. Ich glaube ich verstehe, was dich an dieser Geschichte so fasziniert. Du könntest genauso gut der Mann sein. Männer wie ihr spielen gerne den Helden, den einsamen Wolf und übersehen dabei das Wesentliche! Ihr habt eine Partnerin, mit der ihr reden könnt, die euch zuhört und für euch da ist. Gerade in einer solchen existenziell wichtigen Situation.“
Ich hatte Geraldine ruhig zugehört und war am Ende ziemlich sprachlos. Sie hatte nicht nur auf den Mann, sondern in aller Deutlichkeit auch auf mich abgezielt. In der Vergangenheit hatte ich bei Geraldine nie endgültig den Eindruck gewonnen, dass sie sich letztlich wirklich für mich und mein Leben interessierte. Dazu war ihr Verhalten von Anfang an immer wieder ein wenig zu oberflächlich, zu distanziert. Im Kern hatte sich ihr Leben in den letzten Jahren, auch wenn sie das Gegenteil behaupten wird und wir hin und wieder eine Art Beziehung hatten, doch immer nur um ihre Karriere, ihre Familie, ihre Motorräder und vor allem um sich selbst gedreht. Fast genauso, wie bei der Freundin des Mannes. Einen Augenblick überlegte ich, was ich antworten konnte, dass Geraldine beruhigte und Fahrt aus dem Gespräch nahm.
„Bist du fertig?“, fragte ich sie. Ohne ihre Antwort abzuwarten, sprach ich weiter.
„Ich bin mir sicher, dass er am Ende nur das Beste für sie wollte, weil er sie aufrichtig liebt. Warum auch immer er das, nach allem was geschehen ist, bis heute tut.“
„Ach ja?“, unterbrach mich Geraldine barsch.
„Und das Beste für sie war natürlich, aus ihrer Beziehung mit dem Mann den sie zweifellos ebenso liebt herausgeworfen zu werden? Ohne Warnung, ohne Angabe von Gründen. Was glaubt ihr denn, wer ihr seid? Die Allwissenden, die Superhelden oder am besten gleich Gott? Mir wird schlecht bei einer solchen Argumentation!“
Mein Versuch unser Gespräch war gründlich danebengegangen und Geraldine war richtig in Rage geraten. Ich fürchtete, alles was ich noch sagen würde, würde es nur noch schlimmer machen. Dennoch wollte ich ihre Äußerungen nicht einfach so stehen lassen. Ich wartete einen Moment ab und fragte sie dann, ob sie mich bitte auch ausreden lassen würde. Sie sah mich an, antworte aber nicht. Ich nahm ihr Schweigen als Zustimmung und versuchte es nochmal, vermied diesmal aber das Beste zu sagen.
„Vielleicht wollte er ihr das nicht zumuten, weil sie schon genug in ihrem Leben erlebt hatte? Oder so etwas in ihrem Leben einfach keinen Platz gehabt hätte und sie seinetwegen ihr ganzen Leben auf den Kopf gestellt hätte? Ich kann das nicht beurteilen, aber er sollte das können. Und noch etwas! Sein Verdacht, sie wäre ihm Untreu, spielte seinem Tagebuch zufolge bei seiner Entscheidung am Ende gar keine Rolle. Ich verstehe zwar nicht warum das so ist, dennoch, in meinen Augen ist sein Verhalten sehr rücksichtsvoll und zeigt mir, wie wichtig sie ihm ist. Er hätte sich genauso gut auf den Standpunkt stellen können, ist mir doch egal, was das mit ihr macht, wie es ihr geht. Hauptsache ich habe sie bei mir.“
„Du redest dir die Dinge schön und verstehst rein gar nichts! Genau wie der Mann“, sagte Geraldine mit gereiztem Unterton.
„Hast du bei deinen ganzen Überlegungen einmal versucht, dich in die Rolle seiner Freundin zu versetzen? Was sie gefühlt hat, oder schlimmsten Falls noch tut? Wie es ihr geht? Nein das hast du genauso wenig, wie der Mann, fürchte ich. Eine kleine Anmerkung am Rande noch, wer gibt dir das Recht, dich so selbstgefällig über die Sorgen des Mannes hinwegzusetzen?“
Ohne merklich Luft zu holen, fuhr sie fort.
„Hast du dir mal überlegt wie es wäre, wenn sie wirklich psychisch Angeschlagen wäre? Du hast das bei mir damals miterlebt. Vielleicht braucht sie ihren Freund ebenfalls, kann ihm aber das nicht zeigen. Ich war damals auch froh, dass ich dich hatte. Obwohl ich mich an Tagen wie heute fast darüber ärgere.“
„Aber genau deswegen schützt der Mann sie ja, in dem er ihr ausreichend Gründe liefert, die sie die Beziehung beenden lässt. Das ist nur logisch“, erwiderte ich.
„Du begreifst es nicht, oder?“ Geraldines Gesichtsausdruck zeigte Anzeichen von beginnender Wut.
„Auch, wenn du jetzt über mich lachst, es gibt so etwas wie die große Liebe des Lebens. Daran glaube ich fest. Die Liebe, die alles übersteht. Auch so eine extreme Situation wie bei den beiden. Eine Liebe, die nie endet, egal was passiert, gesagt oder getan wird. Die jede Verletzung übersteht. Man kann sie verdrängen, verleugnen oder versuchen zu ignorieren. Sich andere Partner suchen. Am Ende aber wird das alles nichts nützen, denn sie wird immer da sein.“
Die Anzeichen beginnender Wut in Geraldines Gesicht waren jetzt fast ganz jenem verträumten Ausdruck gewichen, den Geraldine immer hatte, wenn sie über dieses Thema sprach oder nachdachte. Obwohl mich die Eindrücke der letzten Tage näher an Geraldines Ansicht herangeführt hatten, als mir lieb war, antwortete ich ihr so, wie Geraldine es von mir erwarten würden.
„Abgesehen davon, dass ich diesen Unsinn mit der großen Liebe des Lebens stark bezweifle und ganz speziell bei ihr große Bedenken habe, ob sie ihn tatsächlich liebt, oder ob das bei ihr nicht bloß so eine Art temporäre Erscheinung ist, wenn sie gerade in Stimmung dafür ist, ist es doch genau das, wovor der Mann sie auch beschützen will. Es ist einfacher zu hören, dass ein Mensch gestorben ist, für den man nichts außer Wut und Enttäuschung übrig hatte, als wenn man dabeistehen muss und sieht, wie ein Mensch den man liebt langsam geht. Davor will der Mann sie beschützen.“
„Vor ihrer eigenen Liebe beschützen? Hörst du eigentlich was du hier von dir gibst, mein Liebling?“
Geraldines Gesicht war blitzartig rot vor Zorn geworden und wir waren an einem Punkt angekommen, an dem ich es für das Klügste hielt, das Gespräch abzubrechen, bevor es in einem großen Streit endete. Ich überging auch jenes Geraldine typische „mein Liebling“ und sagte zu ihr:
„Vielleicht hast du Recht und ich sollte darüber wirklich noch einmal nachdenken. Am besten wir beenden das für heute und gehen nach Hause.“
Geraldine war mit meinem Vorschlag einverstanden. Ich signalisierte dem Ober, dass wir gerne bezahlen würden. Es folgte die unvermeidbare Frage:
„Getrennt oder zusammen?“
„Getrennt“, antwortete ich und Geraldine merkte auf eine unbestimmte Art enttäuscht an:
„Es hat sich nichts geändert und es wird sich wohl nicht mehr ändern.“
Ich versuchte diese Anspielung auf die Tatsache, dass ich stets auf getrennten Rechnung bestand, zu übergehen. Beim Verlassen des Restaurants sprach ich Geraldine auf ihren bevorstehenden Geburtstag an und ob sie schon Pläne für diesen Tag hätte. Ihr Geburtstag fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag, somit konnte ich mir einigermaßen sicher sein, dass sie sich nicht mit der Ausrede, ich muss arbeiten, um ihren Geburtstag drücken konnte, wie sie es in den letzten zwei Jahren getan hatte. Geraldine gab mir zu verstehen, dass sie noch keine Pläne bezüglich ihres Geburtstages hatte, sie mir aber rechtzeitig mitteilen wird, ob sie zu Hause sein würde.

   Der, um einen heraufziehenden Streit zu vermeiden, taktische Abbruch des Gesprächs mit Geraldine hatte zur Folge, dass ich früher als geplant wieder zuhause war. Ich holte mir an meiner Bar ein Glas Macallan 12 Years Fine Oak und ließ mich, den warmen Sommerabend ausnutzend, auf meiner Terrasse in einem Liegestuhl nieder. Während ich meinen Whisky trank und den herrlichen Sonnenuntergang genoss, ließ ich mir noch einmal durch den Kopf gehen, was Geraldine gesagt hatte. Vielleicht hatte sie doch nicht ganz so Unrecht. Fast jede meiner Annahmen basierte auf mehr oder weniger starken Indizien. Zum Teil nur auf reinen Vermutungen oder auf meinen Eindrücken. Die einzigen Tatsachen in dieser ganzen Geschichte waren seine Krankheit und das Ende der Beziehung. Für ihre vermutliche Untreue und damit verbunden die Tatsache, dass sie ihn nicht liebte, gab es zwar eine erdrückende Last an Indizien und mehr als genug Begebenheiten, welche nur diesen einen logischen Schluss zuließen, am Ende aber kein Beweis. Sollte dieses Lied, das ihm im März im Anschluss an den von mir beobachteten Spaziergang zukommen ließ, ihr liebevolles Geschenk zum Jahrestag und diese nächtliche E-Mail kurz vor Ende der Beziehung, in der sie dem Mann schrieb, dass sie ihn in dieser Nacht vermisste, um nur einige Beispiele zu nennen, die schwer mit meinen Theorien in Einklang zu bringen waren, nicht nur reine Taktik gewesen sein, was waren sie dann? Ein Stück einer Wahrheit, die sie weder aussprechen, noch leben konnte? Die ganze Geschichte war unglaublich kompliziert und verworren. Möglicherweise sollte ich auch noch einmal hinterfragen, ob es nicht doch der Wahrheit entsprechen konnte, dass ihre Gesundheit aufgrund ihres sehr anstrengenden Berufes wirklich so angegriffen war und es nicht nur reinen Schutzbehauptungen waren, um sich den Mann fern zu halten, wie ich es die ganze Zeit über vermutet hatte. Aber dieser Abend hatte mir noch etwas anderes, viel Überraschenderes, gezeigt. Die Geschichte des Mannes ging nicht nur mir nahe, sondern offenkundig auch Geraldine. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal sich so ereifernd erlebt hatte. Nicht einmal in den üblichen Auseinandersetzungen während und nach unseren vielen Trennungen, war sie derart aus sich herausgegangen. Als ich Ende letzten Jahres mit der Arbeit an diesem Buch begonnen hatte, waren meine wildesten Phantasien über die Geschichte des Mannes höchstens ein müder Abklatsch von dem, was ich den folgenden Monaten herausgefunden hatte.

   Im Anschluss an diesen Abend ließ ich ein paar Tage verstreichen, bevor ich wieder einen Blick in das Tagebuch des Mannes warf. Ich war außer auf die üblichen Schilderungen seiner Krankheit und den wenigen, aber regelmäßigen Zeilen über seine ehemalige Freundin, auf keine weitere Überraschung vorbereitet. Aber wieder einmal gelang es dem Mann, mich zu verblüffen. Er hatte eine längere Liste mit Orten, die er noch sehen wollte gemacht. Mich erinnerte diese Liste an die Bucket-List aus dem Film „Das Beste kommt zum Schluss“ mit einem hervorragenden Jack Nicholson und dem nicht minder überzeugenden Morgan Freeman in den Hauptrollen. Im Gegensatz zu der Liste des Films, fanden sich auf der Liste des Mannes eher einfache Dinge. Ein Schloss, ein Mausoleum, mehrere Museen und noch ein paar andere Orte. Irgendwie kam mir diese Liste eigenartig bekannt vor, so als hätte ich sie schon einmal gelesen. Ich konnte mich nur nicht erinnern, wo das gewesen sein könnte.

   Der Freitag war der einzige Tag, an dem ich mir in den letzten Wochen angewöhnt hatte, einigermaßen früh aufzustehen. An diesem Tag war neben dem Einkaufcenter Wochenmarkt und ich kaufte dort gerne frische Eier, Obst und Salat. Als ich mich an diesem Freitag zu diesem Markt aufgemacht hatte, sah ich den Mann, mit seinem Hund aus dem alten Park kommen. Kurzentschlossen folgte ich den beiden bis zum Haus des Mannes, in dem die beiden verschwanden. Langsam ging ich weiter Richtung Einkaufscenter, als ich hörte wie mindestens zwei Personen das Haus verließen. Neugierig blickte ich über meine Schulter. Es waren der Mann, sein Hund und diese Frau. Die drei gingen geradewegs zu seinem Cabrio. Zuerst kletterte sein Hund auf die Rückbank. Dann stiegen die beiden, sie auf der Fahrerseite, er auf der Beifahrerseite ein, und fuhren davon. Schon wieder die Frau. Dieser Geist, den der Mann bislang nie in seinem Tagebuch erwähnt hatte. Wohin die drei wohl fuhren? Ich war gerade im Begriff meinen Weg Richtung Markt fortzusetzen, als ich bemerkte, dass ich das silbergraue Mercedes Coupé nirgendwo in der Straße gesehen hatte. Ich fand schnell eine plausible Erklärung dafür. Parkplätze waren in dieser Straße immer knapp. Möglicherweise hatte sie deshalb eine Straße weiter parken müssen.

   Zwischen der Frage, ob ich mir neben Lollo Rosso, Rucola und Gurken noch Feldsalat oder doch lieber Kopfsalat kaufen sollte, kam mir eine Idee. Fuhr er mit dieser Frau an diese Orte, die auf seiner Liste standen? Und wenn die beiden kein Paar waren, warum tat sie das? Ich war mir sicher, seit ich die beiden zum ersten Mal während ihres gemeinsamen Spaziergangs im Park gesehen hatte, das sie wusste, wie es um den Mann stand. Keine Frau, die halbwegs bei Verstand ist, würde eine Beziehung mit einem Mann anfangen, der eine solche Krankheit hat. Was sollte sie außer der Teilnahme in der ersten Reihe an einer Beerdigung davon haben? Sex konnte es definitiv nicht sein. Dazu war der Mann laut seinem Tagebuch schon seit Anfang Februar nicht mehr in der Lage. Zudem hatte ich in seiner Wohnung nicht den geringsten Hinweis gefunden der darauf deutete, dass sein Verhältnis zu dieser Frau mehr als freundschaftlich sein könnte. Konnte es wirklich nur reine Zweisamkeit, anregende Gespräche und das Gefühl von Nähe sein? Nein, dieser Gedanke erschien absurd. Zudem passten die beiden viel zu wenig zusammen. Ihr Auto, ihre Kleidung, ihr Aussehen, ihr ganzes Auftreten und besonders dieser Ring. Das war zweifellos eine Frau mit Ansprüchen. Vielen höheren Ansprüchen, als sie der Mann jemals würde erfüllen können. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass ich mich bei meinen Überlegungen von rein optischen Eindrücken leiten ließ, die dieser Frau nicht entsprechen mussten. Gab es wirklich einen Grund, abgesehen von meinen persönlichen Erfahrungen mit Freundschaften zu Frauen, bei denen regelmäßig irgendwann das Thema Sex aufgetaucht war und sie deshalb fast nie funktioniert hatten, warum die beiden nicht ausschließlich Freunde sein sollten?

   Seit dem letzten Abend mit Geraldine, der hauptsächlich dank ihrer romantischen Vorstellungen von zwischenmenschlichen Gefühlen fast im Streit geendet hätte, hatte ich nur im Tagebuch des Mannes gelesen, nicht aber überprüft, ob er weiterhin Gedichte für seine Exfreundin schrieb. Das wollte ich an diesem Abend nachholen, nachdem ich sein Tagebuch gelesen hatte. Wie schon zuvor, wenn diese Frau bei im gewesen war, stand auch heute nicht das geringste über sie in seinem Tagebuch. Er schrieb lediglich, dass er endlich bei diesem Mausoleum gewesen war, welches auf seiner Liste stand und dass ihm der heutige Tag sehr gut gefallen hat. Warum verschwieg er diese Frau weiterhin, schoss mir durch den Kopf. Dafür musste es zwingend einen plausiblen Grund geben. Wegen seiner ehemaligen Freundin konnte es nicht sein. Diese hatte sich schon lange von ihm getrennt. Außerdem wenn der Mann und diese Frau tatsächlich nur Freunde waren, was sollte seine ehemalige Freundin gegen die Freundschaft haben? Es musste einen anderen Grund dafür geben. Einen Grund, den außer dem Mann niemand kannte. Nicht einmal ich. Ich schloss das Tagebuch und öffnete den Ordner mit den Gedichten. Es waren zwei neue dazu gekommen. Beide hatte er für seine ehemalige Freundin geschrieben und beide berührten mich, wie selten eines seiner Gedichte zuvor.